Editorial
Liebe Mitglieder der Humanistischen Union,
in diesen Tagen gedenken wir des 80 Jahre zurückliegenden Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa. Es bedeutete das faktische Ende der nationalsozialistischen Regierung in Deutschland und der Verbrechen, die damals durch Deutsche begangen wurden. Diese Verbrechen wurden jahrzehntelang aus dem öffentlichen Diskurs in Deutschland verdrängt. Nach den Nürnberger Prozessen, in denen die Zeit des Nationalsozialismus juristisch aufgearbeitet werden sollte, wurde von vielen ein „Schlussstrich“ gefordert – ein Schlussstrich unter millionenfachen Mord. Nachdem die „Haupttäter“ nicht mehr am Leben waren, wurden viele – angesichts der begangenen Verbrechen – zu lächerlichen Strafen verurteilt und waren oft nach kurzer Zeit wieder auf freiem Fuß. Manche nahmen schnell wieder höchste Ämter in Politik und Wirtschaft ein. Prozesse, wie jener gegen Adolf Eichmann in Jerusalem sowie der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main, blieben die Ausnahme. Weitere Verfahren, die die hessische Generalstaatsanwaltschaft und ihr Leiter Fritz Bauer bereits vorbereitet hatten, wurden nach dessen unerwartetem Tod schnell beendet.
Kürzlich erinnerte ein Fernsehfilm an den Entertainer Hans Rosenthal, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre und der den Holocaust nur überlebt hat, weil er sich im Berlin der 1940er Jahre jahrelang verstecken konnte. Ausgerechnet am 9. November 1978, 40 Jahre nach den Pogromen und Morden der „Reichskristallnacht“ wurde er von den Programmverantwortlichen des ZDF dazu genötigt, seine Unterhaltungsshow Dalli-Dalli zu moderieren – das war damals der Umgang mit der deutschen Geschichte. Immerhin gelang es ihm, einen würdevollen Umgang damit zu finden.
Doch zu dieser Zeit setzte auch ein Umdenken ein. Die US-amerikanische Fernsehserie Holocaust, die 1979 im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde, schockierte viele Menschen und rief die Verbrechen der Zeit des Nationalsozialismus eindringlich ins Gedächtnis. Am 8. Mai 1985, 40 Jahre nach Kriegsende, hielt der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker – dessen Vater ebenfalls in Nürnberg vor Gericht gestanden hatte – eine vielbeachtete Rede vor dem Deutschen Bundestag, in der er den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung bezeichnete.
Damals war dies eine wichtige Aussage – und sie ist es heute noch. Sie erteilte all jenen eine Absage, die die Zeit des Nationalsozialismus verharmlosen wollten und das Ende des Krieges als Niederlage empfanden – nicht im Bewusstsein eigener Schuld, sondern in der Verharmlosung und Normalisierung der Verbrechen des Nationalsozialismus.
Doch sie ist auch ambivalent. Wer wurde befreit – und wovon? Waren es die Deutschen, die vom Nationalsozialismus befreit wurden, oder Europa und die Welt, die von den nationalsozialistischen Deutschen befreit wurden? War es für diejenigen, die sich am Nationalsozialismus beteiligt und von ihm profitiert hatten, vielleicht doch eine Niederlage? Freilich gab es Profiteure, die ihre Erträge aus der Kriegswirtschaft und der Zwangsarbeit in die Bundesrepublik übernehmen und weiter vermehren konnten – bis heute.
Allzu oft wird auch heute noch versucht, das „Dritte Reich“ abstrakten „Nationalsozialisten“ in die Schuhe zu schieben, die scheinbar in den 1930er Jahren aus dem Nichts kamen und 1945 wieder ins Nichts verschwanden. Doch waren es nicht oftmals unsere eigenen Großeltern und Urgroßeltern? Heute sind die vielen Gedenkveranstaltungen fast schon zur Routine geworden und damit häufig zum bloßen Ritual erstarrt. Nur so ist es erklärbar, dass 2025 im Deutschen Bundestag ein menschenverachtendes „Zustrombegrenzungsgesetz“ verhandelt und von „irregulärer Migration“ gesprochen wird, unmittelbar nach einer Gedenkstunde zur Befreiung von Auschwitz, gemeinsam mit einer rechtsextremen Partei. Und nur so ist es zu erklären, dass wir „Befreiten“ uns heute anmaßen, zwischen „guten“ und „schlechten“ Befreiern zu unterscheiden und Staaten, die millionenfache Opfer bringen mussten, vom Gedenken auszugrenzen – dies gilt auch angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, der hier keinesfalls verharmlost werden soll.
Gleichzeitig gewinnen rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien weltweit die Oberhand. In mehreren europäischen Staaten stellen sie mittlerweile die Regierung. In Deutschland bildet eine solche Partei inzwischen die stärkste Oppositionsfraktion im Bundestag.
