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Die Gewalt, der Protest, der Antika­pi­ta­lismus und die Linke

in: vorgänge Nr. 219 (3/2017), S. 103

Bei aller Kritik an den Ausschreitungen während des Hamburger G20-Gipfels sollte die Linke den Gewaltbegriff nicht leichtfertig aufgeben, meint Michael Brie. Welche Bedeutung ein differenzierter Gewaltbegriff für die Praktiken Zivilen Ungehorsams hat und welche Debatten innerhalb der Linken um den Gewaltbegriff zu führen wären, skizziert Brie im folgenden Beitrag. Er bezieht sich auf Monika Frommels vorstehenden Text.

Die Reaktionen auf die Entfesselung von Gewalt im Schanzenviertel am 7. Juli während des G20-Gipfels hallen nach. Und dies ist gut so. Der Gegengipfel und die Gegendemonstrationen gingen in der breiteren Öffentlichkeit unter in den Bildern brennender Barrikaden, geplünderter Geschäfte, zerstörter Autos und triumphierender junger Männer mit Stangen vor Polizisten in voller Kampfmontur. Wer die Produktion der Bilder beherrscht, beherrscht die Ereignisse. Und dies haben einige Hundert Autonome der linken Szene aus Deutschland und Europa brillant geschafft. Sie haben den kreativen, bunten, friedlichen Protest vieler Tausender enteignet. Denn ohne diesen Protest der Vielen wäre die Imaginierung des Bürgerkriegs durch Wenige ein sinnloses Gehabe. Aber verbunden mit einer breiten Bewegung und legitimiert durch gemeinsame Ziele erhielt die inszenierte antistaatliche Gewalt ihre große Bedeutung.
Wer erinnert sich noch an die Demonstration auf der Binnenalster am 2. Juli mit 130 Booten, organisiert von B.U.N.D. bis hin zu Greenpeace, DGB und WWF. Ein Kohlefrachter erhielt die Parole „End Coal“ verpasst. Von den öffentlichen Straßenparties am 4. Juli ist vor allem die Räumung der Kreuzung Neuer Pferdemarkt mit Wasserwerfern bekannt. Die Protestcamps bleiben im Gedächtnis, weil die Behörden der Stadt sie aus dem Zentrum verbannen wollten und zu Schikanen griffen. Die wunderbare Kunstperformance „1000 Gestalten“ von Hamburger und Berliner Künstler_innen hat zumindest eindrucksvolle Bilder grauer trauriger Figuren hinterlassen, die plötzlich ganz farbig wurden. Es gab einen „Gipfel für globale Solidarität“ und vieles andere bis hin zur Abschlussdemonstration am 8. Juli mit 50 bis 80 Tsd. Teilnehmer_innen.
Beherrscht wird im öffentlichen Gedächtnis aber alles von einem Ereignis, dass in Wikipedia so beschrieben wird:
„Nach Polizeiprotokollen bewaffneten sich [am 7. Juli] ab etwa 19:00 Uhr rund hundert Personen im Schanzenviertel mit Eisenstangen, zündeten vor der Roten Flora ein Feuer an und bewarfen Einsatzkräfte mit Böllern. Daraufhin verlegte die Polizei Wasserwerfer und weitere Einheiten vor die Straße Schulterblatt. Gegen 20:00 Uhr wuchs die Menge auf rund 500 Personen, die weitere brennende Barrikaden errichteten. Nach 21:00 Uhr rückten Polizeikräfte gegen sie vor, zogen sich aber nach Bewurf mit Steinen und Flaschen wieder zurück. Dabei feuerten sie Gasgranaten und einen Warnschuss ab. Gummigeschosse waren nach Polizeiangaben wegen Querschlägergefahr untersagt. Ab 21:31 Uhr verweigerten die Einsatzkräfte wegen befürchteter Lebensgefahr Duddes Befehl zum Vorrücken. Er forderte daher Spezialkräfte (SEKs) an. In diesen Stunden brachen verschiedene Täter in einige Läden ein und plünderten sie. Andere schossen nach Polizeiangaben mit Zwillen auf die Einsatzkräfte. Einige warfen vom Dach des Hauses Am Schulterblatt (1) Gesteinsbrocken auf Polizisten und einen angezündeten Gegenstand, der verlosch (laut Polizei ein Molotowcocktail). Zwei SEKs räumten am Schulterblatt neun Gebäude, schossen anfangs Gummigeschosse auf eine Dachkante und richteten Ziellaser auf Personen. Zum Räumen benutzten sie Spezialmunition und laute Ablenkungsmunition. Laut Kommandoführer ergaben sich die gestellten Personen sofort; Angriffe auf Polizisten unterblieben.“ (Wikipedia 2017)

