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Betreff: Kosovo. Einlassung in eigener Sache

vorgängevorgänge 15509/2001Seite 395-408

Aus: vorgänge Nr.155( Heft 3/2001),S. 395-408

Vgl. Die Redaktion dokumentiert an dieser Stelle die Ausführungen des Berliner Politikwissenschaftlers Wolf-Dieter Narr, die dieser am 14.12.2000 vor der 74. Strafkammer des Landgerichts Berlin gehalten hat. Dort fand die Hauptverhandlung über die Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 23.3.2000 statt. Anlass war der so genannte Desertions-Aufruf verschiedenen Bürger- und Menschenrechtsgruppen während des Kosovo-Krieges. Unsere geringfügig gekürzte Dokumentation beruht auf der vom Autor angefertigten Schriftfassung seiner Ausführungen vor Gericht.
Sehr geehrter Herr Richter, sehr geehrte Frau Schöffin, sehr geehrter Herr Schöffe, sehr geehrter Herr Staatsanwalt, sehr geehrte und liebe Anwesende!
In meiner Einlassung in eigener Sache, zutreffender zur Frage, – ob Einsprüche und Aktionen gegen einen menschenrechtlich nicht rechtfertigbaren Krieg, rechtens, ja bürgerlich, andere Bürgerinnen dafür werbend, gefordert gewesen seien, oder – ob stattdessen zutreffe, wie Staatsanwaltschaft en bloc und einige Richterinnen bzw. Richter anklage- und urteilskräftig meinen, hier seien andere Menschen, Soldaten insbesondere „zu einer rechtswidrigen Tat” aufgefordert worden, indem sie an ihre Bürger- und Soldatenpflicht erinnert worden sind, sich grundgesetzgemäß zu verhalten, will ich folgendermaßen verfahren:
Ich werde zuerst das in meiner, genauer in menschen- und völkerrechtlicher Sache – denn diese „Sache” ist es, die allemal menschlicher Vertretung bedarf, die angeklagt ist – ergangene erstinstanzliche Urteil Revue passieren lassen. Hierbei kommt es mir nicht primär auf eine Urteilsschelte an. Selbige wäre wohlfeil. Sie versteht sich ohne anders dirigierende Vorurteile schier von selbst. Ich will vielmehr, indem ich am Urteil und seinen Argumenten entlang streife, die strittige Sache in einigen Facetten erneut aufdecken. Hierzu ist es unerlässlich, dass ich die Urteilsgründe kritisch aufspieße. In diesem Zusammenhang qualifiziere ich das Wehrstrafrecht samt seines fahnenflüchtigen Paragraphen 16 menschenrechtlich demokratisch und im Sinne eines so begründeten Rechtsstaats (I).
In einem II. Kapitel meiner Einlassung werde ich den völkerrechtlich strittigen Sachverhalt des Krieges skizzenhaft herausarbeiten. Damit verbunden soll das strittige Völkerrecht apostrophiert werden samt dem, was m. E. allem Streit enthoben festzuhalten wäre, soll das Völkerrecht nicht zur bloßen Hure der Staaten und ihrer Mundschenke gemacht werden.
Sind so Sach- und Rechtsverhalt geklärt, soweit mir dies in einem insgesamt viel zu kurzen Vortrag möglich ist — eine ganze Bibliothek von Dokumenten und Büchern ist hier nicht aufzuhäufen —, will ich im III. Abschnitt meiner Einlassung auf die Judikatur zur strittigen Sache eingehen. Ich werde begründen, warum ich jenseits aller Polemik mit vielen Urteilen unzufrieden bin auch und gerade dort, wo Richterinnen und Richter die Angeklagten freigesprochen haben. Darum hoffe ich, das Gericht heute überzeugen zu können, nicht oberflächlich zu überreden, dass es zu einem anderen, jedenfalls einem anders begründeten Urteil kommen müss(t)e:

– wenn Sie, der Richter und Sie, die Schöffen, den – jedenfalls behaupteten – Sinn des deutschen   Strafverfahrens ernst nehmen;
– wenn Sie die Anklage und ihre Vertreter achten;
– wenn Sie vor allem den Angeklagten inmitten einer grundrechtlich-demokratisch bezogenen und    qualifizierten Verfassung, der des Grundgesetzes und ihres also zu handhabenden Rechtsstaats    wahrnehmen.

Wenige summierende Bemerkungen werden meine Einlassung abschließen, nicht abrunden.

I. Zum Urteil des Amtsge­richts Tiergarten vom 23.3.2000 zuerst vorgetragen und später schriftlich verfasst von der Amtsrich­terin, Frau Miller

Zunächst zu den Urteilsgründen. Zum ersten Grund: Dazu ist nichts weiteres zu bemerken. Ich möchte nur eine Kennzeichnung meiner Person einem möglichen Missverständnis entrücken. Ich werde zutreffend ein „überzeugter Pazifist” genannt. Diese Charakterisierung könnte so verstanden werden, als sei Pazifismus für mich, der „-ismus” legt solches sprachlich nahe, eine Art Glaubensangelegenheit. Das ist nicht der Fall. So hoch ich die Zeugen Jehovas wegen ihres Verhaltens beispielsweise in der NS-Zeit und im Umkreis ihrer totalen Kriegsdienstverweigerung achte, so wenig kann und will ich die religiöse Begründung ihres Verhaltens für mich in Anspruch nehmen. Ich bin Pazifist in und aus meiner Eigenschaft als sozialwissenschaftlicher: Hochschullehrer. Ich bin kein gelernter Pazifist. Ich bin erst im Lauf meines Lebens zu einem solchen geworden. Als 16 Jähriger beispielsweise habe ich der Wiederaufrüstung anlässlich einer Schülerbefragung noch zugestimmt. Als 19-jähriger hätte ich mich einer Truppe von Freiwilligen angeschlossen, um Imre Nagy und seine Reformen gegen die sowjetischen Panzer zu retten. Hätte es denn eine solche Truppe gegeben.
Heute bin ich davon überzeugt, dass Kriege nicht nur aktuell schlimm sind und entsetzliche Kosten entbergen. Kriege kosten schon Ungeheuerliches in Form der permanenten Kriegsvorbereitung, dem Kriegsvorbereitetsein. Auch in Habitus und Bewusstsein. Man denke nur an all die Rüstungen und an die verniedlichend Waffenhandel genannte globale Ökonomie unter hervorragender Beteiligung der etablierten westlichen Demokratien, die Bundesrepublik Deutschland unter den händlerisch führenden. Man beachte das Denken in kriegerischen „Lösungen”. Dafür ist der letzte NATO-Krieg ein sprechendes Exempel. Im Sinne der pervers gekehrten Clausewitz’schen Formulierung – Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – wird politisches Handeln im militärischen aufgehoben. Das zeigt die Art der Kriegszuspitzung spätestens seit Herbst 1998.

