Publikationen / vorgänge / vorgänge 1-2-1972

Plädoyer für den Pluralismus der Wissen­schaften

Unter Hinweis auf die bürgerlich-liberalen Traditionen der Wissenschaflsfreiheit und des Wissenschaflspluralismus wies Professor Walter Jens, Tübingen, in einer beachtlichen Re-de auf dem Marburger Kongreß auf die Notwendigkeit der Zusammenarbeit der liberalen und sozialistischen Wissenschafter gegen die konservative Reaktion hin. (Die Rede geben wir gekürzt wieder.)
,,… Ein Plädoyer für den Pluralismus der Wissenschaften bedeutet damit: Der Antragsteller insistiert darauf, daß an den Universitäten unserer Republik die Behauptung realisiert wird, die vor 100 Jahren, im Oktober 1877, der Rektor der Friedrich-Wilhelm-Universität, es war Hermann Helmholtz, über die Lehrfreiheit an den Hochschulen des Deutschen Reiches aufstellte: ,In diesem Augenblick können auf deutschen Universitäten die extremsten Konsequenzen materialistischer Metaphysik, die kühnsten Spekulationen auf dem Boden von Darwins Evolutionstheorie ebenso ungehindert wie die extremste Vergötterung päpstlicher Autorität vorgetragen werden.‘ Lassen wir den Papst und Darwin einmal beiseite …: Wie steht es in einem Augenblick um die freie Entfaltung materialistischer Metaphysik marxistischer Provenienz, da der Kultusminister des Landes Baden-Württemberg in einem Brief an die ,Hochschullehrer, Lehrer, Verleger und im Kulturbereich Tätigen‘ eine Beziehung zwischen dem von linksextremen Gruppen bedrohten Leben der Kinder und jenen ,marxistischen Ideologen und Wissenschaftlern‘ herstellt, die, nach Wilhelm Hahn, ,über Jahr-zehnte den Studenten ihre realitätsfernen Theorien, die sich gegen unseren Staat und unsere Gesellschaft richten, mit viel Geist und Rhetorik verkündeten.‘
In der Tat, meine Damen und Herren, das Plädoyer für den Pluralismus der. Wissenschaft, das ich Ihnen vorzutragen habe, gilt — wie das Stuttgarter Schreiben vom 2. Juni 1972 beweist — Mandanten, deren Recht, als Bürger unter den Bürgern ihre Meinung vertreten zu dürfen, zunehmend bedroht ist. Es gilt den linken Hochschullehrern — eine verschwindende Minorität, wie man weiß: aber Hahn und die Seinen sprechen davon, daß an unseren Universitäten ,einseitig und in großem Umfang Theorien verkündet werden, die auf eine Unterminierung unseres Staates und unserer Gesellschaft abzielen‘; es gilt den Lehrern und Verlegern, es gilt aber auch jenen Politikern, die, wie die Vertreter der derzeitigen Bundesregierung, eine Amnestie für Demonstrationstäter durchsetzten, die angeblich nach Hahn ,dazu beigetragen hat, politische Gewalttaten als Kavaliersdelikte zu beurteilen, die sogar positiv bewertbar seien`.
Meine Damen und Herren, als wir in unserem Kongreßappell darauf verwiesen, daß Disziplinierungsmaßnahmen, die sich heute in erster Linie gegen sogenannte Extremisten richten, morgen schon unbotmäßige Gewerkschafter und Sozialdemokraten, Journalisten, die auf die Materialisation der Sozialgebote unseres Grundgesetzes pochen, oder Lehrer treffen kann, die den Gedanken der Verschwisterung von Demokratie und Sozialismus vertreten, weil sie glauben, daß nur auf diese Weise die bürgerlichen Freiheiten, nun-mehr Freiheiten für alle, realisiert werden können …, als wir den Kreis der potentiell Bedrohten so weit zogen, da hat man uns vorgeworfen, wir malten schwarz, wo nur grau sei und unterschätzten das Ausmaß jenes liberalen Freiheitsraumes, der doch immer-hin geblieben sei. Da hatte man vergessen, daß bereits vor Jahren, angeklagt mit anderen demokratischen Wissenschaftern, ein Mann wie Ossip Flechtheim — zeitlebens ein Anwalt des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit und der Gewaltlosigkeit — von Gerhard Stoltenberg als Verführer der Jugend hingestellt wurde … Jetzt aber sind es nicht allein die realitätsfernen Theoretiker, die — dennoch — mit der Realität Baader-Meinhof identifiziert –
werden: im Zeichen des großen Ketzergerichts stehen fortschrittliche Politiker neben Theologen, beide bezichtigt der Verletzung demokratischer Spielregeln, Vertreter der Massenmedien finden sich seitanseit mit den Regenten der sozialliberalen Koalition, deren Gesetzestätigkeit es zuzuschreiben sei, daß die ,Grenze zwischen Recht und Un-. recht für viele in der jungen Generation fließend geworden sei‘.
