Beitragsbild Die Gefangenenbezahlung ist verfassungswidrig
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Die Gefan­ge­nen­be­zah­lung ist verfas­sungs­widrig

Mitteilungen24807/2023Seite 20-22

Am 20.06. 2023 hat das Bundesverfassungsgericht eine lange erwartete Entscheidung zu diesem Thema veröffentlicht. Es hat dabei über je eine Verfassungsbeschwerde von Strafgefangenen aus Bayern und aus Nordrhein-Westfalen entschieden. Und es hat die Landesstrafvollzugsgesetze dieser Länder für verfassungswidrig erklärt. Leider hat das Gericht dabei weitergehende Erwartungen enttäuscht. Um die Entscheidung richtig einordnen zu können, ist es nötig, wenigstens einen kurzen Blick auf die Geschichte der Gefangenenarbeit und ihrer (durchweg) unbefriedigenden Bezahlung zu werfen.

Ein Rechtsanspruch auf Arbeitsentgelt war in Deutschland erstmals durch das Strafvollzugsgesetz von 1976 eingeführt (vorher war nur eine geringfügige „Arbeitsbelohnung“ gewährt worden). Im Regierungsentwurf hieß es dazu, diese Neuerung folge aus dem Grundsatz, dass der Vollzug der Freiheitsstrafe keine über den Freiheitsentzug hinausgehenden Einschränkungen mit sich bringen sollte. „Die Gewährung eines echten Arbeitsentgelts dient zugleich der Eingliederung, weil sie dem Gefangenen ermöglicht, zum Lebensunterhalt seiner Angehörigen beizutragen, Schaden aus seiner Straftat wiedergutzumachen und Ersparnisse für den Übergang in das normale Leben zurückzulegen“ (RegE, S.67). Konsequent hatte der Alternativentwurf der Strafrechtsprofessoren (1973) eine tarifmäßige Entlohnung der Gefangenen vorgeschlagen, ein Vorschlag, der auch von der Arbeitsgemeinschaft Sozialpolitischer Arbeitskreise (AG SPAK) aufgenommen wurde (1975). Jede(r) Gefangene sollte nach dem für ihn/sie geltenden Tarifvertrag bezahlt werden. In Zweifelsfällen sollte die Verwaltung einen Wert festlegen. Letztlich entschied sich der Gesetzgeber aus Gründen der Praktikabilität für eine pauschale Methode: die Orientierung am durchschnittlichen Entgelt aller Versicherten der Rentenversicherung. Allerdings war bald nicht mehr von einer hundertprozentigen Übernahme dieses Maßstabs die Rede. Am Ende des Gesetzgebungsverfahrens war von einem echten Arbeitsentgelt allerdings keine Rede mehr: man einigte sich auf lächerliche fünf Prozent dieser Bemessungsgrundlage, mit dem Versprechen, dass dieser Prozentsatz im Zeitraum von 1977 bis 1986 stufenweise auf 40 Prozent angehoben werden sollte. Davon ist der Gesetzgeber jedoch später abgerückt, so dass es 20 Jahre lang bei dem „Hungerlohn“ blieb.

Zu einer Erhöhung ist es bisher nur aufgrund von Verfassungsbeschwerden von Gefangenen gekommen. Diese waren im Jahre 1998 erfolgreich, als das BVerfG die bisherige Regelung für verfassungswidrig erklärte. Allerdings ging das Gericht dabei vom Maßstab eines am normalen Arbeitsmarkt orientierten „echten Arbeitsentgelts“ ab. Stattdessen entwickelte es einen neuen, strafvollzugspezifischen Maßstab: „Ein gesetzliches Konzept der Resozialisierung durch Pflichtarbeit kann zur verfassungsrechtlich gebotenen Resozialisierung nur beitragen, wenn dem Gefangenen durch die Höhe des ihm zukommenden Entgelts in einem Mindestmaß bewusstgemacht werden kann, dass Erwerbsarbeit zur Herstellung der Lebensgrundlage sinnvoll ist“. Was das bedeuten sollte, wurde dem damals für den Strafvollzug zuständigen Bundesgesetzgeber überlassen. Auf diese Weise kam eine Erhöhung von fünf auf neun Prozent der Bemessungsgrundlage zustande, ein Kompromiss, der niemandem so recht passte. Es war schon damals klar, dass die ursprünglichen Ziele (Beitrag zum Lebensunterhalt der Angehörigen, Schadenswiedergutmachung, Rücklage für einen Neubeginn in Freiheit) auf dieser Grundlage nicht erreichbar waren. Auf die Problematik des Maßstabes hatte der Berichterstatter des Gerichtes, Konrad Kruis, in einer abweichenden Meinung hingewiesen: „Da der Mensch in seiner existentiellen Befindlichkeit in Frage gestellt wird, wenn er – aus welchen Gründen auch immer – einer Ordnung ausgesetzt ist, in der für ihn der Zusammenhang zwischen abverlangter Arbeit und angemessenem (gerechtem) Lohn prinzipiell aufgehoben ist, stellt sich bei Pflichtarbeit die Frage nach dem angemessenen Entgelt im Blick auf die Achtung der Menschenwürde losgelöst vom Resozialisierungsgebot der Verfassung und dem Resozialisierungszweck der Arbeit“. Das Arbeitsentgelt müsse einen echten Gegenwert darstellen. In seiner Höhe müsse der Wert der geleisteten Arbeit deutlich werden. Er hoffe, dass man diese Entscheidung nicht so verstehen werde, „dass das Bundesverfassungsgericht damit von früheren Wertmaßstäben abrückt“. Ein bemerkenswert weitsichtiges Statement.