Nicht gerade wie eine Nebensache oder ein legitimatorisch wohlfeil zuhandenes Etikett kommt hinzu, dass Menschenrechte keine Handlungsorientierung und Handlungsrechtfertigung darstellen, die man wie einen Fiaker in Wien gebrauchen dürfte. Man steigt am Schwedenplatz ein und in der Nähe des Burgtheaters wieder aus. Um im Café Landtmann einen Kaiserschmarrn zu verzehren.
Zu aller erst und zentral gilt Albert Schweitzers Grundnorm konstitutiv: „Ehrfurcht vor dem Leben”, samt dem damit gekoppelten Gewaltverbot. Anders sind Menschenrechte nicht. Gewiss: Normen, und seien sie noch so essentiell, reichen als solche nicht aus. Sonst blieben sie situativ abstrakt, obwohl sie, handelt es sich um menschenrechtlich substantielle Normen, höchst Konkretes für jeden einzelnen Menschen, für alle Menschen bedeuten. Und jede Situation kann veränderte Konsequenzen aus den Menschenrechten um ihres konkreten humanen Sinns willen bedeuten. Deshalb ist es erforderlich, in jeder Situation neu zu bedenken, welche Konsequenzen angesichts derselben menschenrechtstreu zu ziehen sind. Das ist ein Abwägungsprozess, der oft nur in Furcht und Zittern geschehen kann. Automatische Reflexe sind menschenrechtlich nicht möglich.
Das war auch am 24.3.1999 der Fall. Und in den Tagen und Wochen zuvor. Allerdings muss die Situationsanalyse extrem skrupulös betrieben werden. Die starke Vermutung spricht menschenrechtlich immer für die Gewaltfreiheit. Letzterer müsste im jeweiligen Fall einmalig-ausnahmsweise widersprochen werden, käme man zur verzweifelten Schlussfolgerung, kollektiver Gewalteinsatz sei singulär notwendig, um noch mehr Gewalt zu vermeiden. Auch dann wäre Wissen, das Gewissen nicht zu verleugnen, das urteilsklares, vorstellungskräftiges Wissen meint, dass es menschenrechtlich nie und nimmer angeht, quantifizierend und qualifizierend Menschenleben mit Menschenleben additiv oder subtraktiv aufzurechnen (und nota bene: auch Soldaten sind Menschen – die Haager Landkriegsordnung ist nicht auf dem Fundament und unter dem Horizont der Menschenrechte Staatsrecht geworden!).
Am 24. März 1999 konnte und musste jedoch jeder/jedem genauer Hinsehenden der menschenrechtliche Unrechtscharakter des NATO-Krieges klar, ja eindeutig sein. Für alle, die ihren eigenen Verstand ernst nehmen und den Kant’schen Mut haben, sich seiner zu bedienen, verstand sich außerdem geradezu von selbst (und versteht sich noch): Misstrauen gegen den menschenrechtlichen („humanitären“) goodspeak der stärksten Militär- und Wirtschaftsmächte der Welt gehört zur ersten Bürgerpflicht. Demokratie und Menschenrechte sind keine Sache der blauen Augen und des blinden Vertrauens, sondern des analytischen Blicks und des guten Gedächtnisses.

Zum zweiten Grund: Ich stehe zu unserem Desertions-Aufruf vom April 1999, dem corpus criminandi, ohne Wenn und Aber. Ich würde denselben in vergleichbarer Situation erneut schreiben und unterschreiben. Ich würde allein durch Zusatzaktionen ungleich mehr dafür sorgen, dass er möglichst flächendeckend und viele Personen erreichend verbreitet werde. Hierbei würde ich insbesondere den letzten Satz des vorletzten Absatzes aus dem Aufruf besonders markieren: „Gemäß unserem Verständnis der Menschenwürde trägt jeder die Verantwortung für seine Entscheidung selbst.” Gleicherweise unterstriche ich den letzten Satz: „Deserteure und Kriegsdienstverweigerer jedoch sind Friedensboten.”
Zum dritten Grund: Meine eigenen Aussagen anlässlich des ersten Prozesses sind zu modifizieren, soweit diese im Begründungstext des Urteils wiedergegeben werden. Ich habe selbst insoweit den Aufruf verbreitet, als ich dessen weitere Verbreitung gewünscht und gefordert habe. Allein aus Zeitgründen war ich nicht in der Lage, Desertions-Aufruf-Boten zu spielen. Das, was Hermann Theisen, mein Doktorand, dazu getan hat, den Aufruf weiter adressatengenauer zu verbreiten, billig(t)e ich vorbehaltlos. Der aus meiner seiner zeitigen Einlassung zitierte Satz gilt heute unverändert. Ich werde darauf zurückkommen: „Er (also ich, WDN) verlange, freigesprochen zu werden, und zwar nicht deshalb, weil er von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht habe, sondern weil die Angriffe völkerrechtswidrig gewesen seien.”

Zum vierten Grund: Ich hätte mich schuldig gemacht im Sinne der § 111 Abs. 1 und 2, 25 Abs.2 StGB, der Verführung zu rechtswidrigen Taten, nämlich zur Fahnenflucht. Ich verzichte darauf, die einschlägigen Strafrechtsparagraphen zu kritisieren. Eine solche bürgerrechtliche Kritik wäre längst angezeigt. Beide Paragraphen zeichnen sich durch ihren unpräzisen Umfang (Geltungscharakter) und eine Beliebigkeit aus, die geradezu so etwas wie Kontaktschuld kreieren lässt. Die gelernten Juristen mögen diese Bemerkung dem gelernten Rechtssoziologen nachsehen. Darauf, dass die § 111 und 25 Abs.2 StGB in meiner, in unserer, in der Menschenrechts- und Friedenssache ohne Grund sind, komme ich noch zurück. Wenn diese Paragraphen auf keinem Grund halt finden, wenn vielmehr gezeigt werden kann, dass andere und ich aus völker-, menschen- und grundrechtlichen Gründen zu Recht an Soldaten herangetreten sind, um sie anzuregen, sich zu verweigern, entfällt auch die Anknüpfungstat, nämlich der Aufruf zur Desertion.
Wir behaupteten und behaupten, unser Aufruf sei grundgesetzkonform gewesen. Wir wollten die Soldaten davon überzeugen, statt handelnd einer regierungsamtlich befohlenen Desertion vom Grundgesetz zu folgen, also konformistisch mitkriegend an einer Grundgesetzflucht teilzunehmen, das allein grundgesetzkonforme Gegenteil zu tun.

Nämlich, sich dem qua Befehl aufgenötigten kollektiven Gehorsam zu entziehen, wie es jedem Bürger in Uniform als seiner ersten Pflicht geziemt. Nicht Befehlsempfänger-Gehorsam, so Helmut Gollwitzer einmal über das Verhalten der meisten Deutschen im Zuge des „Dritten Reiches”, der Soldaten zumal, Grundgesetzgehorsam war und ist es, was wir bei uns und anderen, den Soldaten in diesem Falle zuerst, anmahn(t)en.

