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Aus dem Kosovo nach Bielefeld: Anatomie einer Flucht­be­we­gung

aus vorgänge 101, Heft 5/1989,S.19-25

Drei zentrale Konflikte haben auf den ersten Blick nur wenig miteinander zu tun: der Natio­na­li­tä­ten­kon­flikt zwischen der albanischen und der serbischen Volksgruppe im Vielvöl­ker­staat Jugoslawien, die Menschen­rechts­ver­let­zung und politischen Verfol­gungen, welche insbe­son­dere Angehörige der albanischen Volksgruppe und der Roma zur Flucht veranlassen, und schließlich ein kommunaler Konflikt um den gesicherten Aufenthalt solcher Flüchtlinge in der Stadt Bielefeld. Im folgenden soll gezeigt werden, daß zwischen diesen drei Konflikten ein untrenn­barer Zusam­men­hang besteht. Das Beispiel dieser Flucht­be­we­gung legt mithin den Schluß nahe, daß die klassische Separierung von Außen­po­litik, Menschen­rechts­po­litik auf der Basis völker­recht­li­cher Verpflich­tungen und bundes­deut­scher Innen­po­litik einschließ­lich kommu­nal­po­li­ti­scher Belange nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Die unter-­schied­li­chen Ebenen und Bereiche politischen Handelns sind miteinander verzahnt, ohne daß dieser Tatsache in der Asylpolitik, aber auch in der Arbeit der freien Flücht­lings­i­n­i­tia­tiven, bislang hinreichend Rechnung getragen wird.

Ein Nationalitätenkonflikt im fernen Süden Europas

Der serbisch-albanische Konflikt brachte Jugoslawien fast an den Rand einer Militärdiktatur: Am 28. März 1989 wurde über das Kosovo, eine über-wiegend von Albanern bewohnte Provinz der serbischen Teilrepublik Jugoslawiens, die Ausgangssperre verhängt. Die gesamte Region wurde hermetisch abgeriegelt, Demonstrationen der Albaner blutig und mit Waffengewalt niedergeschlagen. Die Zahl der Toten liegt bei weit über hundert, die Zahlen der Verletzten und Verhafteten gehen in die Tausende. Die Säuberungswelle gegen albanische Politiker, Wissenschaftler, Journalisten und Lehrer im Kosovo, zynisch „Differenzierung“ genannt, hält noch an. Am 23. März hatte das Parlament des Kosovo auf Druck der serbischen Führung einer Verfassungsreform zu-gestimmt, die maßgebliche Autonomierechte der Provinz aufhebt und den serbischen Einfluß in der Provinz sicherstellt. Vier Tage später wurde die Reform auch im Belgrader Bundesparlament angenommen und trat damit in Kraft. Der Parteichef der serbischen Kommunisten, Slobodan Milosevic, hatte die hegemonialen Interessen seiner nationalistischen Anhänger durchsetzen können, mit der Folge, daß der seit Jahrzehnten schwelenden Nationalitätenkonflikt erneut eskalierte.

Der Konflikt um die Autonomiebestrebungen der Albaner und die Hegemonieansprüche der Serben, kurz die „Kosovo-Frage“ genannt, ist nicht der einzige nationale Konflikt Jugoslawiens, aber sicherlich der derzeit schärfste. Das „Armenhaus“ Europas, das Kosovo, dessen Arbeitslosenrate viermal so hoch, dessen Pro-Kopf-Einkommen viermal so niedrig ist wie der jugoslawische Durchschnitt, wird neben der albanischen Mehrheit noch von Serben, Moslems und Montenegrinern bewohnt. Zwar war es seit 1946 autonome Provinz, jedoch wurde den Albanern, immerhin der fünftgrößten Volksgruppe in Jugoslawien, keine eigenständige Republik innerhalb der „Gemeinschaft der gleichberechtigten Nationen und Nationalitäten“ zuerkannt. Schon im März 1981 entluden sich die ethnischen Konflikte in schweren nationalen Unruhen. Tausende von Albanern demonstrierten in der Provinzhauptstadt Pristina für eine eigene Republik. Über die gesamte Provinz wurde für mehrere Wochen der Ausnahmezustand verhängt.

