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Ein Schritt vor, zwei zurück?

Verfassungswidriges Polizeirecht in Sachsen-Anhalt. Aus: vorgänge Nr. 209 (Heft 1/2015), S. 116-122

(Red.)Im vergangenen Jahr hat das Landesverfassungsgericht von Sachsen-Anhalt zahlreiche Bestimmungen des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes des Landes für nichtig erklärt bzw. Korrekturen eingefordert. Gegenstand des Normenkontrollantrags der beiden Oppositionsfraktionen im Landtag waren u.a. Befugnisse zur repressiven wie präventiven Kommunikationsüberwachung (u.a. Quellen-TKÜ), zu unfreiwilligen ärztlichen Untersuchungen, zur Videoaufzeichnung polizeilicher Einsätze und zu Alkoholverboten. Anna Luczak und John Philipp Thurn kommentieren die einzelnen Entscheidungen des Gerichts und gehen auch auf den mittlerweile vorliegenden Gesetzentwurf ein, mit dem die gerichtlichen Auflagen zur Beschränkung einzelner Maßnahmen umgesetzt werden sollen.

Einleitung

Am 26. März 2013 beschloss  der Landtag von Sachsen-Anhalt das 4.  Änderungsgesetz zum  Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt (SOG LSA).(1) Hiergegen erhoben Abgeordnete der Fraktionen Die LINKE und BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN  eine abstrakte Normenkontrolle beim Verfassungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt (LVerfG). Nach mündlicher Verhandlung vom 25. September 2014 hat das LVerfG mehrere der neuen Vorschriften für mindestens teilweise verfassungswidrig erklärt.(2) Als Reaktion haben die Regierungsfraktionen am 16. April 2015 einen Entwurf für ein 5. Änderungsgesetz des SOG LSA in den Landtag eingebracht.(3) Im Einzelnen geht es dabei um so unterschiedliche Maßnahmen wie die präventive Telekommunikationsüberwachung, die körperliche Untersuchung von Personen bei angenommener Infektionsgefahr, die Ermächtigung zum Erlass von Alkoholverbotsverordnungen und die Erlaubnis zur Videoaufzeichnung bei polizeilichen Kontrollen.

Einen klaren Erfolg verzeichnet die Normenkontrolle: Auf die für verfassungswidrig erklärte Regelung zur so genannten Quellen-TKÜ (§ 17 c SOG LSA), gesetzestechnisch „Erhebung von Telekommunikationsinhalten und -umständen in informationstechnischen Systemen“  (umgangssprachlich „Trojaner“), verzichtet die Parlamentsmehrheit nunmehr. Da es bisher keine technische Gewährleistung gibt, dass die entsprechende Software nicht auch eine umfassende „Online-Durchsuchung“ der betroffenen Computer ermöglicht, sind entsprechende Regelungen nach dem LVerfG verfassungswidrig.(4) Wie groß der Freiheitsgewinn dadurch ist, dass nun eine der vielen auf diesem Feld aktiven in- wie ausländischen Sicherheitsbehörden keine legale Überwachungsbefugnis mehr hat, sei allerdings dahingestellt.

Vorüber­ge­hend nicht zu erreichen

Vom LVerfG unbeanstandet und auch im Gesetzentwurf unverändert bleibt die 2013 neu eingeführte Regelung des § 33 SOG LSA zur Unterbrechung und Verhinderung jeglicher Kommunikationsverbindungen (also nicht nur aller Mobilfunk- oder sonstigen Telefonverbindungen). Nach dieser Regelung dürfen zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für eine Vielzahl von Rechtsgütern – neben Leib, Leben oder Freiheit einer Person auch der Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes – eine bestimmte oder auch alle Kommunikationsverbindungen in einem bestimmten Bereich unterbrochen werden. Die Vorschrift ermächtigt damit die Polizei, für längere Zeit  ganze Viertel von der Kommunikation untereinander und mit der Außenwelt abzuschneiden. Bis zu zwei Tage lang kann dies sogar ohne richterliche Anordnung geschehen.

