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Verfas­sungs­fremdes Strafrecht

vorgängevorgänge 196808/1970Seite 321-322

Die unterschiedliche Bewertung der Rechtsgüter „Leben und Gesundheit“ im geltenden Strafgesetzbuch

vorgänge 1968 (8-9), S. 321-322

„Am Morgen des 22. Februar 1967 um vier Uhr früh kam mein Verlobter, B. M., plötzlich zu mir in die Wohnung. Ich erschrak sehr, da er zu so ungewöhnlicher Stunde kam und so entsetzlich aussah: Sein Gesicht war dick verschwollen, und das Blut schien aus Mund, Nase und seinem rechten Ohr gekommen zu sein und war schon ein wenig getrocknet, teilweise lief es noch. Sein rechtes Auge war so verschwollen, daß er es nicht öffnen konnte… Weinend sagte er immer wieder: Das waren diese Schweine, diese Schweine.”
Die Zeugin hatte der Polizeidienststelle einer süddeutschen Stadt nichts vorgemacht. Es dauerte nicht lange, bis der Täter, der ihren Verlobten krankenhausreif geprügelt hatte, ermittelt wurde. Er erhielt einen Strafbefehl, in dem ihm vorgehalten wurde, er habe „den Hilfsarbeiter B. M. mit den Fäusten niedergeschlagen. M. stürzte zu Boden und war einige Zeit bewußtlos. Er erlitt eine Gehirnerschütterung mit Verdacht auf Schädelbasisbruch und mußte vom 22. Februar 1967 bis 2. April 1967 stationär behandelt werden.” Gemäß §§ 223, 232, 61 StGB ― Vergehen der leichten Körperverletzung ― erkannte das Gericht auf eine Geldstrafe von 210 DM, ersatzweise 14 Tage Gefängnis.
Der Schläger wäre nicht so billig weggekommen, wenn er sich statt an fremdem Leben an fremdem Hab und Gut vergriffen hätte: So müßte er etwa für ein Verbrechen der Zechprellerei im Rückfall grundsätzlich ― § 264 StGB mit Zuchthaus, bei mildernden Umständen mit mindestens drei Monaten Gefängnis bestraft werden.
Dem Strafgesetzbuch von 1871, nach dem im Namen des Volkes heute noch verfolgt und bestraft wird, liegt eine Wertskala zugrunde, die kaum noch widerspruchslos hingenommen werden kann.
So fragwürdig die Einteilung der Strafen ist, so eindeutig ist sie: „Eine mit Zuchthaus oder mit Einschließung von mehr als fünf Jahren bedrohte Handlung ist ein Verbrechen. Eine mit Einschließung bis zu fünf Jahren, mit Gefängnis oder mit Geldstrafe von mehr als fünfhundert Deutsche Mark oder mit Geldstrafe schlechthin bedrohte Handlung ist ein Vergehen. Eine mit Haft oder mit Geldstrafe bis zu fünfhundert Deutsche Mark bedrohte Handlung ist eine Übertretung” (§ 1 StGB).
Die Zuchthausstrafe als härteste Form ächtender Vergeltung von Staats wegen währt ein Jahr bis zu fünfzehn Jahren, bei Morddelikten lebenslänglich. Die Gefängnisstrafe kann einen Tag bis zu fünf Jahren dauern. „Zuchthäusler”, das heißt „Verbrecher”, sind gemäß § 15 StGB „.in der Strafanstalt zu den eingeführten Arbeiten anzuhalten”. Sie können auch zu Arbeiten „außerhalb der Anstalt, insbesondere zu öffentlichen oder von einer Staatsbehörde beaufsichtigten Arbeiten verwendet werden”. Die Verurteilung zur Zuchthausstrafe hat die dauernde Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter zur Folge. Als öffentliche Ämter in diesem Sinn gelten etwa auch „die Anwaltschaft und das Notariat sowie der Geschworenen- und Schöffendienst”. Dem Verbrecher können auch die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt werden, während dies bei Vergehen nur möglich ist, wenn dies der jeweilige Tatbestand ausdrücklich vorsieht. (Merkwürdigerweise ist diese Nebenstrafe bei den Vergehen des Diebstahls und der Unterschlagung, nicht aber bei den Vergehen der gefährlichen Körperverletzung und der Abhängigenquälerei vorgesehen.)
Die Folgen der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte sind umfassend: „dauernder Verlust der aus öffentlichen Wahlen für den Verurteilten hervorgegangenen Rechte, ingleichen den dauernden Verlust der öffentlichen Ämter, Würden, Titel, Orden und Ehrenzeichen”. Darüber hinaus verliert der Delinquent für die im Urteil bestimmte Zeit „in öffentlichen Angelegenheiten zu stimmen, zu wählen oder gewählt zu werden oder andere politische Rechte auszuüben; Zeuge bei Aufnehmen von Urkunden zu sein; Vormund, Gegenvormund, Pfleger, Beistand der Mutter oder Mitglied des Familienrates zu sein, es sei denn, daß es sich um Verwandte absteigender Linie handele und das Vormundschaftsgericht oder der Familienrat die Genehmigung erteile“. Eine humane und demokratische Resozialisierung des so von allen Seiten gebrandmarkten Missetäters wird dadurch nicht gerade einfacher.