Professoren, Politiker, Theologen, Verleger, Publizisten, alle rot, alle als Sympathisanten in einem Atemzug mit Terroristen genannt: Wenn das keine Volksfront ist, die in diesem Brief vorgestellt und angeklagt wird, dann weiß ich nicht, was eine Volksfront ist. Hier springt die Katze aus dem Sack — eine Katze die die Tollwut hat — Schluß mit der Toleranz gegenüber den Linken heißt die Devise. (. . .)
Böll: ein Radikaler! Als ob das verurteilenswert wäre, radikal zu sein! Als ob ,radikal` nicht ein Ehren-Wort der Aufklärer war und mit dem Begriff ,Radikaler` sich als Bürger ausgezeichnet sahen, die dem Übel an die Wurzel gingen, statt nur Symptome zu heilen. ,Daher muß eigentlich ein jeder, welcher die Unvollkommenheit eines gegebenen Zustandes erkennt und auf Heilung desselben denkt, ein Radikaler sein‘: ein Zitat aus Brockhaus‘ Conversationslexikon von 1836, ein Satz aus einem Artikel, der, von bürgerlichem Freisinn zeugend, radikale Reform mit der Veränderung auf verfassungsmäßigem Weg identifiziert. So sprach man einst … und wenn man heute anders spricht und glaubt, sich von den Linken zu trennen, dann trennt man sich in Wahrheit von den fortschrittlichen Elementen bürgerlicher Überlieferung, zerschneidet den Faden, der zum Freiheitsdenken der Aufklärung führt, weil man fürchtet — und dies zu recht — daß in der sozialen Demokratie für alle verwirklicht werden könnte, was die Liberalen Einzelnen versprachen! So betrachtet ist die Attacke gegen den Radikalismus, bei der nicht mehr gefragt wird, zu welchem Ziel und mit welchen Mitteln denn die Gesellschaft radikal verändert werden soll, eine Attacke gegen jene humanistische Tradition der Wissenschaft, die es, so bescheiden sie sich auch ausnimmt, in diesem Lande denn doch auch gegeben hat. (. . .)
Mögen die Virchow und Mommsen, der alte Achtundvierziger, die Gervinus und Humboldt Ausnahmen gewesen sein, die die Regel bestätigen: daß sich eine scheinbar unpolitische, auf Wertsetzungen verzichtende Wissenschaft der Kontrolle über das von ihr Verlangte begibt und so gerade wegen ih-res unpolitischen Selbstverständnisses mühe-los politisiert werden kann . . ; sie haben Zeic1~en gesetzt, die progressiven Wissenschafter in der heroischen Phase des Bürgertums, und es ist Sache der wahrhaft Liberalen und Sozialisten in diesem Land, ein Erbe fortzusetzen, das die Konservativen verrieten: Rudolf Virchow, zu seiner Zeit wegen ,Reformvorschlägen und politischer Betätigung‘ des Amtes enthoben, stünde — im Zeichen des Stuttgarter Schreibens vom 2. Juni 1972 — auch heute am Pranger .. .
Plädoyer für einen Pluralismus der Wissenschaft … das meint aber vor allem, nun in einer anderen Bedeutung des Wortes: Vertretung einer \Uissenschaft, die, statt sich selbst genug zu sein, der Sozietät zugewandt ist, der sie dient und die sie infrage stellt, indem sie die bestehende Gesellschaft, vorgriffsartig und vergleichsweise, an einer als möglich vorgestellten humaneren und sozialeren Ordnung der Zukunft mißt: ,Dem Egoismus‘, schreibt Kant in der Anthropologie, ,kann nur der Pluralismus entgegengesetzt werden …, d. i. die Denkungsart, sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten‘. Pluralismus heißt also, auf die Wissenschaft bezogen, die Privatheit eines. nur sich selbst verantwortlichen Metiers zu leugnen und, mit Kant, ,das Da-sein anderer, mit mir in Gemeinschaft stehender Wesen‘ zu realisieren …und es nicht nur zu realisieren, sondern, Wirklichkeit und Möglichkeit miteinander vergleichend (wer, wenn nicht der Wissenschafter, könnte das?) dazu beitragen, daß die Produktivkräfte, die ein menschenwürdiges Leben für alle gewährleisten können, nicht länger durch soziale Verhältnisse gedrosselt werden, die, wo Reichtum möglich wäre, das Elend belassen. ,Können wir uns der Menge verweigern‘, heißt es in Brechts Galilei, ,und doch Wissenschafter bleiben? … Ich halte dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern. Wenn Wissenschafter, eingeschüchtert durch selbstsüchtige Machthaber, sich damit begnügen, Wissen um des Wissens willen anzuhäufen, kann die Wissenschaft zum Krüppel gemacht werden und neue Maschinen mögen nur Drangsal bedeuten‘.