Doch es geht nicht nur um Parteien. Viele fordern wieder die Militarisierung der Gesellschaft: Rüstung und Wehrdienst werden kaum mehr hinterfragt. Der alte und neue Bundesverteidigungsminister Pistorius fordert „Kriegstüchtigkeit“ und hält die Wiederaufnahme der Wehrpflicht für eine sinnvolle Option. Der Bundestag wiederum beschließt mit Verfahrenstricks eine unbegrenzte Finanzierung der Rüstung, unter dem Beifall vieler Medien und Journalistinnen und Journalisten. Der neue Bundesaußenminister Wadephul spricht sich im Einklang mit NATO-Generalsekretär Rutte dafür aus, fünf Prozent des BIP für Militär und zivile Vorhaben mit Militärbezug auszugeben – das ist fast die Hälfte des Bundeshaushalts – und liefert damit ein weiteres Beispiel für das Einknicken von Politik (und Wirtschaft) vor den Forderungen von US-Präsident Trump. Der neue Bundesinnenminister Dobrindt verstößt offen gegen Europarecht, um seine Anti-Migrations-Agenda durchzusetzen und bringt damit unsere Nachbarstaaten gegen uns auf. Die Politik der inneren Sicherheit betrachtet das Grundgesetz offenbar weitgehend als Störfaktor, indem sie erklärt, „die europa- und verfassungs-rechtlichen Spielräume aus[zu]schöpfen“ und Maßnahmen wie die Vorratsdatenspeicherung, Quellen-Telekommunikationsüberwachung und biometrische Gesichtserkennung mit Künstlicher Intelligenz durchsetzen zu wollen, was wiederum der KI-Verordnung der EU widerspricht. Anstatt durch kluge Gesetzgebung Resilienz zu schaffen, damit eine mögliche künftige rechtsextreme Regierung an grundrechtswidrigen Maßnahmen vor-sorglich gehindert wird, gibt man ihnen die Instrumente der Unterdrückung geradezu freiwillig in die Hand.
Und auch sonst gibt es Anlass zur Sorge: „Wir stehen in Deutschland an einem Punkt, an dem es nicht mehr ausreicht, auf einzelne Bedrohungen von Grundrechten hinzuweisen. Die Ausübung ziviler Freiheiten wird offensiv und mit bislang nie dagewesener Intensität behindert oder verboten“, so leiten die Herausgeber, zu denen die Humanistische Union seit Anfang gehört, ihr Vorwort zum diesjährigen Grundrechte-Report ein. Anhand von 43 Einzelbeiträgen berichtet der Report über eine Auswahl relevanter grundrechtlicher Streitfragen. Im Berichtszeitraum 2024 richteten sich staatliche Freiheitseinschränkungen stärker als zuvor gegen bestimmte Positionen und Meinungen, beispielsweise im Umgang mit Demonstrationen und in der Strafverfolgung, bei der Wissenschaftsförderung oder in Einbürgerungsverfahren. Während der nationalistische Autoritarismus auch in Deutschland erstarkt, geraten nicht zuletzt der Schutz Geflüchteter und die Rechtsstaatlichkeit unter die Räder. Darüber hinaus werden zahlreiche weitere Themen behandelt, darunter der Umgang mit der Klimakrise, Überwachungsmaßnahmen und der begrenzte Mieterschutz. Der Grund-rechte-Report wurde am 21. Mai 2025 in Berlin vorgestellt; eine Aufzeichnung der Präsentation ist im Internet verfügbar.
Am 6. und 7. September 2025 findet in Berlin unsere diesjährige Mitgliederversammlung statt. Die Ankündigung dafür ist in dieser Ausgabe der Mitteilungen enthalten. Besonders freuen wir uns dabei, dass wir den diesjährigen Fritz-Bauer-Preis im Rahmen der Versammlung an die Rechtsanwältin Gabriele Heinecke verleihen dürfen. Wir wollen damit ihre Verdienste bei der rechtlichen Vertretung von Menschen würdigen, die von Unrechtshandlungen oder Menschenrechtsverletzungen, begangen durch Staaten und deren Organe, betroffen und geschädigt wurden. Besonders wollen wir dabei ihre Rolle im Fall Oury Jalloh und bei der Aufklärung des NS-Massakers von Sant’Anna di Stazzema hervorheben. Auszeichnungswürdig ist aber auch ihr Engagement gegen NS-Verbrechen und Rechtsextremismus, gegen den Rechtsruck etablierter Parteien und das Erstarken von Parteien wie der AfD, und ihr Eintreten für die Rechte von Frauen, Geflüchteten und Klima-Aktivistinnen und -Aktivisten, für Versammlungsrecht und gegen Polizeigewalt. Die Verleihung wird am Samstag, 6. September, im Robert-Havemann-Saal im Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin stattfinden. Ich freue mich auf die Mitgliederversammlung und die Preisverleihung sowie auf interessante Diskussionen und Begegnungen.
Herzliche Grüße
Stefan Hügel