Wenn mein menschenrechtlich-völkerrechtlich begründetes Rechtsstaatsverständnis zutrifft, dann war die Aufforderung zur „Fahnenflucht” richtig, ja geboten. Gleicherweise wäre die praktizierte „Fahnenflucht” richtig und geboten gewesen. Staatsanwaltschaft und verurteilende Gerichte – samt der in der Kommentarliteratur erkennbaren „hM” – arbeiten nun lebensfremd und der Situation unangemessen mit einer höchst fragwürdigen Unterscheidung. Sie konzedieren dem Wehrstrafgesetz gemäß (§§ 20 und 22) die Möglichkeit einer bedingten Gehorsamsverweigerung des Soldaten. Die sog. Fahnenflucht gemäß WStG heben sie jedoch auf die Empore eines geradezu absoluten Straftatbestands. Der  Straftatbestand des § 15 WStG, als da lautet: „Eigenmächtige Abwesenheit”, wird dem einschlägigen Kurzkommentar von Schölz/Lingens gemäß intensiviert, ja absolutiert. Die Kommentatoren unterscheiden hierbei zwischen einer subjektiven Seite – die da bedeutet: „schwerste Verletzung der Pflicht des Soldaten” – und einer „objektiven”, die Fahnenflucht vollends zum „reinen Vorsatzdelikt” macht: dass nämlich das „objektiv geschützte Rechtsgut”, sprich „die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr” infrage gestellt werde.
Abgesehen davon, dass im Unterschied zu dem von den Kommentatoren (der Staatsanwaltschaft und den fahnenfluchtfesten Gerichten) angenommenen Willen des Soldaten, allgemein „aufhören” zu wollen „Soldat zu sein”, unser Aufruf zur Desertion – und seine mögliche Folgeleistung durch Soldaten – sich nur auf einen bestimmten Krieg zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem bestimmten Zweck bezieht, gerät der in verschiedenen Funktionen versammelten „hM” die Differenz zwischen „subjektiven” und „objektiven” Verletzungen verräterisch. Unter „subjektiv” wird allein ein „innerer Vorgang beim Täter” verstanden – nota bene in typisch deutscher Tradition einer Gesinnungsmoral allein im Séparée des abgedunkelten Innenraums einer Person. Dass Menschen, Soldaten beispielsweise, infolge politisch grundgesetzlicher Einsicht und menschenrechtlicher Urteilskraft einen Beschluss der Art, an diesem unrechten Krieg nehme ich nicht teil, fassen könnten, ist nicht vorgesehen. Noch verräterischer ist das Verständnis unerschütterlicher, also mit fester Fahne beflaggter Objektivität. Das verletzungsempfindliche Objekt ist nicht die Verfassung des Grundgesetzes insgesamt. Verletzungsempfindlich ist exklusiv die Totalität der Truppe als soldatisch gültige Ersatzverfassung.

Wie die so genannte Fahnenflucht die äußerste Straftat gegen eine militärische Dienstpflicht darstellt und deswegen „mit aller Härte des Gesetzes” bestraft wird, wird auch die mögliche „Anstiftung” dazu schon sanktionskräftig traktiert. Dem schon zitierten Kommentatorenpaar gemäß ist „Versuchte Anstiftung” „nur bei Verbrechen strafbar.” Ein solches unfragliches Verbrechen aber stellt die Fahnenflucht dar. Widerrede ausgeschlossen. Also ist zu bestrafen.
Wie das gesamte Wehrstrafgesetz, so atmet insbesondere sein fahnenflüchtiger § 16 den Geist einer auch noch anderwärts kräftig riechenden und wirksamen schlimmen deutschen Tradition. An die Wehrmachtausstellung und ihre im Kern stimmige Aussage – die unterlaufenen Fehler sind gerade darum sehr zu bedauern und kaum zu entschuldigen – will ich gar nicht besonders erinnern. Der Großteil der im Wehrstrafgesetz und im Soldatengesetz (mitsamt den diversen Konnexgesetzen) vor 1945 geprägten Form, die in der Bundesrepublik weiterentwickelt worden ist, hat mit dem Konzept „Bürger in Uniform”, hat mit einer Wehrmacht, wenn sie denn sein muss, als selbst Menschenrechten und Demokratie verpflichteter Institution in einer Demokratie wenig zu tun, in der Menschenrechte und Völkerrecht unmittelbar gelten (vgl. Art.l Abs.3 GG und Art.25 und 26 GG). Die Kommentatoren greifen deshalb ohne Scheu auf frühere Wehrstrafgesetze und deren Auslegung zurück, um die heute gültigen Paragraphen „angemessen” auszulegen. Vor allem den § 16 WStG. Und also tut es die Staatsanwaltschaft hier und heute. Als gelte das geflügelte Wort des „Verwaltungs“-Mayer im Vorwort zur Neuausgabe seiner Standardeinführung ins Verwaltungsrecht nach dem 1. Weltkrieg analog. Verfassungsrechte vergehen, Wehrstrafgesetze (und das in ihnen geborgene Soldatenverständnis) bleiben bestehen. Und also verfuhren auch die Amtsgerichte in meinem und in anderen Fällen.
Ungeheuerlich ist hierbei zuerst das vordemokratische ,Soldatenbild`. Ungeheuerlich ist zum zweiten die Vorstellung von der Bundeswehr als einer kollektiven, auf sich selbst bezogenen Gehorsamsphalanx. Ungeheuerlich ist erst an dritter Stelle der abgeleitete Gehorsam, zu dem gewöhnliche Bürger wie wir verpflichtet werden. Wehe, wenn wir der Sonder – und Überorganisation, genannt Bundeswehr in unserem Verhalten, in diesem Fall einem angeblich fehl platzierten und fehl adressierten Aufruf nicht gerecht werden. Hinzu kommt als grundrechtliches Ärgernis im Ärgernis, wie mit Hilfe des Symbols „Fahne” und des Antisymbols und Verhaltens „Fahnenflucht” Gehorsam unterhalb aller eigenen Vernunft „eingeseelt” und kopflose Identifikation mit der Truppe gleichsam automatisiert werden sollen. Diese kopflose, alles eigene Nachdenken ersparende Identifikation soll just mit einem Symbol eingeübt, ja erzwungen werden, das geradezu emphatisch alle bürgerlich demokratische Vernunft zugunsten der nationalstaatlichen Gedankenlosigkeit hat ausverkaufen lassen. Wie ungebrochen andere Länder immer national staatliche Symbole, allemal problematisch, einsetzen mögen, die deutsche Geschichte, nicht nur, aber vor allem die zwölf Jahre Nationalsozialismus und gemindert auch die vierzig Jahre DDR, lassen einen solchen Missbrauch anlockender Symbole nicht mehr zu. Oder derselbe verrät die Spannungen, in denen sich seine (Miss-)Braucher zu Grundrechten und Demokratie befinden.
Wie kommt es nur, dass das Wehrstrafgesetz als ein Sonderrecht einer schwer kontrollierbaren, de jure und mehr noch de facto höchst dürftig kontrollierten Institution – des Militärs also -, deren Aktionsbegründungen informationell meist geheim erfolgen, ebenso wie deren wichtigste Entscheidungsverläufe, nicht einmal gründlich im Lichte liberaler Demokratie und ihres Rechtsstaates durch- und aufgeforstet worden ist. Meines Wissens hat noch kein Richter die Notwendigkeit empfunden, nicht de lege lata eines solchen Gesetzes und seines unmöglichen § 16 WStG zu entscheiden, sondern, sein Urteil einstweilen suspendierend, Karlsruhe anzurufen. Das ist, wenn ich so in Thomas-Mann’scher streitbarer Einfalt argumentieren darf, kein grundgesetzmäßiges Gesetz, vor allem ist der § 16 WStG kein grundgesetzlich akzeptabler Paragraph.
Die das Urteil fundierende Behauptung, weder das Recht auf Kriegsdienstverweigerung noch § 22 WStG erlaubten, dass sich ein Soldat von der Truppe entferne, belegt, mit Verlaub gesagt, dass die Amtsrichterin jenseits meiner allgemeinen Einwände wenig Ahnung vom Sozialverhalt einer Truppe und darüber hinaus einer Truppe mitten im Krieg hat. Dass Frau Miller es außerdem versäumt, die soldatische Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Grundgesetz auch nur zu erwähnen, mag angesichts der aufgezählten Mängel geradezu als eine lässliche Unterlassungssünde gewertet werden. Nur im Vorübergehen will ich eine andere unzureichende Feststellung des Urteils notieren. Auf Seite 8 desselben heißt es: „Der Angeklagte war und ist davon überzeugt, dass der Einsatz der Bundeswehr im Kosovo wegen des Verstoßes gegen das Gewaltverbot der UN-Charta und fehlende Ermächtigung zu militärischen Maßnahmen durch den UN-Sicherheitsrat völkerrechtswidrig war und gegen Art. 25 GG verstoßen habe.” Alle Grundgesetzartikel gegen die der Einsatz der Bundeswehr unmittelbar verstoßen hat – der mittelbare Verstoß machte einen Teilabdruck der Grundrechte und weiterer Grundgesetzartikel vonnöten –, haben es verdient, wenigstens erinnert zu werden. Art.26 Abs.l GG lautet: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.”

