„Wenn niemand sich mehr traut, den Mund aufzumachen, ist die Innere Führung als Leitbild am Ende.“
Gespräch mit Florian Kling vom Darmstädter Signal, in: vorgänge Nr. 218 (Heft 2/2017), S. 79-83
Der Fall Marco A. hat offenbart, dass Bundeswehroffiziere mutmaßlich Morde an deutschen Politikern planten und den Verdacht auf Flüchtlinge lenken wollten. Damit wurde das öffentliche Interesse wieder einmal auf die Existenz rechtsradikaler Gesinnungen in der Bundeswehr gelenkt. Die Bundeswehr-kritische Organisation „Darmstädter Signal“ – überwiegend von Bundeswehr-Angehörigen getragen – forderte bereits im September 2015 in einem Schreiben an Bundesverteidigungsministerin von der Leyen eine „stärkere demokratische Führungskultur“ in der Bundeswehr.
Wir fragen Hauptmann Florian Kling als Sprecher des Darmstädter Signals nach seiner Bewertung der Skandal-Vorkommnisse in der Bundeswehr.
(vorg) Anlass Ihrer Forderung an die Bundesverteidigungsministerin war das seinerzeit erschienene Buch „Armee im Aufbruch“ von jungen Offizieren der Bundeswehruniversität. In ihm wird die Innere Führung infrage gestellt und ein neues Selbstverständnis für eine Profi-Armee gefordert. War das Buch bereits ein Symptom für die aktuellen rechtsradikalen Vorkommnisse in der Bundeswehr und für die Abkehr von der identitätsstiftenden Grundlage der Bundeswehr, wie sie das Bild vom Staatsbürger in Uniform und der Inneren Führung vorsieht?
(FK) Die Beiträge in diesem Buch lieferten deutlich sichtbare Zeichen, dass das Konzept der Inneren Führung nicht mehr im Vordergrund der Ausbildung junger Offiziere steht. Bereits seit Gründung der Bundeswehr wird innerhalb der Truppe mit dem eigenen Selbstverständnis gerungen und über andere Leitbilder nachgedacht. Die Soldaten haben richtig erkannt, dass sie in der Gesellschaft zu wenig wahrgenommen werden und die Auslandseinsätze in den Köpfen der deutschen Bevölkerung quasi nicht präsent sind. Selbst suchen sie dann verständlicherweise auch nach anderem Rückhalt für ihre Tätigkeit. Unsere für die deutsche Demokratie angelegte Armee ist in einer tiefen Krise und Sinnsuche. Aber auch dem Verteidigungsministerium muss man vorwerfen, sich nicht aktiv um die Stärkung der „Inneren Führung“ bemüht zu haben. Wenn es nur noch darum geht, die vielen Auslandseinsätze in 16 verschiedenen Ländern zu bestücken, die massiven Probleme an Ausrüstung und Personalengpässen zu bekämpfen, fällt allzu oft die Priorisierung der politischen Bildung im Dienst hinten runter.
Befördert der Rollenwechsel von der Verteidigungsarmee hin zu einer Einsatzarmee, die für außen- und machtpolitische Interessen und zur Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen in Anspruch genommen wird, die Orientierung an falschen Vorbildern wie der Wehrmacht) Welche Rolle spielt eine Auslandseinsätzen mehrheitlich kritisch gegenüberstehende Öffentlichkeit, die den Soldaten insofern keine gesellschaftlich-politische Unterstützung gibt?
Eindeutig sind politische Legitimation der Auslandseinsätze und der Wunsch der Soldaten, etwas Gutes zu tun für ihre Gesellschaft und die hilflosen Menschen in den Krisengebieten, nicht mehr auf einer Linie. Neben der gesetzlichen Mandatierung und Legitimierung bedarf es immer auch der moralisch-wertgebundenen und sinnhaften Zielsetzung eines Einsatzes. Ein militärisches Eingreifen in einen Konflikt ist nur dann sinnvoll, wenn eine wesentliche Verbesserung der Lebensumstände und das Ende der Gewaltherrschaft und kriegerischen Handlungen realistisch sind. In der Einsatzarmee sterben Soldaten, und die Hinterbliebenen fragen sich zu Recht, wofür ihre Kameraden ihr Leben geben mussten.