Seit dieser Zeit nehmen die Repressionen gegen die Albaner durch die serbische Zentralgewalt zu. Die Belgrader Zeitung 8 Novosti berichtete in ihrer Ausgabe vom 12. Februar 1987, daß zum damaligen Zeitpunkt 800 politische Gefangene albanischer Herkunft inhaftiert waren. Als im Februar dieses Jahres das Zentralkomitee der jugoslawischen Kommunisten den albanischen Parteisekretär des Kosovo, Azem Vlasi, seines Amtes enthob, traten albanische Bergarbeiter der Mine „Trepca“ in den Hungerstreik und lösten damit einen Generalstreik aus. Unmittelbar darauf kam es zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, nachdem das Bundesparlament der Verfassungsreform zugestimmt und die Autonomierechte aufgehoben hatte. Die Provinz wurde durch serbische und Bundespolizei besetzt und von der Außenwelt abgeriegelt.

Viele Albaner und Roma aus dem Kosovo suchten ihr Menschenrecht in der Flucht. 1988 stellten sie die zweitgrößte Gruppe von Asylsuchenden in der Bundesrepublik. Im Frühjahr dieses Jahres reagierte die deutschen Bundesregierung mit der Androhung einer allgemeinen Visumspflicht für Jugoslawen. Diese Androhung veranlaßte die jugoslawische Regierung zu einer drastischen Einschränkung der Reisepassvergabe, mit der Folge, daß die Zahl der Ausreisenden um über die Hälfte abnahm. Nach diesem „Erfolg“ verzichtete die deutsche Seite vorläufig auf die Einführung der Visumspflicht. Aus dem Kosovo kommt man derzeit ebenso schwer raus wie rein; die Region ist weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten. Ungern gesehen sind auch Journalisten, die über die Geschehnisse berichten wollen, so daß die Pressemeldungen über das Kosovo eher mager ausfallen. Eine deutlichere Sprache sprechen dagegen die Aussagen und Berichte von geflüchteten Albanern.

Albaner auf der Flucht vor Menschen­rechts­ver­let­zungen

„Immer wieder kam es vor, daß die Fensterscheiben unseres Hauses mit Steinen zerstört wurden, mal war das Dach durch Steinwürfe beschädigt worden, öfter waren es meine Kinder selbst, die durch Steinwürfe Verletzungen davontrugen. Wenn ich die Polizei aufsuchte, wurde ich zurück-gewiesen. Man sagte mir, sie hätten keine Zeit, sich mit solchen Kleinigkeiten abzugeben: ` So berichtet ein albanischer Flüchtling in Bielefeld. In der Folgezeit häuften sich Übergriffe seitens der serbischen Nachbarn Als der Gemeinschaftsbrunnen im Dorf durch eine Chemikalie vergiftet wurde, versorgten die offiziellen Stellen nur serbische Familien mit Trinkwasser. Demonstrationen von Serben mit Parolen wie „Schlagt die Albaner tot, verbrennt ihre Fahne“ gehören ebenso zum Alltagsleben im Kosovo wie Versuche, Albanern kriminelle Delikte anzuhängen. Ihnen werden Kirchenbrände, Friedhofsschändungen und Vergewaltigungen angelastet. Die Albaner sehen sich den alltäglichen Schikanen ohnmächtig aus-gesetzt. Rechtsstaatliche Beschwerdewege bei den Behörden, bei der Polizei oder das freie Wort in der Presse existieren für sie faktisch nicht. Wer im Kosovo als Albaner den Mund aufmacht und das Unrecht beim Namen nennt, sagen die Flüchtlinge, macht sich nur verdächtig und riskiert, selbst zum Fahndungsobjekt der Polizei zu werden. Immer wieder hört man von Folterungen und Mißhandlungen bei polizeilichen Verhören. Ein Flüchtling, der Flugblätter einer oppositionellen Gruppierung im Kosovo verteilt hatte und dabei verhaftet wurde, schildert seine Erfahrungen mit der Polizei:

„Die Polizei wollte von mir die Namen der Organisatoren der Flugblattaktion erfahren. Da ich die Frage nicht beantworten konnte und wollte, wurde ich von Polizisten, die sich durch über den Kopf gezogene Mützen mit Sehschlitzen unkenntlich machten, mit Gummistöcken zusammengeschlagen und mit Fußtritten bearbeitet. Drei Tage dauerte das Verhör, dann kam ich schwer verletzt auf eine bewachte Station eines Krankenhauses. Meine Verletzungen wurden aber nur notdürftig versorgt. Das linke Auge, das von einem Stock getroffen war, konnte nicht mehr gerettet werden, es ist erblindet. Der durch die Fußtritte verursachte Leistenbruch muß noch operiert werden. In meinen Schultern und Armen habe ich ständig Schmerzen. Ich habe keine Kraft mehr, einen Gegenstand länger als einige Minuten zu halten oder etwas Schweres anzuheben. Auf meinen Armen sieht man noch die Spuren der Schläge. Nach dem vierwöchigen Krankenhausaufenthalt kam ich wieder in die Einzelzelle. In so einer Zelle kann man nicht liegen, nur auf dem Betonboden hocken und versuchen zu schlafen. … Um mich zum Sprechen zu bringen, mußte ich immer wieder in einer so engen Zelle stehen, daß ich mich nicht bewegen konnte. Man ließ kaltes Wasser in die Zelle, mal bis in Brusthöhe, mal bis zum Kinn.“

Ein solches Verhalten der Polizei und Sicherheitskräfte wird von den offiziellen Stellen gedeckt. Die Regierung der Republik Serbien unter dem mittlerweile zum Präsidenten avancierten Populisten Milosevic schürt die Pogromstimmung gegen die albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo. Jeder politische Protest gegen ethnische Diskriminierung und Repression, der sich gegen die serbische Regierung richtet, wird hart bestraft. Das jugoslawische Strafgesetzbuch bietet genügend Handhabe, um oppositionelle Stimmen im Lande zu unterdrücken. Die Paragraphen 133 („feindliche Propaganda“), 114 („konterrevolutionäre Gefährdung der gesellschaftlichen Ordnung“) und 136 („Vereinigung zum Zweck feindlicher Aktivitäten“) werden, Berichten von amnesty international zufolge, insbesondere gegenüber der albanischen Volksgruppe angewandt. Wer als subversiv geltende Bücher oder Emigrantenzeitschriften besitzt oder Parolen wie „Kosovo – Republik“ anbringt, erfüllt bereits den Tatbestand der „feindlichen Propaganda“.

Die Gründe für die Flucht der Albaner aus dem Kosovo sind vielschichtig: Ethnische Diskriminierung verbindet sich mit wirtschaftlicher und sozialer Benachteiligung, wie z.B. rechtlicher Benachteiligung der Kinder von Albanern und Roma bei der Kindergeldregelung und der schulischen Versorgung. Zusammen mit den politischen Verfolgungen und Repressalien bilden sie ein Motivbündel, das für die individuelle Entscheidung zur Flucht ausschlaggebend wird. Dennoch wird es sehr schwierig werden, für diese Fluchtgründe in einem Asylverfahren in der Bundesrepublik Anerkennung zu finden. Denn bis heute erkennt die hiesige Rechtsprechung solche Verfolgung grundsätzlich nicht als asylrelevant an, sondern interpretiert sie als Ausfluß legitimer staatlicher Herrschaftssicherung.

Die erste Schwelle, die es für die Kosovo-Flüchtlinge in ihrem Asylverfahren zu überwinden gilt, liegt jedoch noch eine Stufe tiefer. Es kostet sie viel Überwindung, ihre Flucht und ihr Mißtrauen beiseite zu schieben und die Einzelheiten der Flucht, die Verfolgungssituation und Demütigungen, die sie persönlich erfahren haben, genau zu schildern. Wieviel Mut braucht dies, nach all den Erfahrungen, die sie in ihrer Heimat mit Behörden und Polizei gemacht haben? Solche nur zu verständlichen Schwierigkeiten im Asylanhörungsverfahren sowie die Angst, Freunde und Angehörige in der Heimat zu gefährden, verhindern einen entschiedenen Protest von seiten der Flüchtlinge gegen öffentliche Stellungnahmen wie die des jugoslawischen Konsuls in Düsseldorf. Als er im Rahmen eines offiziellen Besuchs beim Bielefelder Oberbürgermeister im April dieses Jahres zu den aktuellen Problemen im Vielvölkerstaat befragt wurde, vertrat er die Meinung, die Albaner aus dem Kosovo flüchteten vornehmlich aus wirtschaftlichen Gründen, nicht jedoch vor irgendwelchen Repressalien. Sie gingen freiwillig und würden von niemandem gedrängt oder aufgehalten. Seine Behauptungen blieben in der Presse unwidersprochen – trotz Hunderten von Flüchtlingen, deren Schicksal das Gegenteil beweist.