Im übrigen, meint Richterin Miller, könne „letztlich dahin stehen”, ob die von mir „vertretene Rechtsmeinung zur Völkerrechtswidrigkeit des Kosovo-Krieges” zutreffe oder nicht. Aus Art.5 GG (Meinungsfreiheit) folge nach entsprechender Güterabwägung, „dass der Aufruf zur Befehlsverweigerung aus Art.5 GG gerechtfertigt” sei. Diese Rechtfertigung allerdings nicht „für den Aufruf zur Fahnenflucht, weil Fahnenflucht (…) für keinen Soldaten die legale oder logische Konsequenz aus einer etwaigen Völkerrechtswidrigkeit – des Einsatzes hätte sein können und dürfen.”
Ich lasse an dieser Stelle außer acht, in welch rechts systematisch fataler Weise hier die Hierarchie der Normen verkehrt, Völkerrecht und Grundgesetz mit der kleinen, aber wirksamen Spezialnorm des § 16 WStG ausgehebelt werden. Ich konzentriere mich allein auf den richterlichen Missbrauch der ohne Frage zentralen grundrechtlichen Norm der Meinungsfreiheit. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit wird so umfunktioniert, dass die Gerichte sich mit den substanziellen und zugleich umstrittenen Rechtsproblemen nicht zu befassen brauchen, die die Anklage und das Handeln der Angeklagten motivierten. In der Tat – korrekter, in der Norm -, die Vermutung spricht allemal dafür, die Meinungsfreiheit weit zu fassen und sie nicht zu beschränken. Gerade weil jedoch Einschränkungen möglich sind, das hebt die Staatsanwaltschaft in ihren mir bis jetzt vorliegenden Revisionsbegründungen logisch schlüssig hervor, kommt es entscheidend darauf an, die Meinungen substantiell ernst zu nehmen und ihre Begründung zu wägen. Die Staatsanwaltschaft, ihrerseits inkonsequent, müsste sich also eben sowohl mit den völkerrechtlichen und grundgesetzlichen Pro- und Kontra-Argumenten in Sachen Kosovo-Krieg beschäftigen wie die Richter.

Oberstaatsanwalt Arnold von der Staatsanwaltschaft zu Berlin-Moabit geht in seiner Revisionsrechtfertigung vom 31.10.2000 noch einen Schritt weiter. In diesem argumentativen Schritt wird kund, in welchem Ausmaß die Staatsanwaltschaft schlicht und einfach – entgegen der institutionellen Vermutung der im grundrechtlichen Rechtsstaat eingebetteten Strafverfahren – als Staats-, ja mehr noch als Regierungsanwaltschaft agiert. Also gilt: the king, modernisiert: the government can do no wrong. „Die Angeklagten handelten auch schuldhaft”, so tritt Oberstaatsanwalt Arnold mit ganzer Sohle auf. „Bei Anspannung ihres Gewissens und ihrer Einsichtsfähigkeit hätten sie erkennen können, dass der Einsatz der NATO – unabhängig von seiner völkerrechtlichen Einordnung – kein kriminelles Unrecht darstellt, und dass die den Soldaten erteilten Einsatzbefehle verbindlich sind.” Das Völkerrecht wird erneut wie selbstverständlich als eine Quantité négligeable behandelt. Als hätte es die nationalsozialistische Herrschaft und mögliche Lerneffekte gerade im Rahmen der Jurisprudenz nicht gegeben, setzt Oberstaatsanwalt Arnold auf einen Schelmen den zweiten. „Die Angeklagten hätten sich daher ohne Schwierigkeiten”, so klärt sich alles zu den kanten scharfen Bügelfalten bürgerlich soldatischen, in jedem Fall beamtenhaften Gehorsams, „Klarheit darüber verschaffen können, dass ein Soldat, ebenso wie jeder andere Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, zwar möglicherweise unter gewissen Umständen ein bestimmtes, von ihm verlangtes Verhalten verweigern kann, aber nicht den Dienst einstellen und ihm fern bleiben darf.” Man könnte ob solcher unkompliziert phantasielosen Strammheit eine demokratisch menschenrechtliche Gänsehaut kriegen.

II.Zum Völker- und menschen­recht­li­chen Fundament des „Kosovo“-, genauer des NATO-­Krieges – Eine exempla­ri­sche Inter­pre­ta­tion

Knut Ipsen gilt als einer der führenden, wenn nicht der führende Völkerrechtler der Bundesrepublik. Liest man einen juristischen Standardtext, Ipsens Einführung ins Völkerrecht, um herauszufinden, wie es um die völkerrechtliche Qualität des NATO-Krieges vom 24. März 1999 bestellt ist – oder las man ihn kurz vor dem Krieg -, dann wird der geneigt-kritische Leser an Ipsens Hand zur Folgerung gelangen, dieser Krieg war völkerrechtswidrig. Nicht so Ipsen selbst. Just in der „Friedenswarte“(1) führt er vor, wie der „an sich völkerrechtswidrige Krieg von einem real politisch denkenden Völkerrechtler völkerrechtskonform transformiert werden kann. Der Kürze halber präsentiere ich Ipsens neue, real politisch gegründeten Standardargumente für den NATO-Krieg und zeige, wie fadenscheinig herrschaftsdurchsichtig sie sind. Damit erschöpfe ich selbstredend nicht alle völkerrechtlichen Pro- und Kontra-Argumente, unterstelle jedoch, dass ich deren Herz treffe.

Erster Ipsenblick
Unter der Überschrift „Der Kosovo-Einsatz – Illegal? Gerechtfertigt? Entschuldbar?(2) referiert Ipsen zunächst die völkerrechtliche Position Jugoslawiens und der Russischen Föderation. Er hebt den Verstoß der NATO-Luftangriffe gegen Art.2 Nr.4 der UN-Charta hervor.
„Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.”
Diese und andere vergleichsweise eindeutigen Normierungen, die die Einschaltung des Sicherheitsrats u.a. umfassen, macht Ipsen vor allem mit drei Argumenten porös.