Am Afghanistan-Krieg zeigt sich beispielhaft, wie wenig erfolgreich die Stabilisierung und Friedensschaffung am Hindukusch war. Derzeit droht das Land, wieder in die Hände der Taliban und sogar des IS zu geraten. Wenn das passiert, ist faktisch auch der Einsatz gescheitert, und der Krieg wurde verloren. Die Soldaten stellen fest, dass ihnen in Deutschland das niemand großartig dankt und vielmehr sogar bereits vor vielen Jahren das echte Interesse an einer langfristigen Lösung in Afghanistan nachgelassen hat. Zudem hat ihr Einsatz dann leider keine dauerhafte Verbesserung gebracht.
Die verantwortliche Politik geht der Feststellung dieses Scheiterns aus dem Weg und lässt die Soldaten mit dieser Erkenntnis alleine. Einige Staatsbürger in Uniform versuchen jetzt, aktiv in der Politik Einfluss auszuüben und fordern beispielsweise eine professionelle Aufarbeitung des ISAF-Einsatzes im Bundestag. Andere Soldaten wenden sich ab und suchen ihre Sinnstiftung und Motivation in anderen Konzepten – teilweise wie in der Wehrmacht in archaischen Vorstellungen von Ehre, Tapferkeit oder professionellem Kämpfertum. Dazu bedarf es dann keiner demokratischen Rückbesinnung mehr.
Wie ausgeprägt ist dieser Hang zur falschen Traditionspflege, die von entwürdigenden Initiationsriten und teilweise sadistischen Ausbildungsmethoden begleitet wird?
Der beschriebene Traditionalismus innerhalb der Truppe hängt nicht zwangsläufig mit den Verfehlungen und Skandalen zusammen. Zwar zeigen die zeitgleich bekanntgewordenen Vorfälle, dass auch hier der innere Kompass einiger Soldaten noch nicht ausgebildet ist und Erziehungsmängel vorliegen, aber das hat mehr mit fehlender Dienstaufsicht durch Vorgesetzte und einzelnen Fehlern und Dummheiten junger Menschen zu tun. Wo junge Menschen zusammenkommen und alleingelassen werden, passieren solche Taten. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass vorbildhafte Vorgesetzte ein gutes und ehrliches Vertrauensverhältnis zu ihren unterstellten Soldaten haben. Ihre Aufgabe ist es, in einer demokratischen Armee nicht am Schreibtisch zu sitzen und bürokratische Arbeiten zu erledigen, sondern vor allem sich um die Ausbildung und Erziehung des ihnen anvertrauten Personals zu kümmern. Dazu bedarf es aber auch von oben den notwendigen Rückhalt und Verantwortungsspielraum für die Offiziere. Erst wenn ein Vorgesetzter auch Entscheidungen treffen darf und muss, wird er von seinen Soldaten ernst genommen und kann Vorbild sein.
Unter Bundesverteidigungsministerin von der Leyen erfolgten überwiegend technokratische Reformbemühungen in der Bundeswehr, z.B. zur Einhegung des Rüstungsbeschaffungs(un)wesens. Trifft es zu, dass dies zu Lasten ernsthafter Anstrengungen im Bereich Demokratisierung und Innerer Führung der Bundeswehr ging?
Die ganz praktischen Probleme der Bundeswehr in Ausrüstung und Personal müssen selbstverständlich von jedem Ministerium angegangen und gelöst werden. Wir haben alle ein Interesse daran, dass unsere Soldaten bestmöglich geschützt sind, wenn sie schon vom Parlament in ein Gefahrengebiet geschickt werden. Aber auch hier gilt die militärische Devise, dass erst einmal die Grundlagen für ein militärisches Vorgehen geschaffen sein müssen. Grundlagen sind neben Ausrüstung und Personal vor allem auch eine Strategie und die Definition des Zielzustandes.