Es steht zu befürchten, dass diese Befugnis – anders als etwa bei der entsprechenden Vorschrift im Berliner Polizeigesetz(5), die auf konkrete Konstellationen wie einen Bankraub zugeschnitten ist – auch in Zusammenhang mit Demonstrationen Anwendung finden wird. Damit könnten Menschen daran gehindert werden, bei größeren Versammlungen die Gruppe ausfindig zu machen, mit der sie „mitlaufen“ wollen. Das LVerfG erklärte die Versammlungsfreiheit für nicht berührt, weil deren Schutzbereich nicht die Nutzung von Mobilfunknetzen umfasse. Damit verkennt das Gericht, dass die weite Fassung der Vorschrift solche Einschränkungen von Demonstrationen durchaus mit sich bringen kann, obwohl dafür keinerlei Notwendigkeit besteht. Auch hat sich das LVerfG nicht mit der Frage beschäftigt, welche Gefahren für die körperliche Unversehrtheit oder den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes es sein sollen, bei denen das Abschalten jeglicher Kommunikation verhältnismäßig sein könnte. Es ist zu erwarten, dass die Justiz nun mit extensiven Abschaltvorgängen befasst wird, da das offen formulierte Gesetz zu fehlerhaften Anordnungen geradezu  einlädt.

Abhören präventiv

Das LVerfG hat trotz der bereits im Gesetzgebungsverfahren erhobenen Bedenken und entgegen dem Normenkontrollantrag die weit reichenden Abhörmöglichkeiten für die Polizei im Vorfeld von strafrechtlich relevanten Handlungen für verfassungsmäßig erklärt. Einzig die gefahrenabwehrrechtliche Inanspruchnahme von Personen, die nicht Verursacher einer Gefahr sind (in der Terminologie des Polizeirechts: „Nicht-Störer“), wie sie § 17 b Abs. 3 Nr. 3 SOG LSA vorsah, wurde  für verfassungswidrig erklärt. Die Begründung bezieht sich auf die sicherheitsrechtliche Grundregel, wonach Nicht-Verantwortliche nur in bestimmten Sonderfällen in Anspruch genommen werden dürfen (§ 10 SOG LSA). Da das Gericht keinen Grund für eine Ausnahme zu dieser Regel sah, erklärte es die Vorschrift für nichtig. Im neuen Gesetzesentwurf ist nun ein Zitat der Grundregel für die Nicht-Störer-Haftung enthalten.

Dass aber auch schon § 17b Abs. 3 Nr. 2 SOG LSA eine Vielzahl von Personen betrifft, zum Beispiel wenn sie für angenommene „Störer“ Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben, oder wenn ihr Anschluss sogar ohne ihr Wissen von solchen „Störern“ benutzt wird, hat das Gericht nicht beanstandet. Es ist jedoch zu bezweifeln, ob eine Überwachung von Kontaktpersonen bereits bei reinen „Gefahren“-Lagen – anders als bei den entsprechenden Regelungen zur Aufklärung von konkreten Straftaten nach der Strafprozessordnung – überhaupt erforderlich und damit grundrechtlich zu rechtfertigen ist.

Der nach § 17b Abs. 5 SOG LSA und § 17 Abs. 4b ff. SOG LSA zulässigen automatisierten Erhebung von Daten aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung widmet das LVerfG ganze zwei Sätze. Danach darf von der Befugnis nur in nicht näher bestimmten „besonders gelagerten Ausnahmefällen Gebrauch gemacht werden“.(6)Nicht eingegangen wird dabei auf die Argumentation des Normenkontrollantrags, dass zur Abwehr gegenwärtiger Gefahren (anders als zur Strafverfolgung) eine automatisierte Aufzeichnung zur späteren Auswertung von vornherein ungeeignet ist. Der verfassungsrechtlich von der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Grundgesetz umfasste Kernbereich privater Lebensgestaltung bleibt damit, wie § 17b Abs. 5 Satz 2 SOG LSA vorschreibt, nur geschützt „soweit technisch möglich“.