Zweiter Ipsenblick
Was, wenn „schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen” geschehen? Ipsens Argumente gehen aufrecht. „Der Schutzbereich des Gewaltverbots ist durch die Charta ausdrücklich dahin bestimmt, dass Gewaltanwendung gegen die politische Unabhängigkeit, die territoriale Unversehrtheit auch dann verboten ist, sofern sie mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbar ist.” „Als Ziele der Vereinten Nationen in diesem Sinne sind indessen”, so fährt Ipsen einleuchtend fort, „in Art. 1 der UN-Charta der Weltfrieden, die internationale Sicherheit und die Achtung der Menschenrechte gleichrangig nebeneinander genannt.” Sprich: bei „schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen wie ethnischen Säuberungen in Form von Massenvertreibungen und Massentötungen” bietet der „Souveränitätsschutz” keine unüberspringbare Schranke gegen militärische Interventionen. Es lässt sich nicht mehr begründen, dass die Androhung oder die Anwendung von Gewalt „mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbar” sei.(3)

Dritter Ipsenblick
Ein weiteres Argument sprengt den Betonsockel staatlicher Souveränität unter völkerrechtlicher Perspektive. Zum einen weist Ipsen plausibel im Rahmen des sich weiter entwickelnden Völkerrechts darauf hin – etwa als Auswuchs von Art. 51 der Charta –, dass ethnische Minderheiten zu „partiellen Völkerrechtssubjekten” würden und sich vor allem „ihr Schutz gegen Gewaltanwendung durch den Herbergestaat dem Schutz des staatlichen Völkerrechtssubjekt” angleiche. „Dies ist eine logische Konsequenz (…), nach der großformatige Menschenrechtsverletzungen wie Massenvertreibungen und Massentötungen als Störungen des Friedens und der internationalen Sicherheit angesehen” würden. Falls noch hinzukomme, dass der Sicherheitsrat „wie bisher bei der faktischen Wahrnehmung des ihm normativ zukommenden Gewaltmonopols” versage, sei es eine „unausweichliche Entwicklungstendenz”, Sanktionen zugunsten einer „Volksgruppe” zuzulassen, die das „Völkerrecht zugunsten des angegriffenen Staates” bereit halte.

Vierter Ipsenblick
Eine „Maßnahme des Notstands” sei angebracht, wenn anders „Massenvertreibungen und Massentötungen” nicht Einhalt geboten werden könne. Vor allem sei jedoch eine „Repressalie” „als letztes Mittel zur Erzwingung völkerrechtsmäßigen Verhaltens” gerechtfertigt. Eine solche „Repressalie” „ist die Beantwortung eines Völkerrechtsbruchs mit einer Völkerrechtsverletzung gegenüber dem Rechtsbrecher”. Sie müsse selbstredend „verhältnismäßig” eingesetzt werden. Sie komme nur bei einer „Völkerrechtsverletzung der schwersten Kategorie” in Betracht.(4)

Auf dieser abstrakten Ebene leuchten Ipsens Argumente (fast) ein. Zwei Einwände untergraben und stürzen sie. Zum einen: Sie besitzen in Sachen NATO-Krieg kein tatbestandliches Fundament. Zum anderen: ihre völkerrechtlichen Stützbalken tragen menschenrechtlich unzureichend. Gerade darum entsprechen sie der neueren völkerrechtlichen Entwicklung nicht, die die Menschenrechte wie im Ansatz schon die UN-Charta von 1945, ergänzt durch die Menschenrechtserklärung von 1948 zu einem normativ verbindlichen Teil des Völkerrechts machte. Alle diejenigen haben deswegen unrecht, die den NATO-Krieg zum ersten „Menschenrechtskrieg”, einem neuen justum bellum, oberhalb des staatssouveränitätsverstocken Völkerrechts erklären. Ich gehe Ipsens Argumente – die oben genannten „Ipsenblicke” unter dem Blickwinkel beider Einwände noch einmal durch. Dass Ipsen mit seinem ersten Argument die herkömmliche Auffassung relativiert, die die Souveränität des Staates geradezu absolut behauptet, wird von einem Menschenrechtler wie mir geradezu emphatisch begrüßt. Menschenrechte kennen prinzipiell keine Grenzen außer die freilich voraussetzungsreichen Grenzen personaler Integrität. Allerdings lässt Ipsen die albanisch bezogene Minderheit, im Kosovo die Mehrheit, einschließlich der organisierten Befreiungstruppe, der UCK unzulässiger weise völlig aus dem Spiel.

Auch Ipsens zweites Argument stößt ins Leere. Die NATO-Staaten haben bekanntlich den UN-Sicherheitsrat nicht einmal erprobt. Sie haben ihn vielmehr leichtfertig ausgespart. Sie haben die UNO und ihre Organe wie schon zuvor als bestenfalls nützliche Idioten behandelt, die je nach Interessenlage beachtet oder nicht beachtet werden können. Damit haben sie ohne Not gegen eine zentrale völkerrechtliche Norm und gegen eine ebenso zentrale völkerrechtliche Form bzw. Prozedur verstoßen.
Das dritte Argument Ipsens, die paradoxe Wahrung der Menschenrechte – „großen” Menschenrechtsverletzungen abzuhelfen, indem man „im kleinen” Menschenrechte verletzt -, verlangte, wenn man ihm normativ und praktisch folgen wollte, exzessiv begründet zu werden. Die Sorgfalt menschenrechtsverletzender Praxis müsste einer medizinischen Operation gleich jeden nicht schlechterdings notwendigen „Kollateralschaden” vermeiden lassen. Beides ist jedoch nicht der Fall gewesen. Zum einen haben die NATO-Staaten und ihre berufen unberufenen Vertreter nicht erkennen lassen, gewiss nicht im Schloss zu Ramboulliet, dass sie skrupulös das Gut des prinzipiellen Gewaltverbots mit dem Gut des aktuell vorgeblich nur gewalttätig möglichen Schutzes einer hier und heute direkt gefährdeten Minderheit gegeneinander abgewogen hätten. Stattdessen haben sie eilfertig und pauschal das Etikett „humanitäre Intervention” euphemistisch auf ihre kriegerische Intervention geklebt. Dass nur der Bombenteppich in der akuten Not hilfreich sei, wurde gleichfalls nur pauschal behauptet.