Gewalt und „Gewalt“

Es gab aus den verschiedensten Strukturen linker Organisationen viele Stellungnahmen. Sarah Wagenknecht verurteilte das Handeln der Autonomen im Schanzenviertel mit den Worten: „Diese Gewalttäter sind keine Linken, das sind Kriminelle“ (Bild-Zeitung 2017). Dies ist der Weg der politischen Exkommunikation. Egbert Scheunemann, ein linker Anwohner aus dem Schanzenviertel, schrieb, dass, wer so handle, „ein politikanalytischer und -strategischer Vollidiot“, „ein primär testosterongesteuerter, oft alkoholisierter jungmännlicher Triebtäter“ (Scheunemann 2017) sei. Dies ist der Weg der psychoanalytischen Entsorgung. Er trifft auch empirisch nicht, liest man die Berichte über das taktische Geschick, die Umkleidepraktiken, die Versuche, die eigene Gewalt unter Kontrolle zu halten, damit keine dauerhaften Personenschäden auftreten. Monika Frommel geht mit Verweis auf Jan Philipp Reemtsma eine ähnlichen Weg, indem sie die ausgeübte Gewalt als Selbstzweck versteht und den gewalttätigen Akteuren „zielgerichtetes Verhalten“ (S. 101) abspricht. Es gäbe keine „instrumentelle Rationalität“. Wie Reemtsma schreibt, würde durch Gewalt „der Einzelne in den Status der Machtwillkür“ (Reemtsma 2015, 13) eingesetzt. Und die Gruppe sei es, die dies verbürge. Der Ausstieg aus der Bürgerlichkeit und der Einstieg in die organisierte Gewalt biete eine ungeheure Steigerung von Lust am eigenen Leben. Reemtsma schreibt: „Die narzistischen Gewinne aus Bürgerlichkeit fallen bescheiden aus. Sie sind schmal, stellen sich gelegentlich […] ein […]. Demgegenüber sind die narzistischen Gewinne aus der permanent die Zugehörigkeit als Grandiosität wertenden Prämierung durch die Gruppe immens, nebst der Lizenz, Identität, sprich: Einzigartigkeit aus der existentiellen Aktion der Zerstörung zu gewinnen.“ (ebd., 14).
Es ist unbestreitbar, dass es diese Gewinne gibt. Die Thriller, Krimis, Computerspiele sind Formen, in denen diese Gewinne in „sublimierter“ Form eingefahren werden. Dies gilt für andere Formen der Lust auch – in der Liebe, dem Sport, dem Sex, der Kunst, der Muße.1 Gewalt hat aber ein Alleinstellungsmerkmal: „Eine Tat wird zur Gewalt, wenn sie den anderen, die andere bewusst zu verletzen sucht, seine, ihre leibliche und psychische Integrität absichtsvoll bedroht, ihn, sie deshalb zielgerichtet in (Todes-)Angst versetzt“ (Brie 2008, 105) (2). Von Gewalt muss dann gesprochen werden, wenn eine „absichtsvolle physische (und psychische – M. B.) Verletzung von Menschen durch Menschen“ erfolgt (Nunner-Winkler 2004, 28).
Monika Frommel macht es sich deshalb viel zu leicht, wenn sie gegen die „rituell beschworene Unterscheidung zwischen ‚Gewalt gegen Sachen‘ und ‚Gewalt gegen Personen‘“ polemisiert und im gleichen Satz hinzufügt: „wobei Polizisten – was ja bemerkenswert ist – nicht als Personen, sondern als Repräsentanten der Staatsgewalt umdefiniert werden“ (S. 99). Diese Unterscheidung ist aber politisch, ethisch wie auch strafrechtlich relevant und sollte nicht eingeebnet werden. Die Autonomen diskutieren sie intensiv. Würde ich im Gebirge einen Stein auspeitschen, wäre dies vielleicht ein Zeichen, ich müsste mich abreagieren und der Stein wäre symbolischer Stellvertreter einer oder eines anderen. Zur Gewalt gegen Sachen wird dies nur, wenn ich damit in die Verfügungsrechte anderer über diese Sachen eingreife, zum Beispiel durch Zerstörung oder Beschädigung eines Gegenstandes, der anderen gehört oder durch andere genutzt wird. Es kann dies eine legitime Form des Protests gegen ein enormes Machtgefälle und das Fehlen alternativer Widerstandsformen sein. Ein historisch gut belegtes Beispiel sind die Ludditen, die vor dem Hintergrund des Verbots gewerkschaftlicher Organisationsmöglichkeiten und brutaler Lohnpraktiken zur Zerstörung von Maschinen schritten (Bailey 1998). Eric Hobsbawm sprach von einem „collective bargaining by riot“ (Hobsbawm 1952). Die herrschenden Kreise Großbritanniens antworten mit einem Gesetz, das die Zerstörung von Maschinen unter Todesstrafe stellte. Der Dichter Byron feierte ihren Kampf in seinem Song of the Luddites als Beitrag zur Freiheit. Das „Schottern“ der Gleise für Castor-Transporte und das Anketten von Aktivist_innen, um die Züge zu blockieren, hatte eine ähnliche Funktion. Es ist dies ziviler Ungehorsam, dessen Legitimation umstritten ist. Gesetzliche Regeln werden bewusst gebrochen mit Verweis auf eine Gewissensentscheidung, deren Normen als höher eingestufte werden (King 1969). Die sog. Gewalt gegen Sachen im öffentlichen Raum mit Bezug auf politische Ziele ist nichts anderes als ziviler Ungehorsam. Überschritten wird eine Grenze, wenn billigend oder auch nur durch Nachlässigkeit die Gefährdung von Menschen in Kauf genommen wird. Ziviler Ungehorsam verlangt höchste Verantwortung und Kontrolle, damit dies nicht geschieht. Denn dann würde sie zur Gewalt. Positionen, bei denen Menschen qua Amt zu Sachen gemacht werden, wie Monika Frommel bemerkt (Polizist_innen, Politiker_innen, Manager_innen, Ausländer_innen), ebnen ihrerseits die genannte Differenz zwischen Gewalt gegen Personen und Beschädigung von Dingen ein. Solange es aber ein „utopisches Gefälle“ zwischen den immer neu definierten Menschenrechten und positivem Recht gibt (Habermas 2010) – also auf Dauer, bleibt das Problem des zivilen Ungehorsams virulent. Das Verwischen der Differenz zwischen Gewalt und Aktionen, die den verantwortungsvollen Eingriff in Eigentumsrechte des Staates oder von Unternehmen einschließen, würde von der einen Seite jeden zivilen Ungehorsam unmöglich machen, oder von der anderen Seite das Tor zum Terror öffnen, wie es für die RAF charakteristisch war, auf die sich Monika Frommel bezieht.