Überhaupt sah das LVerfG die präventive Telekommunikationsüberwachung nur unter einem  Aspekt als problematisch an: der Eil-Kompetenz für die Polizei, die aufgrund einer verkürzten Verweisung zur Folge hatte, dass statt einer Richterin jeder Polizeibeamte gleich welchen Ranges entscheiden durfte. Wie vom Gericht nahe gelegt, sieht der neue Gesetzesentwurf nun vor, dass nur die Behördenleitung entscheiden darf. Auch hier befasst sich die Entscheidung trotz ausführlicher Hinweise im Normenkontrollantrag nicht mit der aus vielzähligen Entscheidungen des BVerfG bekannten Problematik, dass der Richtervorbehalt in der Praxis oft umgangen wird und daher besondere Vorkehrungen getroffen werden müssten, um ihn effektiv auszugestalten.

Unfrei­wil­lige Krank­heits­tests

Nur vom Richtervorbehalt handelt auch die aufgrund des verfassungsgerichtlichen Urteils umgesetzte Änderung der Vorschrift zu den unfreiwilligen Krankheitstests. Die Eilkompetenz der Polizei zur Anordnung von körperlichen Untersuchungen wegen von der Polizei angenommener Infektionsgefahren wurde gestrichen (§ 41 Abs. 6 S. 2 SOG LSA).

Dass die Vorgaben des Gesetzes, wann eine Untersuchung  von nicht medizinisch ausgebildeten Personen angeordnet werden darf, nur schwer überprüft werden können, hat das LVerfG nicht problematisiert. Dabei liegt auf der Hand, dass es auch für die Justiz nicht ohne weiteres feststellbar ist, ob Tatsachen vorliegen, die „die Annahme rechtfertigen, dass von [einer Person] eine Gefahr für Leib oder Leben einer anderen Person ausgeht  ist, weil es zu einer Übertragung besonders gefährlicher Krankheitserreger gekommen sein kann, die Kenntnis des Untersuchungsergebnisses zur Abwehr der Gefahr erforderlich ist und kein Nachteil für die Gesundheit der oder des Betroffenen zu befürchten ist“. Irrationale Ängste, die zu grundrechtswidrigen und diskriminierenden Praktiken führen können, offenbarte etwa die Anhörung im Gesetzgebungsverfahren: Ein von der Polizei entsandter Sachverständiger äußerte, dass nach einem Transport einer HIV-positiven Person grundsätzlich der Dienstwagen desinfiziert werden müsse.

Auch die Sorge vor Infektionskrankheiten von Menschen aus (bestimmten) anderen Ländern kam zur Sprache und ließ aus anti-rassistischer Perspektive Ungutes vermuten – gerade in einem Bundesland wie Sachsen-Anhalt. Es hätte insofern durchaus nahe gelegen, in den Gesetzestext zumindest eine prozedurale Vorgabe aufzunehmen, wonach eine mit der Durchführung betraute medizinisch qualifizierte Person zunächst überprüfen muss, ob nach dem Vortrag der anordnenden Stelle im konkreten Fall überhaupt eine Infektion möglich ist, und dass die Untersuchung nur nach schriftlicher Bestätigung dieses Risikos durchgeführt werden darf. Ohne eine solche Mindestabsicherung scheint entgegen dem LVerfG fraglich, dass tatsächlich „die Gefahr einer missbräuchlichen und diskriminierenden Verdächtigung bestimmter Personengruppen minimiert“ wird.(7) Nur am Rande: Sitz des Gerichts ist Dessau, der Ort, an dem 2005 Oury Jalloh nach einer rechtswidrigen Festnahme in einer Polizeizelle verbrannte.