So wie der Urteilsprozess nicht in irgend ausreichender Form erfolgte, so wurden im praktischen Bombenteppiche-Legen mitnichten die gerade in diesem Krieg zum geflügelten Wort promovierten „Kollateralschäden” vermieden. Genau das Gegenteil passierte. Gerade das, was angeblich in akuter Not vermieden werden sollte, wurde kriegerisch schuldhaft enthemmt: von der jugoslawischen Regierung inszenierte Massenvertreibung und Massaker. An beidem hatte freilich die UCK ihren je eigenen Anteil.
Ipsens Argumente, die den Felsen des Art.2 Abs.4 der UN-Charta erwägungshaft und anscheinshaft porös mach(t)en und den NATO-Krieg eventuell hätten legitimieren können, entpuppen sich als normativ und praktisch irrelevante, ja fahrlässige, real politisch natohaft gezielte intellektuelle Fingerübung eines Völker- und darin eines Menschenrechtlers der seinen normativ eingedenkenden Beruf versäumt. Vor allem der Refrain Ipsens, der seine Argumente erst begründend zusammenhält, tönt geradezu radikal falsch. Es gab bis zum 24. März 1999 keine „schwersten Menschenrechtsverletzungen” direkt bezogen auf die freilich unmündig gehaltenen albanischen Kosovarinnen und Kosovaren. So und ähnlich lauten die extremen Ausdrücke und Epitheta Ipsens durchgehend. Sie suggerieren nur den argen, nämlich täuscherischen Schein menschenrechtlicher Rechtfertigung.
Die Lage im Kosovo war ohne Frage prekär, besorgniserregend, mordvoll. Sie heischte nach Handeln. Das Milosevic-Regime hatte eine gewalttätige Vergangenheit und hegte ethnozentristisch imperiale Pläne. Seinerzeit schon erkenntlich galt indes und gilt heute über anderthalb Jahre danach: Erst der NATO-Krieg hat die beiderseits geübte Gewalt vollends enthemmt. Die NATO-Staaten haben, von keinem „humanitären” Kriegsziel zu rechtfertigen, für sie selbst risikolose Bombengewalt unter anderem auf die zivile Bevölkerung und zivile Objekte geübt.
Angesichts der menschenrechtlichen Übermoralisierung des NATO-Krieges, die den Krieg fast wie einen „Kollateralschaden” seriöser Menschenrechtspolitik erscheinen und als eine Art Nicht-Krieg sprachlich retuschieren ließ, schlimmer noch wirkt der Missbrauch von Gefahren, Ereignissen und Symbolen. Solcher populistische Missbrauch ist geradezu kriegshetzerisch, kriegshysterisch, selbst- und fremdtäuscherisch von höchsten Regierungspositionen aus betrieben worden ist. Der bundesdeutsche Außen- und Verteidigungsminister taten sich, dazu nicht bestellt und berufen, mit Greuelgeschichten, Greuelgedichten, Kriegsschaum vor dem Mund, hervor. Schon um den 24. März 1999 konnte die substanzlose Erfindungskraft darum unverantwortlicher Politiker durchschaut werden. Sie bliesen in greuelbekratisch menschenrechtlichen Legitimationsmangel ihrer kriegszielenden Pseudo-Politik umgekehrt proportional sich blähten. Alle von soliden Untersuchungen zu Tage geförderten Informationen seither häufen Evidenz auf Evidenz, dass die von den Fischers, den Scharpings u.a.m. angelegten prachtvollen Menschenrechtskleider ihre klägliche Gestalt als verantwortliche Politiker nicht zu verhüllen vermögen. Sie haben sich nur menschenrechtlich prätentiös geriert; und sie haben dazu, mit einer geradezu perversen Lust, Massaker, Vertreibungspläne, genozidartige Handlungen medienbetört und medienbetörend als Lückenfüller ihrer Verantwortungslosigkeit funktionalisiert. Man betrachte nur die differenziert ausgebreiteten Belege; des ehemaligen Generals und OSZE-Beauftragten der Bundesrepublik, Heinz Loquai.(5)
Alle Notwehr- und humanitären Nothilfe-Behauptungen zerfallen wie schimmlige Pilze. Die menschenrechtsmoralisch triefende, tatsächlich kriegerisch antimenschenrechtliche Rechtfertigungsstrategie betrieb vor allem die bundesdeutsche Seite. Alle grundgesetzlichen, aus der deutschen Erfahrung des 20. Jahrhunderts erwachsenden und nicht zuletzt alle grundgesetzlich höherrangig geltenden Forderungen des Völkerrechts sollten erstickt werden. Noch das Leid der Menschen im Kosovo wurde für die eigenen Zwecke funktionalisiert. Nur so lässt sich die größte Augenmaß- und schamloseste Geschmacklosigkeit bundesdeutscher, regierungsamtlicher Begründungen verstehen: der deplazierte Gebrauch der längst metaphorisch leicht zu handhabenden Erinnerung an Auschwitz.
Angesichts des Gesagten, das sich umfänglich belegen ließe, schwinden völker- und mehr noch menschenrechtliche Argumente bodenlos, die den Krieg im goodspeak der „humanitären Intervention” rechtfertigen sollten. Auf abstruse Geschichtsphilosopheme a la Jürgen Habermas, die den NATO-Krieg angesichts des Fortschritts der menschenrechtlichen Zivilisation zur List der Vernunft erklärten, könnte nur sarkastisch bitter eingegangen werden.
Die Menschenrechte stehen in der Tat und in der Norm in modernem Völkerrecht und über allem zwischenstaatlichen Recht. Den Ausschlag gibt jedoch, wie sie zu schützen und wie sie am ehesten angemessen wahrzunehmen seien. Hierfür gilt als erste strikte Regel: die Substanz der Menschenrechte kann nur mit menschenrechtsgemäßen Mitteln zu verwirklichen versucht, erstritten und gewahrt werden. Das jedoch war genau im NATO-Krieg von Anfang bis Ende und darüber hinaus nicht der Fall; selbst noch in der Art der eingesetzten Waffen, selbst noch in der unverzeihlichen Lücke jeglicher Konzeption für die Nachkriegszeit.(6) Das glatte Gegenteil ist wahr. Zu aller erst klagen an die Toten; es klagen an die Überlebenden, die auf lange Zeit geschädigt sind: bis zur gewaltheckenden Verfestigung wechselseitigen Hasses. Die Gesamtheit der NATO verursachten Zerstörungen sind unter dem euphemistischen Rubrum „Kollateralschäden” nicht mehr zu verbuchen.
Auf Dauer fast noch schlimmer sind die mittelbaren Drittfolgen, die Drittwirkungen dieses unseligen, für alle möglichen, menschenrechtlich heterogenen Zwecke gewollten Krieges. Und sie wussten, was sie tun.

— Der 45er UN-Konsens und seine Institutionen ist ohne Not NATO-willkürlich verletzt worden. Wer immer machtvoll genug ist, wird ihn beliebig verletzten. Nicht der Kalte Krieg und seine schreckliche Lähmung der Welt, die angeblich demokratisch organisierten, menschenrechtlich süß mündigen NATO-Staaten lähmen nun je nach Gusto selbst die völkerrechtlichen Minimal kollektiver Kriegsvermeidung.
— Die Aufrüstungsspirale wurde kräftig beschleunigt. Wer sollte von anderen Staaten erwarten können, sich nicht dem Vorbild der NATO gemäß zu verhalten, das eine zusätzliche Botschaft enthält: nur der militärisch Starke kann mithalten; nur der militärisch Starke wird „humanitär” verpackte Interventionen der NATO-Staaten vermeiden können.
— Ein Motiv der Hetze hin zum Krieg in Ramboulliet war die im April 1999 in Washington D.C. anstehende Reform der NATO anlässlich ihres fünfzigjährigen Geburtstages.(7) Diese Reform, die in der Zwischenzeit von der Bundeswehr in ihre eigene Reform verlängert wird, bedeutet ein Doppeltes: zum einen und am wichtigsten den Umbau der NATO und der Truppen aller Mitgliedsländer in Richtung ihres globalen Einsatzes. Der Kosovo-Krieg bildet insofern den Prototyp der „neuen NATO”. Zum anderen wird versucht unter dem Modeunnamen einer „Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität” eine zusätzliche europäische ,Aktionsfront` zu eröffnen. Krieg, menschenrechtlich kostümiert, soll erneut als Gehmasche der Staaten normalisiert werden.