Der Zusammenhang zwischen den drei eingangs genannten Konfliktebenen ist damit aber noch nicht vollständig beschrieben. Die Geschichte der Fluchtbewegung wird komplett, wenn im folgenden die Praxis der Asylgewährung auf der kommunalpolitischen Ebene, d.h. auch die völlig unzureichende Form der Bewältigung dieses Konflikts, betrachtet wird. Die nordrhein-westfälische Stadt Bielefeld wird im Sommer 1988 plötzlich zum Ort der Auseinandersetzung.

Keine Zuflucht in Bielefeld

Etwa 150 Flüchtlinge albanischer Herkunft aus dem Kosovo beantragen beim Ausländeramt der Stadt politisches Asyl. Niemand hat mit ihnen gerechnet, niemand für sie vorgesorgt. Unbekannte Organisatoren haben sie nach Bielefeld vermittelt und überlassen sie hier unvorbereiteten Behörden, einer desinformierten Öffentlichkeit und den eigenen sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten. Die politischen Instanzen und die veröffentlichte Meinung sind wenig geneigt, jugoslawischen Staatsangehörigen ein Recht auf Asyl wegen politischer Verfolgung in ihrem Heimatland zuzugestehen. Die besonderen Bedingungen des Nationalitätenkonflikts im fernen Süden Europas sind hier praktisch unbekannt.

Ein evangelisches Hilfskomitee und der Bielefelder Flüchtlingsrat versuchen, das Grundrecht auf politisches Asyl nach Artikel 16 des Grundgesetzes auch für diese Flüchtlingsgruppe durchzusetzen. Sie stellen Verbindungen zu Rechtsanwälten her, erzwingen amtliche Dolmetscherleistungen bei der Antragstellung und bedrängen die städtischen Behörden, die Mindeststandards einer menschenwürdigen Unterbringung und Versorgung zu gewährleisten. Aus den kinderreichen Familien sind viele an ansteckenden Krankheiten erkrankt und müssen wegen der unzureichenden hygienischen Verhältnisse der Notunterkünfte in Krankenhäusern behandelt werden. Massive sprachliche Verständigungsprobleme und die extreme Verstörung der Flüchtlingsgruppe, die durch die Abwehrreaktionen der deutschen Bevölkerung und der amtlichen Stellen ausgelöst werden, machen die Schritte zur Verbesserung ihrer materiellen und psychischen Lage in der Stadt Bielefeld beschwerlich.

Im Laufe des Winters gewinnt die Flüchtlingsgruppe aus dem Kosovo Kontakte zu Betreuern und Betreuerinnen aus dem Kreis des Hilfskomitees. Sie werden auch in den Ämtern der Stadt korrekter behandelt und erfahren so etwas wie Zugehörigkeit zu einem städtischen Gemeinwesen. Sie haben in Bielefeld erstmalig Schutz vor Verfolgung in ihrem Heimatland gewonnen. Sie können darüber in der Presse und mehrfach auch verantwortlichen Politikern berichten. Sie erfahren eine soziale Mindestsicherung nach dem Bundessozialhilfegesetz. Sie haben durch die Tätigkeit der Anwälte den Schutz eines rechtsstaatlichen Verfahrens bei der Prüfung ihres Asylgesuches.