Anhalten bitte – wir filmen

Eins zu eins umgesetzt hat der Gesetzesentwurf  die Vorgabe des LVerfG zu der Erlaubnis, polizeiliche Kontrollen zu filmen. Dies ist nach dem neuen Entwurf nicht mehr bei lediglich entsprechenden „Lageerkenntnissen“, sondern erst bei „tatsächlichen Anhaltspunkten“ zulässig dass dies zur Abwehr einer Gefahr für Leib oder Leben der Polizeibeamten erforderlich ist“ (§ 16 Abs. 3 SOG LSA).

Die Einschränkung ist zu begrüßen, auch wenn das LVerfG die in diesem Tatbestandsmerkmal steckende maßlose Ermächtigung der Exekutive nicht in der gebotenen Schärfe zurückgewiesen hat. Erfreulich klare Worte zum bloßen Erfordernis „konkreter Lageerkenntnisse“ hat jüngst das Hamburgische Oberverwaltungsgericht  in seiner Entscheidung zu den Gefahrengebieten gefunden: Darin liege keinerlei „relevante, die polizeilichen Befugnisse schon auf der Normebene beschränkende Eingriffsschwelle“ und die nachträgliche Rechtskontrolle durch Gerichte werde weitgehend inhaltslos.(8)

Grundsätzlich zu bezweifeln bleibt, ob überhaupt ein Erfordernis für eine entsprechende Regelung besteht, denn eine „wachsende Gewaltbereitschaft gegenüber Polizeibeamten“(9) ist empirisch keineswegs belegt.(10) Mindestens leichtfertig ist es auch, wie das LVerfG die Geeignetheit der Bildaufzeichnung zur Prävention nicht etwa mit der parlamentarischen Einschätzungsprärogative begründet, sondern es ohne jeden Nachweisversuch für „nicht von der Hand zu weisen“ erklärt, dass es bei laufender Kamera „zahlreiche potenzielle Täter gibt, die in einer solchen Situation zurückhaltender reagieren und von Gewalttaten ablassen“. Jedenfalls hätte es in diesem Zusammenhang sehr nahe gelegen, zumindest eine Pflicht zum Hinweis auf die Aufnahme zu postulieren. Das LVerfG verlangt aber ohne Begründung weder dies noch andere datenschutzrechtlichen Standards, wie eine Bindung der Daten an den Erhebungszweck oder eine Pflicht zur anschließenden Löschung.

Zwar hat das LVerfG mögliche Einschränkungen der Versammlungsfreiheit  gesehen, sie aber mit dem Hinweis abgetan, dass bei einer videographisch aufgezeichneten Kontrolle im öffentlichen Verkehrsraum auf dem Weg zu einer Versammlung „keine spezifische Abschreckungswirkung“ vorliege und es „für jeden Versammlungsteilnehmer mit friedlicher Grundeinstellung einsichtig [sei], dass eine solche Maßnahme nicht gegen die Versammlungsteilnahme gerichtet ist, sondern dem legitimen Schutz der Einsatzbeamten dient“.(11) Damit nähert sich die Entscheidung der rechtsstaatswidrigen Annahme, Überwachung greife nicht in Freiheiten ein, sondern diene mit der Sicherheit geradezu der Grundlage jeder Freiheit.(12)

Kein Alkohol bleibt auch keine Lösung

Bürgerrechtsfreundlich sind dagegen die Ausführungen des LVerfGs zu der Norm, auf deren Grundlage Kommunen zur Gefahrenvorsorge den Verkauf und Verzehr von Alkohol sowie den Verkauf und das Mitführen von „Glasgetränkebehältnissen“ verbieten durften (§ 94 a Abs. 2-4 SOG LSA): Diese Ermächtigung sei eine unverhältnismäßige Beschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Berufsfreiheit.