Die Frage, wer als „Verbrecher“ derart umfassend und folgenreich zur Rechenschaft gezogen werden soll, löst das nun bald hundert Jahre alte Strafgesetzbuch mit der Faustregel: Mißhandlungen können als Kavaliersdelikte diskret bearbeitet werden, keinen Pardon aber dem, der sich an der bestehenden Eigentumsordnung vergreift.
So wird das Vergehen der vorsätzlichen körperlichen Mißhandlung oder Gesundheitsbeschädigung ― falls sie nicht gleich den Verlust eines wichtigen Körperteiles oder Organs oder den Tod zur Folge hat ― nach § 223 StGB mit „Gefängnis bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe“ bestraft. Sogenannte einfache oder leichte Körperverletzung begeht demnach, wer jemand krankenhausreif schlägt, auf jemanden tritt, daß ihm die Rippen brechen, jemanden bis zur Besinnungslosigkeit ins Wasser taucht oder ihn sonstwie quält. Erst wenn der Tort das Ausmaß einer das „Leben gefährdenden Behandlung” annimmt ― Beispiel laut BGH: ein Mensch wird absichtlich mit einem Auto gerammt ― oder mit einer Waffe oder einem „anderen gefährlichen Werkzeug, oder mittels eines hinterlistigen Überfalls, oder von mehreren gemeinschaftlich” zugefügt wird, darf laut § 223 a StGB die Strafe zwei Monate Gefängnis nicht unterschreiten.
Auf mindestens drei Monate Gefängnis ist zu erkennen, wenn der Täter „Kinder, Jugendliche oder wegen Gebrechlichkeit oder Krankheit Wehrlose, die seiner Fürsorge oder Obhut unterstehen oder seinem Hausstand angehören, oder von dem Fürsorgepflichtigen seiner Gewalt überlassen worden oder durch ein Dienst- oder Arbeitsverhältnis von ihm abhängig sind, quält oder roh mißhandelt, oder wer durch böswillige Vernachlässigung seiner Pflicht, für sie zu sorgen, sie an der Gesundheit schädigt”. Diese Scheußlichkeiten verjähren in fünf Jahren. Daß das untere Straflimit gegen besonders rohe Ausnutzungen betrieblicher und sonstiger Abhängigkeitsverhältnisse erst vierzig Jahre nach Einführung des Strafgesetzbuchs als § 223 b eingefügt wurde, erlaubt allein schon recht eindeutige Schlüsse auf den sozialen Charakter der guten alten Kaiserzeit. Freilich: § 223 b droht noch nicht dem Betriebsherrn, der seine Gesellen und Lehrlinge einfach nur zusammenschlägt. Zur Quälerei gehört mehr, denn „Quälen ist das Verursachen länger dauernder oder sich wiederholender Schmerzen oder Leiden”, so Reichsgericht und Bundesgerichtshof. Als roh gilt solche Sonderbehandlung erst dann, „wenn sie in einer gefühllosen Gesinnung unter Erregung erheblicher Schmerzen erfolgt”. Böswillig sind Gesundheitsschädigungen, wenn sie „aus verwerflichen, insbesondere eigensüchtigen Beweggründen (Haß, Sadismus, Geiz, Rache)” zugefügt werden. § 223 b trifft nur Schindereien an einem eng begrenzten Personenkreis: Wer bloß fremden Kindern oder einem befreundeten Lehrherrn zuliebe dessen Lehrlingen länger dauernde oder sich wiederholende Leiden antut, macht sich nur der einfachen Körperverletzung strafbar.
§ 223 b Absatz II, wonach in „besonders schweren Fällen” der Abhängigenquälerei auf Zuchthaus bis zu fünf Jahren erkannt werden kann, ändert als „unbestimmte Strafverschärfung” weder den Vergehens-Charakter des Delikts, noch hat er eine Verlängerung der Verjährungsfrist zur Folge.
Bei all diesen Mißhandlungs-Tatbeständen bleibt der Versuch straflos. Eine Rückfallverschärfung ist nicht vorgesehen.