III. Exekutive, Legislative, Judikative – Warum alle des § 111 StGB in Verbindung mit den einschlä­gigen Paragraphen des Wehrstraf­ge­setzes halber Angeklagten freige­spro­chen werden müssten; warum es jedoch nicht angeht, dass freispre­chende Gerichte sich „nur” auf Art.5 Abs.l GG (Meinungs­frei­heit) berufen

Der erste Anschein zeigt eine trügerische Parallele der staatsanwaltlichen und meiner Argumentation. Recht besehen besteht jedoch eine Differenz ums Ganze. Anklagende Staatsanwälte, auch ein Teil der erst- und zweitinstanzlichen Richterinnen und Richter und ich (wie die meisten der in derselben Sache Angeklagten) legen Art.5 Abs.l GG sehr verschieden aus. Die Staatsanwaltschaft beruft sich hierbei zu Unrecht auf die gerade in Sachen Art.5 Abs.l GG einschlägige und grundrechtlich alles in allem konsequenten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Die qualitative Differenz zur Staatsanwaltschaft wird dort besonders deutlich, wo letztere in den ;oben schon genannten Revisionsrechtfertigungen Art.5. Abs.l GG, indem sie Meinungen gewichtet und bewertet, ausgesprochen restriktiv argumentiert und den freien Mund der Meinungen mit staatsanwaltlichen Spangen und Riegeln versehen will.
Die Differenz ums Ganze besteht zusätzlich insbesondere im Grad und der Art meiner Unzufriedenheit mit einem Teil der freisprechenden Urteilsbegründungen. Die Staatsanwaltschaft, sage ich, kümmert sich nicht im mindesten ums Grundgesetz und ums Völkerrecht. In beiden Rechtskodizes scheint sie nicht bewandert zu sein. Sie ist geradezu fixiert auf § 16 WStG, also das crimen der Fahnenflucht. Und sie argumentiert diesbezüglich nach dem Muster des Tempelherrn in Lessings „Nathan der Weise”. Tut nichts, Völkerrecht, Grundgesetz, Menschenrechte hin oder her, wer zum schlimmsten aller Verbrechen, der Fahnenflucht, aufruft, muss bestraft werden. Angesichts der Schwere des Vergehens der Angeklagten verwundert und erleichtert allenfalls die geldstrafende, freilich wehrstrafgesetzlich vornormierte Milde. Wo aber die „Geschlossenheit der Truppe” in Gefahr ist, kümmert der Qualitätssprung des Krieges, den dieser gerade in der Bundesrepublik Deutschland bedeutet(e), selbstredend nicht.
Art.5 Abs. 1 GG, ich wiederhole mich und unterstreiche erneut, ist ein überaus bedeutsames Grund- und Menschenrecht. Ich möchte nicht dahin missverstanden werden, als schätzte gerade ich dasselbe gering. Ich genieße dieses Recht auf Meinungsfreiheit auch im dritten Absatz von Art.5 GG überaus (Forschungs- und Lehrfreiheit). Die Richterinnen und Richter jedoch, die unter Berufung auf Art.5 Abs. 1 GG freisprechen, begründen ihre Urteile unzureichend. Indem sie dem Anscheine nach das Grundrecht auf Meinungsfreiheit stärken, schwächen sie dasselbe. Drei Gründe führe ich für diese partielle Urteilsschelte an.
Zum ersten der institutionelle Grund. Liberale Demokratie, ihre Grund- und Menschenrechte leben von der Gewaltenteilung, der wechselseitigen Gewaltenkontrolle, den checks and balances zwischen den Gewalten: Legislative, Exekutive, Judikative (ich lasse hier außer Acht, wieweit man heute von einer vierten Gewalt – den Medien – reden müsste und was die Annahme einer weiteren ,Gewalt` – nur dieser einen? – konstitutionell bedeutete). Die gewählte Exekutive hat im Kosovo-Krieg verantwortungsethisch versagt. Sie hat sich nicht an Recht und Gesetz gehalten. Dieser Sach-, Moral- und Rechtsverhalt besteht, wie immer das Handeln der Bundesregierung ansonsten begründet werden mag (etwa aus NATO-Nibelungentreue, aus US-amerikanischer Abhängigkeit, aus Angst vor zusätzlichen Flüchtlingen u.ä.m.). Die Legislative hat in der Vorkriegs- und Kriegszeit ihre systematische Mitwirkungs- und Kontrollschwäche bestätigt. Diese gilt in Sachen Außen- und Militärpolitik verschärft. Der Bundestag ließ sich geradezu in corpore politisch misshandeln, in jedem Fall exekutive hörig missachten. Nur wenige Abgeordnete wie Burkhard Hirsch von der FDP, Christian Ströbele von den Grünen, Gregor Gysi von der PDS hielten die Fahne der Legislative hoch.
Umso mehr war und ist die Judikative gefordert, ohne dieselbe in ihrer begrenzten Autonomie zu überschätzen und zu überfordern. Um der Zukunft des demokratischen Rechtsstaats willen, der nur funktionieren kann, wenn die oben genannte Balance wenigstens teilweise besteht und immer erneut hergestellt wird. Die Judikative hat ihren eigenen Grund in der Verfassung als ihrem primären Bezug. Das ist ihre Funktion. Die Judikative widerstreitet ihrem eigenen funktionalen und damit zugleich verfassungsnormativen Imperativ, wenn sie – erneut exekutive hörig –  statt die Verfassung und das ihr entsprechende Recht im verhandelten Falle zu aller erst das Völkerrecht, zum Ausgangs- und Endpunkt ihrer Urteilsbildung zu machen, der normativen Kraft des exekutivisch gemachten Faktischen folgt. In Sachen Kosovo-Krieg geht es deshalb schlechterdings nicht an, dass die Judikative in ihren einzelnen Organen, insbesondere dass die Gerichte Grundgesetz und Völkerrecht als urteilsunerheblich irgendwo liegen lassen.

