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Republi­kaner sind wir doch alle

vorgängevorgänge 10109/1989Seite 13-19

Zeitgemäßes zum Umgang mit Parteien und Potentialen von rechtsaußen

Helmut Ridder zum 70sten Geburtstag

aus vorgänge 101, Heft 5/1989,S.13-19

Kaum war die Bundesrepublik vierzig Jahre alt geworden, gerieten die Republikaner in Verruf. Ein guter, ein Ehrenname, verbunden mit den Traditionen bürgerlicher Revolution, Aufklärung und Demokratie wurde gleichsam über Nacht usurpiert. Eine Partei von Rechtsaußen hatte sich eines Titels bemächtigt, der seit 200 Jahren für „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ bürgt. Soll er nun für Repression, Ungleichheit und Fremdenhass stehen?

Im 19. und dann im 20. Jahrhundert kündete die Selbstbezeichnung des Republikaners von einem anderen, freieren und demokratischen Deutschland. Menschen gingen unter der Fahne der Republik ins Gefängnis, nahmen Verfolgung, Exil und Tod auf sich, weil sie nicht dulden wollten, daß Knechtschaft und Willkür herrschte. Die Republikaner waren jene, die einem Weltbürgertum zum Durchbruch verhelfen wollte, das keine ethnischen Diskriminierungen mehr kannte. Einwanderung, Einbürgerung, Asyl waren in dieser Perspektive Selbstverständlichkeiten. – Soll das alles nach dem Auftreten einer Partei dieses Namens nicht mehr gelten?

Einen Vorzug wider Willen birgt das Verwirrspiel der Begriffe. Es zwingt uns, den republikanischen Charakter dieser Staatsordnung erneut zu überprüfen. Wenn wir von der Bundesrepublik reden, werden dann Assoziationen von nationalistischer Überheblichkeit, Geltungsbedürfnis, Rechthaberei obrigkeitsstaatlichem Denken, geistiger Selbstgenügsamkeit oder Fremdenfeindlichkeit freigesetzt? Wenn dies der Fall ist – und ich glaube, es ist so -, dann sollten wir den selbsternannten „Republikanern“ in einem dankbar sein: daß sie eine Überprüfung republikanischer Normen – keine Gesinnungsprüfung, wohlgemerkt – provoziert haben. Denn darin sind wir uns ja wohl einig – Republikaner, das sind wir alle. Was aber setzt das für Maßstäbe im Umgang mit den erneut sich formierenden Kräften von Rechtsaußen – den REPs (wie man sie zur Unterscheidung nennen sollte), der ,Deutschen Volks-Union“ (DVU), der altbekannten NPD oder dem rechtsradikalen bis neofaschistischen Umfeld?

Seit Anbeginn dieser Republik hat sich ein Deutungsmuster etabliert, das beansprucht, die schlechthin verbindliche Form des Umgangs mit dissentierenden Kräften zu begründen. Nennen wir es den Mythos der Mitte. Dieser Mythos speist sich aus der selbstbewußten These, es seien die Extremisten von rechts und links gewesen, die in der Spätphase von Weimar die demokratische Mitte zerrieben hätten. Das „Nie wieder“ der dann so genannten „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ fand seinen Ausdruck in der „wehrhaften Demokratie“ und ihrer Parole „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit“. Über 40 Jahre hinweg suchte man mittels Verfolgung und Verbot jeder Art von „Anfängen“ zu wehren, wann immer sich Kräfte jenseits der staatserhaltenden Mitte etablieren wollten. Der Schönheitsfehler einer angeblichen „Mitte“-Äquilibristik, die sich immer der Linken gegenüber als besonders abwehrbereit profilierte, wurde mit doppelter Integrationsbereitschaft gegenüber dem sogenannten rechten Rand kaschiert. So blieb das Rechtspotential, trotz wiederholter Ausbruchsversuche, in den Bürgerblock eingebunden. Die Politik der „rechten Mitte“ versorgte diese Klientel mit. Sie tat dies so engagiert, daß die vormaligen Randwähler im Sprachgebrauch von Unionspolitikern inzwischen zu Stammwählern befördert worden sind.