Dennoch haben die Albaner aus dem Kosovo auch nach einem fast dreivierteljährigen Aufenthalt in der Stadt Bielefeld keinen Anspruch auf einen gesicherten Verbleib erworben. Sie kamen zu einem Zeitpunkt in die Stadt, als die Behörden bereits die Möglichkeiten der Umverteilung nach Süddeutschland regelmäßig nutzten. Die Angst vor einer zwangsweisen Verbringung in die berüchtigten ‚Sammellager des Freistaates Bayern begleitete die Flüchtlinge vom ersten Tag ihres Aufenthaltes in Bielefeld an. Informationen über die ausländerfeindliche Stimmung bei den offiziellen Instanzen und bei der ländlichen Bevölkerung in den Unterbringungsstätten der bayerischen Dörfer und Gemeinden, Informationen über sofortige Abschiebung nach Ablehnung ihres Asylgesuches und Gerüchte über Vergewaltigungen und tödliche Auseinandersetzungen im Umkreis der bayerischen Lager verunsichern die Albaner, besonders alleinstehende Frauen mit Kindern und Väter großer Familie. Die psychische Kontinuität der Verfolgung wird er-schreckend deutlich, wenn Angehörige der Roma in der Gruppe der Flüchtlinge ihre Angst vor dem ungewissen Zukunftsschicksal in Bayern ausdrücken. In dieser Situation kommen die Flüchtlinge zu der Überzeugung, daß sie eine zwangsweise Verbringung nach Bayern auch gegen die rechtswirksamen Umverteilungsanordnungen des Landes Nordrhein-Westfalen und der Stadt Bielefeld nicht akzeptieren wollen. Sie protestieren in öffentlichen Erklärungen gegen diese erzwungene Verlängerung ihres Fluchtweges und Verschlechterung ihrer zukünftigen Lebenssituation.

Das evangelische Hilfskomitee und der Bielefelder Flüchtlingsrat erklären sich mit dieser Verweigerung der Flüchtlinge solidarisch und treten in öffentlichen Aktionen auf ihre Seite. Bei der sich anbahnenden Auseinandersetzung geht es im Kern um die Finanzierung des Aufenthaltes der 150 Kosovo-Albaner in Bielefeld, deren Sozialhilfekosten im Falle der Verweigerung dem städtischen Haushalt zugerechnet würden. Die Mehrheit der Parteien und die Mehrheit des Rates der Stadt stellen die Interessen der Flüchtlinge hinter die ökonomischen Ansprüche der einheimischen Bevölkerung zurück. Sie lehnen durch Beschluß des Stadtrates das Verbleiben der Flüchtlinge in Bielefeld ab und beschließen endgültig die Umverteilung. Ein Versuch, in letzter Minute über die Lebensbedingungen in den bayerischen Lagern eine gemeinsame Informationsbasis herzustellen, scheitert: Das bayerische Sozialministerium und die Lagerverwaltung in Zirndorf verweigern den Flüchtlingen und ihren Freunden den Zugang zum Lager. In dieser Situation veröffentlicht der Bielefelder Flüchtlingsrat eine Dokumentation über die Wohnbedingungen in den Massenunterkünften, über die unzureichende Ernährungsform und die generelle Einbehaltung der Sozialhilfe verbunden mit einem geringfügigen Taschengeldanspruch. Diese Lebensbedingungen, die von der bayerischen Asylpolitik bewußt und systematisch herbeigeführt und aufrechterhalten werden, hält der Bielefelder Flüchtlingsrat für menschenunwürdig.

Als Konflikt zwischen den Anforderungen de~ Verwaltungsrechts einerseits und einer menschenwürdigen Asylpolitik andererseits entwickelt sich die Auseinandersetzung zwischen den Flüchtlingen und ihren Unterstützungsgruppen sowie den Behörden und Politikern der Stadt Bielefeld und des Landes Nordrhein-Westfalen zielstrebig in Richtung einer Eskalation. Im Frühjahr 1989 scheitern die letzten Bemühungen, durch politische Interventionen und öffentliche Demonstrationen den Eklat einer zwangsweisen Umverteilung zu vermeiden. Die Entfernung zwischen Bielefeld und dem Sitz der Landesregierung in Düsseldorf erweist sich auch als eine Entfernung zu den sozialen Problemen einer Bevölkerungsgruppe, deren menschenwürdige Behandlung als Ziel sozialdemokratischer Landespolitik aus dem Blickfeld gerät. In der Folge sieht sich die Verwaltung der Stadt Bielefeld zum Handeln veranlaßt. Im Zuge der Anordnungen, Verfügungen und sozialarbeiterischen Planungen ergeht schließlich auch die Anordnung des unmittelbaren Zwanges: die Drohung mit dem Einsatz der Polizeigewalt. Am Morgen der angekündigten Umverteilung, am 2. Mai 1989, blockiert noch eine große Gruppe von Flüchtlingen und Unterstützern die Busse der Stadtverwaltung und hindert die Behördenmitarbeiter an der Durchführung ihrer Anordnungen, ebenso die Polizei am Eingreifen. Vor laufenden Fernsehkameras und unter den aufmerksamen Augen eines Teils der örtlichen Presse wird die Aktion abgebrochen und verschoben.