Auch in Mali hat von der Leyen versäumt, von der Politik ein Mandat zu fordern, das genau definiert, was dort eigentlich erreicht werden soll und unter welchen Umständen wir das Land wieder verlassen. Ohne Konzept und sicherheitspolitische Strategie war die Umsetzung der Inneren Führung nie wirklich möglich, schließlich fordert gerade dieses Konzept dazu auf, dass die Soldaten von sich heraus wissen, wofür sie kämpfen und einstehen. Erst durch einen aufgeklärten Dialog der Soldaten mit der Führung und der Politik kann das Beste entstehen, was eine demokratische Armee zu bieten hat – nämlich 200.000 Menschen, die alle an einem Strang ziehen und gemeinsam sinnvolle Ziele erreichen.
Aus den Lehren der Vergangenheit wollen wir Soldaten, die Entscheidungen selbst durchdenken und nach ihrem Gewissen handeln, statt blindem Gehorsam zu folgen. Dieses Ziel ist mit immer mehr alltäglichen Problemen und immer mehr Auslandseinsätzen zu kurz gekommen.
Wenn jetzt ein Mehr an politischer Bildung in der Bundeswehr gefordert wird, gehört dazu nicht auch, dass die Bundeswehr in ihrer Gründungsgeschichte personell durchaus an die Wehrmachtseliten angeknüpft hat? Ist es nicht ein Zeichen von Orientierungslosigkeit, wenn das Foto des ehemaligen Bundesverteidigungsministers Helmut Schmidt, das ihn in Wehrmachtsuniform im Jahr 1940 zeigt, von der Bundeswehrakademie in Hamburg abgehängt wurde – in sich überschlagender „Traditionssäuberung“, die eigentlich viel tiefer und gründlicher ansetzen muss?
Zur Tradition der Bundeswehr gehört ein gesundes und vor allem aufgeklärtes Verständnis der Geschichte. Jeder weiß, dass die Bundeswehr nicht in einem Vakuum entstanden ist. Helmut Schmidt in Wehrmachtsuniform zeugt von dieser Geschichte. Geschichte lässt sich aber nicht auslöschen und schon gar nicht säubern, ohne dabei unsere eigentliche Identität zu verleugnen und unsere demokratischen Grundsätze von heute über Bord zu werfen. Natürlich bietet die Wehrmacht keinen geistigen Anknüpfungspunkt für unser heutiges militärisches Selbstverständnis. Auch militärisch lässt sich nur wenig „Handwerkszeug“ aus der Geschichte für heutige Manöver und Einsätze gebrauchen – und damit in die Bundeswehr „hinüberretten“. Aber heutige Mitglieder der Bundeswehr haben schon wegen ihrer späten Geburt mit der Wehrmacht nichts mehr zu tun, außer der historischen Aufarbeitung der Geschichte und das Wissen um die Lehren, die unsere Vorfahren daraus gezogen haben. Wir sollten dazu kommen, endlich Tradition und Sinnsuche in der eigenen sechzigjährigen Geschichte zu suchen und die Wehrmacht nur noch im Militärgeschichtsunterricht behandeln. Dass Gegenstände und Museumsstücke der Wehrmacht in Kasernenzimmern nichts verloren haben, und wenn überhaupt nur eingeordnet in den historischen Kontext, ist selbstverständlich.
Was genau ist gemeint, wenn das Darmstädter Signal im Zusammenhang mit demokratischer Führungskultur von „struktureller Verantwortungslosigkeit“ in der Bundeswehr spricht? Auf welchen Ebenen gibt es sie und wodurch ist sie entstanden?