Da fragt man sich schon, wer eigentlich der Union den vielzitierten „Integrationsauftrag“ nach Rechtsaußen erteilt hat? War neben nobler Staatsgesinnung nicht auch eine Selbstverpflichtung im Spiel, die aus verwandtem Geist entsprang? Und wer eigentlich – außer den Mythenhütern der Mitte – hat festgelegt, daß es so etwas wie eine „demokratisch legitimierte Rechtspartei“ außerhalb der Union nicht geben dürfte?

Nun sind sie da, die autonomen Rechtsparteien. Nach der Europawahl ist unübersehbar, daß es sich bei diesem Trend nicht um momentane oder lokal gebundene „Abweichungen“ von einem angeblich normalen Wählerverhalten handelt. Die offizielle Reaktion glich zunächst jener von ertappten Dieben – keiner wollte es gewesen sein. Inzwischen ist eine Debatte entstanden, die den Mythos der Mitte wieder aufpolieren möchte.

Die gute alte Parole von der Mitte, die gegen die „Radikalen“ und damit für „Wohlstand“ steht, ist wieder da. Und damit das Bild auch ja stimme, müssen die „Grünen“ mit dran glauben, während die SPD in den Verdacht der Extremisten-Begünstigung gerät. Daß die „Grünen“ seit Jahren in Kommunal- und Landesparlamenten vertreten sind, über demokratische Legitimation verfügen, daß man ihnen allenthalben fruchtbare Anstöße zugute schreibt und sie – horribile dictu – bisweilen auch mit CDU-Fraktionen paktieren – das alles stört die Mythenhüter wenig. Nachdenkliche Konservative wie Kurt Biedenkopf oder auch Rüdiger Altmann haben freilich genauer hingesehen. Die „Beschwörung der Mitte allein ist kein Programm“, gab Biedenkopf zu Protokoll. Die Zeiten, in der die Berufung auf die „Mitte“ automatisch Mehrheiten sicherte, seien endgültig vorbei. Und je mehr man an den alten Formeln festhalte, desto eher gleiche die Mitte einem „leeren Gesicht“ (so Michael Krüger), in das ein jeder hineindeuten könne, was er wolle. „Wischi-Waschi-Mitte“, nennt das REPChef Franz Schönhuber und verleiht der Analyse eines von Auszehrung gezeichneten Konsensmodells gleich noch die demagogische Spitze.

Ein Blick auf die Wählerpotentiale der alt-neuen Rechtsparteien bestätigt den gegen die „Mitte“ gerichteten Befund. Bis zu zwei Dritteln der REP-Wählerschaft kommen aus den Unionsparteien, über 10 Prozent aus der anderen Volkspartei der (linken) Mitte. Da spielen Proteststimmen, „Denkzettel“, eine große Rolle, die mit Krisenerfahrungen, Abstiegsängsten und Politikverdrossenheit motiviert sind. Der unverhältnismäßig hohe Anteil von Jungwählerstimmen am rechtsextremen Potential signalisiert freilich eine Tiefendimension von Einstellungsveränderungen, die über das naheliegende Schema eines kurzatmigen Sozialprotests hinausweisen. Diese Erstwähler, so Claus Leggewie in seinem gerade erschienenen Buch über die REPs, „haben nicht mehr das klassische Drei-Parteien-System verinnerlicht; sie haben keine Scheu mehr, auch eine authentische Rechtspartei … für ,in Ordnung‘ zu halten … Auf paradoxe Weise brechen sie das Extremismus Tabu …; eine Scheinalternative in der Alternativlosigkeit der Volksparteien.“

So sind es offenbar nicht die „Ränder“, die sich unheilverkündend der „Mitte“ zu bemächtigen drohen; es sind nicht die „Grauzonen“, in denen eine Neurechte Nachwuchsklientel von sogenannten „Rattenfängern“ angeworben und indoktriniert wird. Was da geschieht, ist zunächst einmal nichts anderes als die Freisetzung des von der staatserhaltenden Mitte selbst herangezogenen Extremismus.