Kaiserliche Strenge richtet sich hingegen auf die Eigentums- und Vermögensdelikte: Diebstahl, Hehlerei und Betrug werden nach dem zweiten Rückfall zehn Jahre lang verfolgt und als Verbrechen mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, bei mildernden Umständen ― wobei die „unbestimmte Milderung“ weder den Verbrechenscharakter ändert noch die Verjährung kürzt ― mit Gefängnis nicht unter drei Monaten, bei schwerem Diebstahl mit Gefängnis nicht unter einem Jahr verfolgt. Diebstahl, Unterschlagung, Hehlerei und Betrug sind bereits im Versuchsstadium strafbar. Im Gegensatz zu den oben genannten Mißhandlungsdelikten der §§ 223, 223 a und 223 b kann neben der wegen Diebstahls, Unterschlagung oder Hehlerei erkannten Gefängnisstrafe der Verlust der, bürgerlichen Ehrenrechte ausgesprochen werden: Nicht der Dieb, wohl aber der Schläger soll nach dem Strafgesetzbuch Vormund bleiben können. Anders als den Schinder kann das Gericht einen Dieb, wenn es ihn zu einer Zuchthausstrafe verurteilt, und den Hehler unter Polizeiaufsicht stellen.
Eigentümlich ist der Katalog des § 243 StGB, der den gewöhnlichen Diebstahl zum Verbrechen des schweren Diebstahls qualifiziert. Danach wird u. a. zehn Jahre lang verfolgt und bis zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, wer sich „Gegenstände, welche dem Gottesdienste gewidmet sind, aus einem dem Gottesdienste bestimmten Gebäude” aneignet, den Diebstahl „aus einem Gebäude oder umschlossenen Raume mittels Einbruchs, Einsteigens oder Erbrechens von Behältnissen” oder mit Hilfe falscher Schlüssel oder zur Nachtzeit ausführt oder wer „auf einem öffentlichen Wege, einer Straße, einem öffentlichen Platze, einer Wasserstraße oder einer Eisenbahn oder in einem Postgebäude oder dem dazugehörigen Hofraume oder auf einem Eisenbahnhofe eine zum Reisegepäck oder zu anderen Gegenständen der Beförderung gehörende Sache mittels Abschneidens oder Ablösens der Befestigungs oder Verwahrungsmittel oder durch Anwendung falscher Schlüssel oder anderer zur ordnungsmäßigen Eröffnung nicht bestimmter Werkzeuge” stiehlt. Die intensiv betriebene rechtswissenschaftliche Literatur und die letztinstanzliche Rechtsprechung zu diesem Zuchthaus-Tatbestand haben ein absurdes Ausmaß erreicht, das nicht nur einen sensiblen gelernten Juristen wie Franz Kafka in diffuse, graue Angst zu versetzen vermag. Man kann zu müde werden, „um alle Folgerungen der Geschichte übersehen zu können, es waren auch ungewohnte Gedankengänge, in die sie ihn führte, unwirkliche Dinge, besser geeignet zur Besprechung für die Gesellschaft der Gerichtsbeamten als für ihn. Die einfache Geschichte war unförmlich geworden” („Der Prozeß“).
Höchstrichterlich ist des Verbrechens eines Einbruchsdiebstahls geziehen, wer ein Gazefenster oder einen verschließenden Bindfaden schneidet, das Lüftungsfenster eines Autos auseinanderbiegt, den Schrank von einer Tür rückt oder „zwecks Herauslockens von Tieren hineinleuchtet”. Nebenprodukt des § 243: Wegnahme eines Autos ist Vergehen des gewöhnlichen Diebstahls, Wegnahme einer Tasche aus einem Auto ist Verbrechen des Einbruchdiebstahls.