Aber solche spektakulären Auseinandersetzungen steigern die Angst der Flüchtlinge noch. Sie müssen in der Konfliktsituation die Dramatik ihrer zukünftigen Lebenssituation in Bayern vor-wegnehmend erleben. Die ständige Sorge vor überraschenden neuen polizeimachtgestützten = Umverteilungsaktionen versetzt die Flüchtlingsgruppe in eine unhaltbare Lebenssituation mitten in einer Stadt wie Bielefeld, deren bisher liberale Asylpolitik durch eine rot-grüne Mehrheit im Stadtrat garantiert schien. Der Bielefelder Flüchtlingsrat sieht sich jetzt nicht mehr in der Lage, durch demonstratives Auftreten und symbolische Aktionen den Verweigerungswillen der Flüchtlinge zu stützen. Er fürchtet im Falle eines erneuten Polizeieinsatzes unberechenbare Reaktionen und sieht sich gezwungen, öffentliche Gegenreaktionen einzustellen. Die Kosovo-Flüchtlinge stehen jetzt ganz allein da und sind ihrem Schicksal ohne politische Unterstützung hilflos ausgeliefert. Versuche der Verständigung in letzter Minute scheitern, weil eine ausdrückliche Zustimmungserklärung zur Umverteilung verwaltungsgemäß und bürokratisch korrekt von keiner Seite garantiert werden kann.

Das Ende des Konfliktes ist vorgezeichnet: Staat und Stadt setzen sich konsequent durch und erzwingen die Umverteilung. Trotz der Einwilligung einzelner Flüchtlingsfamilien, die ihre Bereitschaft zur Abreise nach Zirndorf erklären, wird ein geplanter Polizeieinsatz zur Durchsetzung des: Verwaltungshandelns nicht abgesagt. Von weit her – dem Vernehmen nach aus Bonn – wird eine große Polizeieinheit von 80 Beamten zur Notunterkunft in Bielefeld beordert und in einer militanten Aktion in den sehr frühen Morgenstunden des 10. Mai 1989 eingesetzt. Flüchtlingen, die aus dem Schlaf gerissen sich im Einzelfall weigern, den Anordnungen zu folgen, werden Handschellen angelegt. Den nicht betroffenen Familien, deren Umverteilung verschoben ist, wird das Verlassen ihrer Räume verboten. Als die ersten Informationen über die machtgestützte zwangsweise Verbringung der Flüchtlinge nach Bayern die Öffentlichkeit erreichen, sind die Busse bereits abgefahren.

Der Bericht über diesen kommunalpolitischen Konflikt um das Bleiberecht der Kosovo-Flüchtlinge in Bielefeld enthält die Geschichte einer Niederlage. Es ist zunächst und unabänderbar die Niederlage einer Gruppe von Flüchtlingen, die in einer westdeutschen Stadt zunächst ein Dreivierteljahr Zuflucht gefunden hat und denen am Ende diese Zuflucht aus Gründen der Staatsräson und der Verwaltungstechnik verweigert wurde. Es ist aber auch die Niederlage jener Öffentlichkeit und politischer Gruppierungen, die für ein – auch materiell nicht ausgehöhltes – Grundrecht auf Asyl eintreten. Es ist schließlich die Niederlage einer städtischen Politik, die vor dem Hintergrund einer rigorosen Verwaltungspraxis des Landes Nordrhein-Westfalen in Verbindung mit der bayerischen Abschreckungspolitik ihre bisherigen Prinzipien der menschenwürdigen Behandlung von Flüchtlingen verletzte. Diese Niederlage wird besonders deutlich werden, wenn demnächst die Broschüre ausgeliefert wird, die jahrelangen Auseinandersetzungen mit Ausländerfeindlichen Tendenzen in der Stadt Ausdruck geben sollte und den Titel trägt: „Flüchtlinge sind in Bielefeld willkommen“.

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