Wo aber im Reich der Mitte klafft der Spalt, aus dem der Rechtsextremismus hervordrängt? Unternimmt man eine Besichtigung dieses metaphorischen Ortes, so wird eine zerklüftete Topographie sichtbar. Ein Urgestein voller tektonischer Verwerfungen zeigt sich, das die Bundesrepublik untergründig mit Deutschland verbindet. Und aus dieser Spannung brechen dann Eruptionen im Weichbild der politischen Landschaft hervor, die in merkwürdigem Kontrast zu der so anheimelnden Flur zu stehen scheinen. Aber genug der Bilder; beginnen wir mit einigen Probebohrungen.

Ein tiefgehender Zwiespalt zieht sich durch die ganze bundesdeutsche Staatsideologie, der immer aufs Neue zur Wiederherstellung von Vergangenheit einlädt. Denn dieser nachfaschistische Staat, der das Gegenteil seines national-sozialistischen Vorgängers sein will, reiht sich andererseits durch den Anspruch auf Identität oder Teilidentität mit dem „Reich“ in eine zutiefst fragwürdige Kontinuität ein. Die Zweiteilung der Vergangenheit – eine gute, eine schlechte -, die Differenzierung und Relativierung des NS-Systems, eines angeblich normalen und eines verbrecherischen Weltkrieges – alle diese Aufspaltungen samt ihrer folgenreichen Schuldprojektionen und Geschichtsrevisionen entspringen diesem Kontinuitätskonstrukt. – Was soll da gelten?

Eine noch immer Lagerübergreifende Politik des Wiedervereinigungsvorbehalts suggeriert auch dort, wo sie sich in konföderative Gewänder hüllt, es könne doch so etwa wie eine Germania reconstituta geben. Zugleich weiß aber ein jeder, daß eine solche Zusammenballung von Macht der europäischen Staatengemeinschaft härteste Belastungen auferlegen würde und der Konsens mit den Nachbarn deshalb weder absehbar noch das ganze Projekt überhaupt wünschbar ist. Die Tabu-Hüter der „Mitte“ aber weigern sich, diesen Zwiespalt aufzulösen. Im Gegenteil, er wird gepflegt: Schon lange war nicht mehr so engagiert davon die Rede, die „Wunde Deutschland“ offenzuhalten. – Kann da der Wunsch nach einem Wunderheiler überraschen?

Selbst das Paradepferd der „Mitte“, der Anspruch, die Westbindung unwiderruflich vollzogen zu haben, lahmt auf einem Bein. Immer war die Orientierung auf den Westen machtpolitisch auf das Ziel der Souveränitätsmaximierung fixiert und damit halbiert. In Sachen bürgerlicher Aufklärung, radikaler Demokratie, unteilbarer republikanischer Rechte blieb ein „geistiger Westwall“ (Helmut Ridder) erhalten. Inzwischen, da die Bundesrepublik wieder bei Kräften ist, während man die Weltmächte im „decline“ wähnt, bahnen sich innerkontinentale Verschiebungen an. Der vorerst nur rhetorische Marsch von der angeblich so besonderen „geopolitischen Lage“ zur ;,Mitte Europas“, der allerorten und bis hin zum Bundespräsidenten beschritten wird, läßt zumindest die Frage aufkeimen, wie „westlich“ die Bundesrepublik denn künftig sein soll. Das schafft freie Bahn für die Wiederbelebung der alten Antinomien wie „deutsche Kultur“ kontra „westliche Zivilisation“, deren gemeinsamer Nenner allemal ein „Sonderbewusstsein“ ist.