Ich denke, man kann, in der Sprache der Poesie, nicht exakter umschreiben, was, in der Diktion des philosophierenden Jakobiners aus Königsberg, Pluralismus bedeutet. Pluralismus der Wissenschaft meint, im Kantschen Sinne: allgemeine, objektive Bedürfnisse über partikulare Interessen zu stellen und die Verfügungsgewalt des abstrakten Individuums in der Freiheit der solidarisch Produzierenden aufzuheben. Das heißt konkret: Eine Wissenschaft, die unter ,Praxisbezug` und ,gesellschaftlicher Relevanz‘ versteht, die Universität müßte zunächst einmal auftragsfäbig für die herrschende Schicht in dieser Gesellschaft sein, ohne zu bedenken, daß sie damit jene Schicht preisgeben könnte, deren Existenz, mit Werner Hofmann zu reden, den objektiven Möglichkeiten der Gesellschaft am meisten widerspricht … eine solche unkritische Wissenschaft sollte auf den von Brecht geforderten hippokratischen Eid für alle Wissenschafter lieber verzichten — es würde ein Meineid daraus.
Den Schwur ablegen, ihr Wissen zum Wohle der Menschheit anzuwenden, kann allein eine Wissenschaft, die zum ersten ihre Autonomie — die Autonomie einer demokratischen Institution selbstverständlich — zu verteidigen versteht, weil sie weiß, daß sie der Gesellschaft nur als deren kritischer Widerpart und nicht als ein fungibles Element dienen kann, das, beschränkt auf pure Funktionalität, von den jeweils dominierenden Interessen nach Belieben zu manipulieren ist.
Den hippokratischen Eid ablegen kann zum zweiten nur eine demokratisch orientierte Wissenschaft, die sich, radikal unterschieden von den nach staatlichem Eingriff verlangen-den Freiheitsbund-Sprechern, allen Plänen zu widersetzen weiß, die eine erweiterte Hochschulkompetenz der Länder, bis hin zur Fachaufsicht, fordern. (..
Diese Aufgabe ist uns allen gestellt: Wir haben darauf zu bestehen, daß die Forderung, die Rudolf Virchow vor 130 Jahren auf-stellte: volle und unumschränkte Demokratie, gleiches Recht für jedermann, realisiert wird; wir haben uns dagegen zu wehren, daß die inzwischen auch von der Jungen Union als Reaktionäre gebrandmarkten Vertreter vom Bund Freiheit der Wissenschaft und ihre Interessenwahrer in Ministerien, Parteien, .Massenmedien und Wirtschaft sich auf eine bürgerliche Wissenschaft berufen, deren progressive Vertreter es nicht verdient haben, als Eideshelfer für die Sache der Reaktion her-halten zu müssen: Ein Boot, in dem zugleich ein Platz für Maier und Gervinus ist, gibt es nicht.

Sie waren radikal und sind es heute noch… radikal wie anno 72 die Thesen des Ahlener Programms und die Sozialartikel jenes Grundgesetzes sind, das, an der Verfassungswirklichkeit gemessen, längst revolutionären Charakter gewonnen hat.
Dies alles gilt es zu verteidigen: wir stehen mit dem Rücken zur Wand, wenn wir uns nicht zusammenschließen, Marxisten, Radikaldemokraten und Liberale: Wenn wir uns auch in Zukunft nur in den Verlautbarungen der Hahns vereint wissen wollen und nicht, auf breiter Basis, gewerkschaftlich-solidarisch handeln, dann könnte nicht nur die Wissenschaft in dieser Republik ihre Freiheit verlieren.“

nach oben