Die für verfassungswidrig erklärte Vorschrift war als Reaktion auf eine Entscheidung des OVG Sachsen-Anhalt von 2010 geschaffen worden, wonach die allgemeine Ermächtigung zum Erlass von Gefahrenabwehrverordnungen (§ 94 SOG LSA) keine gesetzliche Grundlage für pauschale Alkoholkonsumverbote im öffentlichen Raum bot. Wie die deutschlandweit ganz überwiegende jüngere Rechtsprechung(13) hatte das OVG am hergebrachten Begriff der (abstrakten) Gefahr festgehalten und es für nicht nachgewiesen erklärt, dass „der Genuss von Alkohol außerhalb der nach Gaststättenrecht konzessionierten Flächen regelmäßig und typischerweise die Gefahr von Körperverletzungen, Sachbeschädigungen und Lärmbelästigungen mit sich bringt“(14).

Die neue Gesetzesgrundlage für Verbotsverordnungen bereits zur Gefahrenvorsorge erklärte das LVerfG  für einen unverhältnismäßigen Eingriff in die betroffenen Freiheitsrechte. Die im Umweltrecht angesichts komplexer, erst langfristig schädlicher Emissionen etablierte Vorsorge könne nicht einfach auf das verhaltensbezogene Gefahrenabwehrrecht übertragen werden: Der parlamentarische Gesetzgeber müsse insoweit „belastbare Erkenntnisse zu Gefährdungswahrscheinlichkeiten auf Grund bestimmter Verhaltensweisen nachvollziehbar und tragfähig […] begründen“ und habe kein „begründungsfreies Abwägungs- und Gestaltungsrecht“.(15)

Diese freiheitsrechtlichen Begrenzungen hyper-präventiver Maßnahmen, die den öffentlichen Raum nach dem Leitbild von Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit zurichten sollen, überzeugen verfassungsrechtlich. Im Gegensatz etwa zur Haltung bestimmter Hunderassen fehlt nach allen vorliegenden sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen ein Kausalitätszusammenhang zwischen dem öffentlichen Alkoholkonsum (außerhalb von kommerziellen Freischankflächen…) und der Begehung von Straftaten, weswegen Verordnungsermächtigungen zur Gefahrenvorsorge unverhältnismäßig in Freiheitsrechte eingreifen.(16)

Rechtspolitisch wird allerdings weiterhin auch in Sachsen-Anhalt gegen entsprechende Verbotsverordnungen zu kämpfen sein. Denn die Begründung des aktuellen Gesetzentwurfs geht unbelehrt davon aus, derartige Maßnahmen ließen sich alternativ auf die traditionelle Verordnungsermächtigung (§ 94 SOG LSA) stützen: Denn das OVG habe  nur für den Magdeburger Einzelfall einen Kausalitätsnachweis vermisst.

Födera­lismus und Freiheit

Über die einzelnen Vorschriften hinaus – zu denen weitere kämen, die aber nicht Gegenstand des Normenkontrollantrags waren  – passt die Entwicklung des Polizeirechts in Sachsen-Anhalt insgesamt. Sie folgt einem Trend im Recht der „Inneren Sicherheit“: Verfassungsgerichtliche Entscheidungen setzen neuartigen behördlichen (Überwachungs-)Befugnissen nur zurückhaltend Grenzen; die Maßstäbe der Rechtsprechung werden sodann von Regierungen und Parlamentsmehrheiten nicht als äußerster Rahmen des gerade noch Legalen behandelt, sondern soweit wie möglich als Anleitung zu neuen Grundrechtseingriffen verstanden. Der Innenminister Sachsen-Anhalts, Holger Stahlknecht (CDU), brachte es in der ersten Lesung zum neuen Gesetzentwurf so auf den Punkt: „Man hätte sicherlich in Teilen auch anders entscheiden können. Aber es wird jetzt so umgesetzt, wie das Landesverfassungsgericht das vorgegeben hat.“(17) Im Ergebnis sind die Freiheitsrechte einer Kumulation derjenigen sicherheitsbehördlichen Befugnisse ausgesetzt, die im Bund und in den 16 Bundesländern für jeweils gerade noch verfassungskonform gehalten werden.