Selbst jene, die verbiestert verlangen, daß „Deutschland deutsch bleiben“ soll, können sich mit gutem Recht auf Traditionsbestände berufen, die bis in das Grundgesetz hineinreichen. Dort nämlich wird mit einem Begriff der Staatsangehörigkeit operiert, der schlicht völkische Wurzeln hat. Eine nebulöse „Volkszugehörigkeit“ gilt in Artikel 116 des Grundgesetzes als Quelle staatsbürgerlicher Rechte. Das ist vielleicht erklärlich aus dem provisorischen Charakter des Verfassungsaktes von 1949; heute aber droht sich dieser Sprengsatz zu entzünden. Die Verlängerung dieses strukturellen Zwiespalts ist der aktuelle Widerspruch zwischen der bekenntnishaften Formel „Wir sind kein Einwanderungsland“ und der tagtäglichen Erfahrung, daß dies alles ganz anders ist. Im Widerstreit von Gefühl, Interesse und Ressentiment steht der Weg zur völkischen Regression jedenfalls offen.

Die spät errungene Demokratie verkündet Volkssouveränität – um sie freilich parteienstaatlich-staatsparteilich anzuleinen, antiplebiszitär zu dämpfen, mittels der 5-Prozent-Klausel zu bevormunden und mit dem als Ersatzsouverän amtierenden Bundesverfassungsgericht spät-konstitutionell zu begrenzen. Ein gewiß effektives und flexibles System, das den Alpdruck nationalsozialistischer Exzesse mittels „Ausgewogenheit“, „Verhältnismäßigkeit“ und „Übermaßverbot“ zu bannen sucht. Der Preis ist indessen eine weitgehende Verstaatlichung, Verrechtlichung und Bürokratisierung des Politischen, das in unterschiedlicher Gestalt, je nach den historisch-politischen Konjunkturen antipluralistische und populistische Affekte hervorbringt. Und diese beruhen zum guten Teil auf nichts anderem als dem schlichten Interesse, auch einmal gehört zu werden.

Gekrönt wird das Harmoniemodell, das mit republikanischem Pluralismus sowenig gemein hat wie eine geschlossene Anstalt mit der vielzitierten „offenen Gesellschaft“, vom „Konsens der Demokraten“. Hier zeigt sich das Politikmonopol der „Mitte“ als „streitbare Demokratie“, die mit sicherheitsstaatlicher Totalerfassung, politischen Feinderklärungen und administrativen Zwängen gegen die Dissidenten der sonstigen politischen Vereinigungen zu Felde zieht. „Grauzone“, „Verdacht“, „Prävention“, „Sympathiesantensumpf“ sind die Leitvokabeln eines Ordnungsdenkens, das die Verteidigung von Verfassung und politischer Kultur noch immer als „Staatsschutz“ buchstabiert. Polizeiliche Ordnungshüter finden sich in der Rolle von Lückenbüßern wieder, in die Zange genommen zwischen dem politischen Anspruch auf Konfliktlösungen (dem sie misstrauen) und der ehernen Maxime des „nicht erpreßbaren“ Staates (deren Hohlheit sie erkennen). Endstation der ungestillten Harmoniesehnsüchte ist inzwischen die Option für die neuen Ordnungskräfte von Rechtsaußen.

Ein ungebrochener Fortschritts- oder neuerdings: Modernisierungsoptimismus trägt dazu bei, ein Politikmodell zu verewigen, das sich auf symbolische Handlungen, kulturelle Dämpfungen und die Verwaltung anwachsender Großgefahren beschränkt; ein Politikmodell, dessen Grenznutzen an öffentlicher Glaubwürdigkeit freilich längst erreicht ist, und dessen pyrrhusgleichen „Erfolge“ in der Maximierung des Mißerfolges bestehen. Sicherheitserwartungen, die routiniert geweckt werden, erfahren ihr Dementi auf dem Fuße, ein Zirkel, der tiefe Breschen in das Gefüge institutioneller wie moralischer Verbindlichkeiten schlägt: New Age- Zeiten, in denen „neues Denken“ in einfachen Lösungen gesucht wird, denn wo nichts mehr zu gehen scheint, wird alles wieder möglich.

Eine ungerechte, überzogene Bilanz? Vielleicht. Erkennbar bleibt jedoch, daß die Ideologie der „Mitte“ in das etablierte Politikmodell Zwiespältigkeit eingeschrieben hat und zugleich den Wählern eindeutige Loyalitäten abverlangt. Der Preis dieses bisher ja recht erfolgreichen Modells sind periodisch sich zuspitzende Überforderungskrisen, sein Muster eine Entpolitisierung, in der Interessenartikulationen verkümmern und gegebenenfalls populistisch aufgeladen werden.

