Publikationen / vorgänge / vorgänge 1-2-1972

Das Defizit an Rechts­re­form, zum Beispiel im Straf­vollzug

1. Es wird das bleibende Verdienst von Frau Diemer-Nicolaus sein, daß sie im Bundestag – wenn auch mehrfach erfolglos – für ein liberal- fortschritliches Straf-, Strafprozeß- und Strafvollzugsrecht eingetreten ist.

a) Unteranderem stimmte Frau Diemer- Nicolaus als einzige gegen die Erweiterung der Untersuchungshaft, die überflüssig ist und deshalb eine bloße politische Demonstration darstellt. Wo Untersuchungshaft zum Schutze der Allgemeinheit notwendig ist, konnte sie ohne eine solche Erweiterung angeordnet werden. Meines Wissens gibt es kein Land in der westlichen demokratischen Welt, in dem so viel Untersuchnungshaft angewandt wird wie in der BRD. Ja, ihre Ausweitung droht weite Bereiche der Strafvollzugsreform illusorisch zu  machen. Denn nach vielen und langen Untersuchungshaften bleibt nicht mehr genügend Zeit übrig für die im modernen Strafvollzug angestrebte Behandlung zum Zwecke der Sozialisation, die ja erst mit der Rechtskraft des Urteils eigentlich beginnen kann. Es folgt dann schon bald die – ebenfalls notwendige – vorzeitige Entlassung, sodaß eine ernsthafte Einwirkung im Vollzug auf die Schwächen und Fehlverhaltensweisen des Rechtsbrechers nicht mehr möglich ist. Man beginnt sich dabei nach dem Sinn der Strafvollzugsreform zu fragen.

b) Frau Diemer- Nicolaus hat sich – ebenfalls auf verlorenem Posten – immer wieder für die Streichung der sinnlosen kurzen Freiheitsstrafe unter 6 Monaten eingesetzt. Das ist eine Strafe der Phantasielosigkeit. Sie belastet den Strafvollzug, weil sie viel kostet und dort, wo Behandlung zeitlich möglich wäre, Raum und Mittel wegnimmt. Für den Betroffenen hat sie nachgewiesenermaßen nur negative Folgen. Frau Diemer- Nicolaus wußte bei diesen Bemühungen, wie notwendig eine Konzentration der schwachen Kräfte des heutigen Strafvollzuges auf die wirklich behandlungsbedürftigen Fälle ist. Schwach aber ist der Strafvollzug in sachlicher und personeller Beziehung.

Wir können zur Zeit nicht hoffen, daß die genannten Bemühungen von Frau Diemer- Nicolaus noch Erfolg haben. Doch sollten wir nicht müde werden, mit ihr das erkanntermaßen Richtige anzustreben.

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