Nicht wegen eines gewöhnlichen Diebstahls drei Jahre lang, sondern wegen eines Zuchthaus-Venbrechens zehn Jahre lang wird verfolgt, wer eine zugeknöpfte Hosentasche aufgeschnitten hat, um das Portemonnaie zu greifen. Als Verbrechensmerkmal falscher Schlüssel ist nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs auch der echte zweite Schlüssel zu einer Kassette anzusehen, „den der Eigentümer darin verschlossen hat”. Einen verbrecherischen Transportdiebstahl hat begangen, wer einen Bindfaden aufgeschnitten oder einen Plaidriemen aufgeschnürt oder eine Halteklammer zurückgebogen oder eine Gepäckmarke entfernt hat, „die auf die Tür eines Kastens zu dessen Verschluß geklebt wird”. Gärten werden zum Verbrechensmerkmal „umschlossener Raum” gezählt. Wer durch ein Loch im Zaun oder eine offenstehende Tür ― „umschlossen bedeutet nicht nur verschlossen”, so der Bundesgerichtshof ― eindringt, hat bereits in verbrecherischer Weise den umschlossenen Raum angetastet.
Da es sich hier überall um Verbrechen handelt, ist nicht nur die geglückte, sondern auch die erfolglose Anstiftung mit der Strafe des Hauptdelikts ― in der Regel Zuchthaus samt allen ächtenden Nebenstrafen ― bedroht. Anders als gegen den erfolglosen Initiator oder Regisseur von Folterungen fahndet die Staatsanwaltschaft zehn Jahre lang nach den Kumpels, die erfolglos eine Zechprellerei im Rückfall oder einen Transportdiebstahl ausgeheckt haben, ohne daß es dazu kam: Nach § 49 a StGB ist nur die erfolglose Anstiftung oder Verabredung von Verbrechen strafbar, und Folter ist lediglich in den Fällen ein Verbrechen, in denen das Opfer verstümmelt oder getötet worden ist.
Die Überbewertung des Besitzstandes und die nachlässige Berücksichtigung des Rechtsgutes Leben und Gesundheit im geltenden Strafgesetzbuch sind ein markanter Ausdruck des Besitzbürgertums, das sich im vergangenen Jahrhundert mit Brachialgewalt antisozial etablierte. Abhängigenmißhandlung war weniger ein Verstoß gegen die bestehende Ordnung als vielmehr ein Bestandteil des Systems. Welcher Staatsanwalt hätte schon die Betriebe inspiziert, wenn ein Krefelder Industrieller vom preußischen König die Herabsetzung des Kindesschutzalters mit der Begründung fordern durfte: „Diese Klassen der Gesellschaft sind nun einmal dazu bestimmt, in angestrengter Arbeit ihr Leben hinzubringen. Später dann erscheint den Kindern der Übergang zu vierzehnstündiger Tagesarbeit zu schroff.”
In unserer Abkehr von jener tausendjährigen Zeit, in der die Mißhandlung gar zur Staatstätigkeit emanzipierte, erscheint diese Wertvorstellung des Strafgesetzbuchs vollends als untragbar. Mit dem Grundgesetz ist die Mißachtung des Lebens durch den kaiserlichen Strafenkatalog schon gar nicht in Einklang zu bringen, das die Unantastbarkeit der menschlichen Würde und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit über alle Rechtswerte stellt. „Das Grundgesetz sieht die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde als höchsten Rechtswert an”, hat das Bundesverfassungsgericht in zahlreichen Entscheidungen betont, „nach der Gesamtauffassung des Grundgesetzes ist die freie menschliche Persönlichkeit der oberste Wert”. So wird es allmählich Zeit, das Strafgesetzbuch der Verfassung anzunähern.

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