Der rechtsextreme Diskurs speist sich aus eben diesen hausgemachten Konsensbrüchen. Deshalb liegt der strategische Ort republikanischer Gegenwehr gerade hier, in der „Mitte“ und nicht in erster Linie am rechten Rand. Dieser Zusammenhang ist schon einmal mit Präzision und einer damals wohl unabsehbaren Pointe konstatiert worden. „Der Feind steht in unserem Staate heute weder links noch rechts, sondern in der Mitte“, hieß es in einer der Reden des Bonner Notstandskongresses im Jahre 1965. Er stehe, fuhr der Redner fort, „bei jenen halben Demokraten und halben Autokraten, von denen man jedenfalls in einer künftigen innen- oder außenpolitischen Krise eines nicht erwarten kann: daß sie die Errungenschaften unserer freiheitlichen rechts- und sozialstaatlichen Demokratie aus Überzeugung und mit Entschlossenheit verteidigen.“ Die Verabschiedung der Notstandsgesetze gab solcher Skepsis Nahrung, und das Paket der sogenannten Sicherheits- und Sondergesetze des Deutschen Herbstes der endsiebziger Jahre fügte eine weitere Bestätigung hinzu. Inzwischen aber war der Redner von damals als Mann der Mitte sein eigener Kronzeuge geworden: Werner Maihofer, der als Innenminister für die Terroristenhatz verantwortlich zeichnete.

Aber halten wir ein, denn nun interveniert der traditionelle Antifaschismus. Man vermißt Reizworte, Pardon: Schlüsselbegriffe, gewohnte Formeln, historische Bezüge. In der Tat, von „Antifaschismus“ war bisher nicht die Rede (und es wäre zu fragen, ob dies die Problematik harmloser macht); vom Fortleben nationalsozialistischer Traditionsbestände, vom Wirken der „Ewiggestrigen“ wurde nicht gesprochen; das Kennwort „Neofaschismus“ blieb bewußt aus-gespart. – Ein Zerrbild also, eine Verzeichnung der realen Rutschgefahren nach rechts? Wohl nicht. Pointiert zusammengefaßt ergibt sich der folgende Befund:

  1. Der Vormarsch autonomer Rechtsaußenparteien und die Ansprache einschlägiger autoritärer Potentiale ist ein hausgemachtes Produkt aus dieser „unserer Mitte“.

  2. Träger dieses Prozesses ist eine neue Rechte, die wohl auf „alte Kämpfer“ zurückgreift, im allgemeinen aber den Generationssprung in die Nachkriegszeit vollzogen hat. Das spiegelt sich eindeutig und besorgniserregend in ihrer überwiegend jungen Anhängerschaft.

  3. Das Signum des „Neofaschismus“ auf alle diese Gruppierungen pauschal anzuwenden, scheint wenig angemessen. Es sollte vermieden werden, das neue Phänomen eines genuin bundesdeutschen Rechtsextremismus auf den -zweifelsfrei vorhandenen – Kern tradierter bzw. ,aktivierter NS-Motive zu reduzieren; der Produktionsprozeß rechts abweichenden Verhaltens aus den defizitären Regeln bundesdeutscher Normalität bliebe dann schlechthin unbegriffen, auf historische Analogien verkürzt oder aber verschwörungstheoretisch reduziert.

  4. Es wird nicht ausreichen, die Motive des neu-rechten Potentials auf soziale Verelendung, Abstiegsängste und Statusverluste einzuengen. Der Aufstieg der extremistischen Gruppierungen signalisiert tektonische Verschiebungen im gesamten politischen System.