Zum zweiten: Das Ermessen eines Gerichts ist groß. Dennoch geht es nicht an, die Staatsanwaltschaft und ihre Anklage nicht ernst zunehmen. Zwar versäumt es die Staatsanwaltschaft ihrerseits, Völkerrecht und Grundgesetz anklagend zur Kenntnis zu nehmen. Dieses staatsanwaltliche Fehlverhalten zeitigt sogar so etwas wie einen normativen horror vacui. Denselben dürfen die zuständigen Gerichte jedoch nicht verdoppeln und durch ihre normative leere Entscheidung gerichtsnotorisch bestätigen. Ein solches Verhalten schädigte den demokratischen Rechtsstaat. Außerdem gründet die Anklage auf einem von der Staatsanwaltschaft nicht thematisierten Fundament.
Der Annahme nämlich, dass der Kosovo-Krieg von der Bundesregierung, vom Bundestag abgesegnet, rechtskonform geführt worden sei. Wenn das Gericht diese unerwähnte Voraussetzung der Staatsanwaltschaft nicht aufgreift und gar der Anklage folgt, übernimmt es diese Voraussetzung. Damit machte es sich eines dreifachen Fehlers schuldig: die ausschlaggebende Prämisse der Anklage und des eigenen Urteils nicht aufgedeckt zu haben, also mit einem anderen dolus eventualis zu arbeiten; zum zweiten dann in der Luft hängende Normen anzuwenden, nämlich des § 111 StGB in Verbindung mit den §§ 16 und 21 WStG; zum dritten wider Grundgesetz und Völkerrecht zu verstoßen, ohne diesen Verstoß irgend begründet zu haben. Wie weit sich die Staatsanwaltschaft und gegebenenfalls auch das erkennende Gericht auf die exekutivisch vorgegebene normative Kraft des Faktischen einlassen, zeigt die schon mehrmals erwähnte Revisionsrechtfertigung durch den Oberstaatsanwalt Arnold. In einer dieser Rechtfertigungen argumentiert er: die Soldaten, die dem Desertionsaufruf gefolgt wären, hätten in jedem Fall rechtswidrig gehandelt. „Denn”, so Oberstaatsanwalt Arnold, „der Befehl zum Einsatz im Rahmen der NATO-Intervention war – unabhängig von der völkerrechtlichen Einordnung des Einsatzes – verbindlich.” Da staunt der rechts unkundige Laie und der rechtskundige Fachmann wundert sich. Es kommt sogleich noch dicker. „Der Einsatz der NATO im Kosovo”, so weiß der Oberstaatsanwalt, „erfolgte jedoch unabhängig von der völkerrechtlichen Grundlage allein mit dem Ziel, eine völker- und menschenrechtswidrige Unterdrückung und Vertreibung der Kosovo-Albaner und damit Völkermord im Sinne von § 220 a StGB abzuwenden“.(8) Woher nimmt die Staatsanwaltschaft ihre Gewissheit, die sie sogleich normativ mit §220 a StGB krönt und abkappt? Wie kann sie den unerwiesenen Sachverhalt und die nicht belegte Intention („allein mit dem Ziel“), als befände sie sich im Bauch der Bundesregierung, erneut mit ihrer Nonchalance dem Völkerrecht gegenüber verbinden? Und wie kann ein erkennendes Gericht einem solchen normativ und faktisch, mit faulen Blättern gemischten Salat ernsthaft folgen. Es kann. Es kann jedoch nur zum Schaden der unverstellten Geltung des Grundgesetzes.
Zum dritten Grund: wie die staatsanwaltschaftliche Klage nicht zureichend ernst genommen wird, mit der Folge, dass sich das erkennende Gericht gegen die innere Gewaltenteilung im Rahmen der Judikative mit der Staatsanwaltschaft komplizengleich verhalten könnte, so werden auch die Beklagten und ihre Rechte nicht ernst genommen. Diese Missachtung der Angeklagten ist nicht nur dann zu beobachten – wie in meinem Fall -, wenn das Gericht im Schatten der Anklage den Sachverhalt beschreibt und urteilend eine recht beliebige Auswahl von Normen darauf appliziert. Eine solche Missachtung geschieht auch dann, wenn die Angeklagten unter Hinweis auf Art.5 Abs. 1 GG freigesprochen werden. Ich habe selbst mehrfach beobachtet, wie Angeklagte sich alle Mühe geben, zu begründen, warum wie sie dazu gekommen sind, den Desertionsaufruf zu unterschreiben. Sie haben von ihren persönlichen Motiven gesprochen, von ihrem Verständnis des Grundgesetzes, der Menschenrechte und des Völkerrechts. Und das erkennende Gericht hat sie mit ihrer Einlassung zur Sache, ohne mit einem Wort darauf einzugehen, schlicht ins Leere reden lassen. Die persönliche Kränkung, die aus solcher Missachtung der Angeklagten und ihrer Einlassungen erwächst, mag dahingestellt bleiben. Sie belegt ein hier nicht weiter zu erörterndes Verfahren der Gerichte, das nicht primär aus der auctoritas der Gesetze, der Verfassung zuerst, sich herleitet, sondern der autoritären Kontinuität einer in vor demokratische Zeiten zurückreichenden Institution entspricht. Nicht dahingestellt bleiben kann aber eine Prozedur des Gerichts, die den Angeklagten, ohne die Anschuldigungen zu beachten und die Entgegnung des Angeklagten darauf, mit in der Sache heterogenen Gründen geradezu zwangsweise frei spricht. Die Sache um die es geht und weswegen allein die Verfahren stattfinden, lautet nun einmal: Recht oder Unrecht des NATO-Krieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Hier muss sich ein Gericht stellen. Hic Rhodos grundgesetzlich begründeter Rechtsstaat, hic salta. Da gibt es keine die Meinungsfreiheit zur Ausflucht nehmende Drückebergerei. Wie anders soll eine rechtliche Kontrolle der Exekutive, eine grundrechtsbezogene auch der Legislative durch die Judikative anders zustande kommen?(9)

Schlussbemerkungen
Wer würde nicht gerne von einer Anklage entlastet werden. Insofern strebe ich selbstverständlich einen Freispruch an. Ich will jedoch nur einen Freispruch cum fundamento in re et in constitutio et in jus gentium. Ein Schuldspruch des Gerichts, der der staatsanwaltlichen Anklage erneut folgte, belegte für mich die gerichtliche Fortsetzung der staatsanwaltlichen Inkompetenz und ihrer puppenhaften Begründungen im Dienste der normativen Kraft des herrschend Faktischen. Einen Freispruch des Gerichts mit Hilfe des Art. 5 Abs. 1 GG erführe ich als Drückebergerei desselben. Dass das Gericht nicht zu dem steht, was seine erste Pflicht im Rahmen grundgesetzlicher Gewaltenteilung ist: der norma normans des Grundgesetzes immer erneut eine Gasse zu öffnen. Das aber heißt hier: es muss sich auf die Frage einlassen, ob der von der NATO samt der Bundesrepublik Deutschland initiierte und einseitig geführte Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien Grund-, Völker- und Menschenrechts rechtens gewesen ist oder nicht. Ein Drittes gibt es nicht. Ich hoffe sehr, Richter und Schöffen nehmen ihre Aufgabe wahr. Damit der demokratische, menschenrechtlich pflichtige Rechtsstaat der Bundesrepublik anhand eines kleinen, jedoch bedeutsamen Falls einen Sonnenblick erfahre.

PS: Das Gericht hat am 14. Dezember 2000 meiner Berufung nicht stattgegeben und das erstinstanzliche Urteil im wesentlichen dupliziert. Auch alle von meiner Anwältin, Maria Wilken, kundig gestellten Beweisanträge einschließlich ihres Plädoyers wurden vom Gericht in souveräner Borniertheit übergangen. Nun steht die von mir sogleich via Anwältin eingelegte Revision an.

1 Friedenswarte, Hefte 1. und 2/1999; nachgedruckt in: Reinhardt Merkel: Der Kosovo- Krieg und das Völkerrecht, Frankfurt a. M. 2000. Ich zitiere aus dem Nachdruck.

2 In: Ebd., S 160- 166.

3 Ebd., S. 162 f.

4 Ebd., S 165 f.

5 S. Neben anderen Vorauspublikationen Heinz Loquai: „ Der Kosovo- Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Konflikt. Die Zeit von Ende November 1998 bis März 1999, Baden- Baden 2000; s. Zum angeblichen Plan der Bundesrepublik Jugoslawiens zu einer Großoffensive S. 44, zur Instrumentalisierung des „ Massaker von Racak“, S. 51, zu den Als- Ob- Verhandlungen in Ramboulliet S. 83, zur humanitären Begründung und zu den zivilen Opfer und Objekte billigend in Kauf nehmenden Luftschlägen S. 103 und 106; und nicht zuletzt zum legitimatorischen Totschläger „Hufeisenplan“ S. 103 f. Vgl. auch den Mehrheits- Beschluss der UN- Wirtschafts- und Sozialrats vom 19.08.1999, S. 57 ff

6 Vgl. auch W.-D. Narr/Roland Roth/Klaus Vack:
Wider kriegerische Menschenrechte. Eine pazifistisch- menschenrechtliche Streitschrift. Beispiel: Kosovo 1999 Nato- Krieg gegen Jugoslawien; hg. Vom KOMITEE FÜR GRUNDRECHTE UND DEMOKRATIE, Köln 1999

7 Vgl. Loquai 2000, S. 103

8 Revisionsrechtfertigungen vom 07.09.2000 AZ: 78 Js 151/99

9 Im Anschluss an diese Ausführung hat die Redaktion einen Exkurs von rund zwei Seiten aus dem Manuskript heraus gekürzt.

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