Derzeit herrscht eine Absicherungsmentalität bei vielen Vorgesetzten, die selbst nicht mehr das Gefühl haben, genug Vertrauen ihrer übergeordneten Führung zu genießen. Strittige Fragen und Entscheidungen werden, statt mutig getroffen zu werden, lieber nach oben weitergereicht oder an andere Stellen abgegeben. Durch dieses Vorgehen hat niemand einen Fehler begangen, und niemand muss sich für getroffenen Entscheidungen selbst verantworten – die eigene Karriere ist gesichert. Vorbilder für junge Soldaten bilden sich so leider nicht heraus. Wenn niemand sich mehr traut, den Mund aufzumachen, seine eigene Meinung zu vertreten, mutige Entscheidungen zu fällen und auch Fehler zu begehen, ist die Innere Führung als Konzept und Leitbild am Ende. Diese bürokratische Mentalität wird leider von ganz oben gefördert und gelebt. Kaum macht ein Soldat einen Fehler, lässt ihn die Ministerin aus dem Amt entfernen. Bei allen Skandalen der letzten Monate wurde das Mikromanagement des Verteidigungsministeriums immer wieder deutlich. Bis auf die kleinste Ebene wird durchregiert und entschieden. Damit nimmt die Ministerin den Vorgesetzten jede Luft zum Atmen und schafft ein Klima der Angst und blinden Bürokratie.
Was muss begleitend zur angekündigten Überarbeitung des sogenannten Traditionserlasses der Bundeswehr geschehen, um effektiv das Konzept vom Staatsbürger in Uniform zu verwirklichen? Welche konkreten Maßnahmen müssen getroffen werden, um die „Vorschrift zur Inneren Führung“ (ZDv 10/1) in der Truppe umzusetzen?
Lange Zeit war die Innere Führung ein Mittel für Stabsoffiziere, ihre Karriere aufzubauen und General zu werden. Das Zentrum Innere Führung in Bonn war der Elfenbeinturm einer kleinen Elite, die sich mit diesem Thema beschäftigte. Das muss sich ändern. Jede Einheit bis hinunter zur Kompanie braucht Kontakt mit der Inneren Führung und dafür einen hauptamtlichen Offizier, der sich um die Politische Bildung und die Innere Führung kümmert. Seine Aufgabe bestünde darin, sich intensiv auf Unterrichte vorzubereiten und die Einstellung der Truppe zu fördern, sowie mit den Soldaten über ihr Selbstverständnis zu sprechen. Bei größeren Problemen und Führungsfehlverhalten in der Einheit muss dieser Offizier Alarm schlagen und im Ernstfall externe Teams des Zentrums einbestellen, um Probleme aufzuarbeiten und die Vorgesetzten bei der Umsetzung ihrer disziplinarischen Tätigkeiten unterstützen. Das Leitbild der Bundeswehr darf nicht ausgelagert werden, sondern muss bei den Soldaten stattfinden – sonst wird es scheitern.
Was kann eine Bürgerrechtsorganisation wie die Humanistische Union dazu beitragen, dass ein Dialog zwischen Bundeswehr und (Zivil-) Gesellschaft zustande kommt und welche Themen sollten aus Ihrer Sicht dafür maßgeblich sein?
Im Rahmen der Politischen Bildung oder in Kursen zur Inneren Führung böte sich an, dass die zuständigen Offiziere auch auf ein Referentenangebot der HU zurückgreifen können. Neben der Militärseelsorge hat auch die Humanistische Union ihren Platz bei der Ausbildung des inneren Kompasses eines Soldaten und bei der Heranziehung von gefestigten Charakteren die wissen, was gut und schlecht ist. Das Zentrum Innere Führung sollte nicht nur im eigenen Saft köcheln, sondern auch externe Angebote in die Bundeswehr holen. Der Blick über den Tellerrand tut den Soldaten gut – vor allem seitdem es die Wehrpflicht und damit die natürliche Verbindung mit der Gesellschaft nicht mehr gibt.
Hat die Bundesverteidigungsministerin seinerzeit auf den Brief des Darmstädter Signals mit der Forderung nach „stärkerer demokratischer Führungskultur“ eigentlich geantwortet?
Wir haben keine Antwort erhalten.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Werner Koep-Kerstin.