  5. Dieses politische System befindet sich auf dem Weg zu einer paradoxen und prekären „Normalität“. „Der Aufstieg der REPs“, schreibt der Heidelberger Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik, „beweist zunächst lediglich, daß die Bundesrepublik keinen Sonderweg mehr geht, sondern auf europäisches Normalniveau eingeschwenkt ist.“ Mit wachsender Distanz zum Nationalsozialismus „schwindet auch die Desavouierung des Rechtsextremismus und seine Einbindung in den honorigen Konservatismus.“

  6. „So ungeheuerlich es klingen mag“, schließt Brumlik: „In Zukunft wird es nicht mehr zureichen, sich mit dem Rechtsextremismus nur durch den Hinweis auf Auschwitz auseinander zusetzen“

Die neuen Wirklichkeiten einer inzwischen vierzigjährigen Republik stellen auch die antifaschistischen Traditionen vor neue Probleme. Da regiert noch überwiegend das Pathos altbackener Appelle wie „Nazis raus“, den „Anfängen wehren“ oder der trotzig-ohnmächtige Mahnruf vom Schoß, der immer noch fruchtbar ist. Solche Formeln wirken immer anachronistischer, je mehr sich die Neue Rechte und ihre Klientel von vordergründigen NS-Bezügen freimacht. Die Beschwörung der NS-Vergangenheit vermag zusehens weniger handlungsrelevante Verbindlichkeiten zu erzeugen. Der Ruf nach Verbotsforderungen, nach Verfassungsschutz, Postzensur oder gar Berufsverboten wird laut, um in eine bisweilen geradezu groteske Konkurrenz zu den eingefahrenen Mechanismen obrigkeitsstaatlicher Radikalenhatz zu treten. Zu beobachten ist ein problematisches Wechselspiel von Kriminalisierung und Moralisierung politischen Verhaltens, das mit republikanischen Idealen wenig gemein hat.

Es ist schon verblüffend: Während Alltagskriminalität oder Übergriffe der Szene gern mittels sozialer oder psychologischer Motivsuche klein-gearbeitet werden, um der Kompetenz von Sozialarbeitern zu genügen, operiert man in Sachen Rechtsextremismus umgekehrt. Da wird mit Sanktionen gedroht und ein – durchaus fragwürdiges – Wahlverhalten moralisch indiziert, obwohl doch eigentlich klar sein sollte, daß auch dies von Interessen und Alltagssorgen geleitet ist, die Aufmerksamkeit verdienen – auch dort, wo unbequemer weise an Tabus gerührt wird, die Moralisierungen einer anderen Art in Frage stellen. Denn die negative Moralisierung rechtsextremer Voten verbindet sich zwanglos mit positiven Moralisierungen, etwa in Gestalt demonstrativer, aber politisch folgenloser „Ausländerfreundlichkeit“. Die notwendige Diskussion, wie eine demokratische Ausländer-, Asyl- und Aussiedlerpolitik denn formuliert werden soll, bleibt dabei allzu leicht auf der Strecke – oder erschöpft sich in bekenntnishaften Parolen wie jüngst auf der Bundesversammlung der „Grünen“. Politisch totzulaufen drohen sich antifaschistische Aktionen auch dort, wo sie im Zirkel von Aufmarsch und Gegenaufmarsch verharren. Die „Wachsamkeit“ kann dann zum Alibi folgenlosen Handelns degenerieren, oder aber den Scheinerfolg eines sich selbst verstärkenden Kreislaufs der Militanz erzeugen. Gerade in solchen Aktionszusammenhängen bleibt der Blick auf den „Rand“, die „Grauzone“ oder die Militanz fixiert, während das, worum es eigentlich zu gehen hat, unbesehen und unbehelligt bleibt: der ganz „normal“ und unauffällig erzeugte „Extremismus der Mitte“.

Äußert sich in dem allzu starren Festhalten an den gewohnten antifaschistischen Ritualen nicht auch eine tiefe Verunsicherung über die veränderten Realitäten einer neuen Unübersichtlichkeit, der man durch die Bekräftigung der gewohnten Frontverläufe entkommen möchte? Wenn wir doch alle Republikaner sind – macht uns das etwa wehrlos? Dieser Argwohn scheint jedenfalls die Verfassungsschützer der „Mitte“ ebenso umzutreiben wie manche Traditionsantifaschisten. Aber kann die Reformulierung antifaschistischer Normen anderen als republikanischen Maßstäben unterliegen?