Vor diesem Hintergrund waren die Erwartungen an die neue Entscheidung des BVerfG hoch gespannt. Diese knüpft jedoch genau an die problematischen Maßstäbe der Vorentscheidung an. Sie verpflichtet die beiden Bundesländer, ein „umfassendes, wirksames und in sich schlüssiges, am Stand der Wissenschaft ausgerichtetes Resozialisierungskonzept zu entwickeln sowie die von ihm zu bestimmenden wesentlichen Regelungen des Strafvollzugs darauf aufzubauen. Der Gesetzgeber müsse die Zwecke, die im Rahmen seines Resozialisierungskonzepts mit der (Gesamt-) Vergütung der Gefangenenarbeit und insbesondere dem monetären Vergütungsteil erreicht werden sollen, im Gesetz benennen und widerspruchsfrei aufeinander abstimmen. Er sei dabei nicht auf ein bestimmtes Regelungskonzept festgelegt, vielmehr sei ihm ein weiter Gestaltungsspielraum eröffnet. In jedem Fall müsse die Angemessenheit der Vergütungshöhe den im Resozialisierungskonzept verfolgten Zwecken entsprechen“.

Aber ist ein solches Konzept denkbar, aus welchem sich die Vergütungshöhe der Gefangenenarbeit im Strafvollzug ableiten lässt? Das muss ernsthaft bezweifelt werden.

Schon das Konzept der Resozialisierung selbst ist umstritten. Von den Einen wird es psychologisch verstanden als die Beseitigung von Sozialisationsdefiziten („Nachsozialisation“), von Anderen, eher soziologisch, als Hilfe bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Im Zweifel kann beides erforderlich sein, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung bei verschiedenen Personen. Ob sich daraus klare Vorgaben für die Entlohnung der Gefangenenarbeit ergeben, ist mehr als zweifelhaft. Es spricht vielmehr alles dafür, den arbeitsfähigen Strafgefangenen freizustellen, ob sie arbeiten wollen oder nicht und die arbeitenden Gefangenen als (gefangene) Arbeiter nach den jeweils geltenden Tarifverträgen zu bezahlen.

Die Entscheidung des BVerfG ist streng genommen nur für Bayern und NRW. Indirekt sind jedoch sämtliche anderen Bundesländer betroffen. Sie sind -wenn auch nur indirekt – dazu verpflichtet, ihre Gesetze den Maßstäben des BVerfG anzupassen. Im schlimmsten Fall könnte dies dazu führen, dass wir es in Zukunft mit 16 verschiedenen Systemen der Gefangenenentlohnung zu tun bekommen, je nach Auslegung des verfassungsgerichtlichen Maßstabes. Vermutlich wird der Strafvollzugsauschuss der Länder versuchen, möglichst viele Länder auf ein gemeinsames Modell einzuschwören. Gelingt das nicht, was angesichts der unterschiedlichen Finanzlage der Länder nicht unwahrscheinlich ist, wird das Chaos groß sein und viele Gefangene werden die Gerichte anrufen. Diese werden sich ihrerseits mit den vagen Maßstäben des BVerfGs auseinandersetzen müssen. Das dürfte das Chaos noch vergrößern. Und letztlich werden alle eine neue Entscheidung dieses Gerichts herbeiwünschen.

Fazit: Aus der Entscheidung ergibt sich, dass dem BVerfG nichts Neues eingefallen ist. Die Länder sollen in ihren Gesetzen die Bedeutung von Arbeit in einem „Resozialisierungskonzept“ klären. Was das in Cent und Euro bedeuten soll, bleibt unklar und dürfte über längere Zeit umstritten sein.

Das sollte niemanden überraschen. Das Gefängnis ist nun einmal kein geeigneter Platz zur Resozialisierung von Straftätern. Wenn man meint, Menschen zur Strafe einsperren zu müssen und sie dort arbeiten lässt, dann ist man verpflichtet, sie regulär zu bezahlen. Der richtige Maßstab dafür ist (mindestens) der gesetzliche Mindestlohn und die Einbeziehung in die Sozialversicherung.

Dass dies teuer werden dürfte, ist kein Argument gegen ein solches Vorgehen. Es wird jedes einzelne Bundesland dazu bringen, an einer radikalen Verringerung der Gefangenenzahlen mitzuwirken. Und damit zu einer wünschbaren Fortentwicklung des Strafvollzugs in Strafanstalten beizutragen.

Johannes Feest

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