Überhaupt bietet paradoxerweise der Föderalismus, der an sich im Sinne einer vertikalen Gewaltenteilung die Freiheitsgefährdungen exekutiver Zentralisierung begrenzen könnte, einen strukturellen Vorteil für die Vertreter einer bürgerrechtsfernen Law and Order-Politik: Im Bund und in den 16 Ländern  wird ein Wettbewerb um die aus Sicht der Sicherheitsbehörden optimalen Befugnisse ausgetragen, ohne dass von bürgerrechtlicher Seite gerade in der Fläche entsprechende Kapazitäten bestünden, um Gegenpositionen Gehör zu verschaffen. Vor diesem rechtspolitischen Hintergrund kann vielleicht auch das verfassungsrechtlich plausibel begründete Anliegen des Normenkontrollantrags gedeutet werden, vielen Vorschriften des SOG LSA bereits die fehlende Gesetzgebungskompetenz des Landes entgegen zu halten.(18) Der Verweis auf das Infektionsschutzgesetz als abschließende, § 41 Abs. 6 SOG LSA sperrende bundesrechtliche Regelung mag ein Spezialfall sein, die Auseinandersetzung um die Grenze zwischen der Verhütung von Straftaten und der Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten betrifft dagegen alle Bundesländer. Bezeichnender Weise argumentiert das LVerfG (im Fall der Telekommunikationsüberwachung nach § 17 b SOG LSA) dabei, zugunsten des effektiven Rechtsgüterschutzes dürfe „das Kompetenzrecht nicht zur Beschränkung der Handlungsfähigkeit des Staates führen, sondern muss im Sinne einer funktionsgerechten Auslegung diese sichern“.(19) Ein solch obrigkeitsstaatliches Verständnis von (Gesetzgebungs-)Zuständigkeiten dürfte andernorts angesichts einer noch immer existierenden liberalen Medienöffentlichkeit zumindest auf deutlich mehr Kritik stoßen als in Sachsen-Anhalt.

ANNA LUCZAK und JOHN PHILIPP THURN   sind als Rechtsanwältin bzw. Referendar in Berlin tätig. Beide haben für den Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein eine Stellungnahme zum strittigen Gesetzentwurf der Novellierung des SOG abgegeben.

Anmerkungen:

(1)  4. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt v. 26. 3. 2013, LT-Drs. 6/3987.

(2)  Aktenzeichen LVG 9/13.

(3)  5. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt.

(4)  S. 35 der Entscheidung; s.a. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Urteil des Ersten Senats v. 27.02.2008, 1 BvR 370/07.

(5)  Allgemeines Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin –ASOG.

(6)  S. 34 der Entscheidung.

(7)  S. 39 der Entscheidung.

(8)  Hamburgisches OVG, Urt. v. 13. Mai 2015, 4 Bf 226/12 – juris, Rn. 53 f.

(9)  S. 29 der Entscheidung.

(10) Siehe dazu etwa Puschke/Singelnstein,  Zu den Änderungen beim Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, in: NJW 2011, S. 3473 m.w.N.

(11)  S. 30 der Entscheidung.

(12)  In diese Richtung etwa das  Sondervotum der Richterin Haas zur Rasterfahndung, BVerfGE 115, 320 (371 [insbes. 374 f.]).

(13)  Ausgehend von VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 28.07.2009, 1 S 2200/08; vgl. Thüringer OVG, Urt. v. 21.06.2012, 3 N 653/09;  Ausnahme: OVG Lüneburg, Urt. v. 30.11.2012, 11 KN 187/12.

(14)  OVG LSA, Urt. v. 17.03.2010, 3 K 319/09 – juris, Rn. 45.

(15)  S. 42 der Entscheidung.

(16)  So bereits überzeugend Hecker,  Neue Rechtsprechung des VGH Mannheim zum Alkoholkonsum im öffentlichen Raum, in:  NVwZ 2010, S. 359 (363).

(17)  Plenarprotokoll 6/88 vom 23.04.2015, Bl. 7289.

(18)  Siehe S. 6 ff. der Entscheidung.

(19) S. 32 der Entscheidung.

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