Zu beginnen ist mit einem vielleicht unpopulären Votum gegen Verbote, Sanktionen oder rechtliche Diskriminierungen. Das gern verwendete Schlagwort – und es ist wirklich eines! – „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit!“ besagt doch nichts anderes als: „Keine demokratische Gesetzlichkeit für die zu Feinden der Freiheit Erklärten!“ Sollte also Unfreiheit das Korrelat republikanischer Freiheiten sein? – Ein fürwahr hintergründiger Appell an das sogenannte Gewaltmonopol des Staates. Doch in einer Republik ist der Staat nichts aus eigenem Recht, und Werturteile auszusprechen über das, was „normales“ und was „abweichendes“ politisches Verhalten sei, das steht ihm schon gar nicht zu. Die Gesellschaft, d.h. die verschiedenen politischen Subjekte, rettet „kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun“ – und eine angeblich „antifaschistische Wertordnung“ des Grundgesetzes auch nicht.

Keiner kann der Gesellschaft in einer Republik die Arbeit abnehmen, ihre Meinungs- und Interessenkämpfe selbst auszufechten. Die Verfassungsgarantien erstrecken sich auf die Institutionalisierungen dieses öffentlichen Prozesses, nicht auf die von den streitenden Parteien verkündeten Ziele, mögen sie auch noch so unappetitlich sein. So können sich Sanktionen, wo sie denn sein müssen, nur gegen widerrechtliche Mittel wenden, die – etwa mittels Gewalt – die verfassungsrechtlichen Verfahren öffentlicher Herrschaft sabotieren, nicht aber gegen Meinungen und Motive. Andernfalls wäre der Schritt zur Politischen oder Gesinnungsjustiz, nun in „antifaschistischem Gewande“, nicht mehr weit. Ganz unfreiwillig würde dann der Rechtsextremismus zum Legitimationskitt eines erneuerten „Reiches der Mitte“ werden, dessen aus Demokratieresistenz geborenen Zwiespältigkeiten jedoch weiterhin versiegelt blieben.

Es blieb die republikanische Pflicht zur politischen Auseinandersetzung, an deren Ende sowohl die Zurückdrängung des Rechtsextremismus wie die Erneuerung republikanischer Identität zu stehen hätte.

Notwendig ist eine Sozial- und Gesellschaftspolitik, die eine Aneignung – oder gar Wiederaneignung – der eigenen Lebensbedingungen unterstützt, eine Politik, an der sich der postindustrielle Modernisierungsradikalismus bricht. Von gleichrangiger Bedeutung aber ist die Erfahrbarkeit und Praktizierbarkeit republikanischer Normen, ihre Eindeutigkeit und damit die Absage an alle jene Doppelbödigkeiten, die in den Konsens der Mitte eingeschrieben sind. Schließlich wird es darum gehen, das, was man den „antifaschistischen Konsens“ nennt, zu entmythologisieren und historisieren und damit erst zu erneuern und veralltäglichen. Das betrifft sowohl eine unpathetische, nicht moralisierende – obgleich natürlich bewertende – Sicht der Vergangenheit wie den geschichtskundigen Blick auf die Untiefen einer so problematischen nachfaschistischen (und durchaus nicht präfaschistischen) „Normalität“. Die Ächtung rechtsextremistischen Verhaltens ist notwendig, in welcher Distanz zum Nationalsozialismus es sich auch immer wähnen mag. Aber wo solche Ächtung dauerhaft gelingt, da folgt sie zu aller erst aus der gegenwartsgeborenen Überzeugung, daß es auch diese Republik nicht ohne Republikaner geben kann.

„Weder dem Vergangenen anheimfallen noch dem Zukünftigen“, lautet das von Karl Jaspers übernommene Motto zu Hannah Arendts großer Studie über die totalitäre Herrschaft: „Es kommt darauf an, ganz gegenwärtig zu sein“

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