Die Besonderheit politisch legitimierter Gewalt

Tatsächlich gibt es Gemeinsamkeiten bei Gewalt und sie hat ihre Attraktivität, nicht zuletzt als lebensweltlich genussvolle Erfahrung der Täter. Der Ruf der Autonomen, dass die Freiheit in den Pflastersteinen liegt, drückt dies aus. Es gibt aber einen Unterschied zwischen unpolitischer und politischer Gewalt, auch wenn dieser Unterschied wie jeder andere fließend ist. Politische Gewalt (durchaus im weiten Sinne verstanden) braucht einen Raum der Unterstützer_innen und eine noch breitere Szene von Sympathisant_innen. Ohne diese Räume und Szenen ist es bloße kriminelle Gewalt und unterliegt breiter Ächtung. Wenn sich Minderheiten also, wie die linken Autonomen, auf gemeinsame Werte und Ziele der Linken beziehen, dann hat dies Konsequenzen für die Autonomen selbst und die breitere Linke.
Erstens haben diejenigen, die zu Gewalt greifen und dies politisch rechtfertigen, ein Problem. Die Propagandaanstrengungen sind gewaltig. Jede Gewalt ist in ihrer konkreten Form und Gestalt legitimationsbedürftig in einem öffentlichen Umfeld, von dem ihre Wirkung abhängt. In Hamburg waren offensichtlich Molotowcocktails verpönt. Es ist auch kein Zufall, dass seit vielen Jahren von der linken Szene in Deutschland keine tödlichen Terroranschläge verübt wurden. In der autonomen Szene finden intensive Diskussionen zu diesen Fragen statt. Offensichtlich sind dieses Mal (oder nur: bisher?) andere strategische wie taktische Schlussfolgerungen gezogen worden als in den 1970er Jahren. Auch wenn Monika Frommel es nicht hören will, so sind diese Akteur_innen aus der autonomen Szene vielleicht doch „nicht doof“ und man braucht auch den Dialog. Gemeinsam sind den Akteur_innen dieser Szene folgende Merkmale, auf die Sebastian Haunss verweist: „1. Der Anspruch einer subjektivistischen Politik, die individuelle Selbstveränderung als mindestens ebenso wichtig ansieht wie die Veränderung der Gesellschaft […]. 2. Eine Ablehnung traditioneller institutioneller Formen […]. (3). Eine grundsätzliche GegnerInnenschaft zur herrschaftlichen (kapitalistischen) Ordnung der Gesellschaft.“ (Haunss 2008, 509f.) Diese Gemeinsamkeiten werden aber durch harte Differenzen in Frage gestellt.
Schon seit längerem zeichnet sich eine Spaltung der Szene ab zwischen jenen, die in der Linie von Tiqqun auf die Inszenierung des Aufstandes und Bürgerkriegs setzen, und einer postautonomen Linken, die Militanz im Rahmen des zivilen Ungehorsams praktizieren will. Die Gruppe Tiqqun steht für jene kommunistischen Tendenzen, die sich vor allem durch den radikalen Bruch mit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in jeder ihrer Gestalten definieren. Ihr Aufruf als Unsichtbares Komitee entstand vor dem Hintergrund der Unruhen in den Pariser Banlieus im Herbst 2005. Es werden die Sprache und der Gestus der entschiedensten Rebellion und des offenen Krieges kultiviert. Der unvermittelte Gegensatz, die direkte Konfrontation, die Suche nach dem sofortigen Ausstieg stehen im Zentrum. Tiqqun reduziert alle gesellschaftlichen Interaktionsformen jenseits gemeinschaftlich geteilter Lebensformen auf Bürgerkrieg. Damit wird erstens behauptet, das Handeln stets nichts anderes als strategisch sei (siehe ebd.). Dies löst gesellschaftliche Interaktion in bloße Machtanwendung auf. Alles Handeln scheint nur Zweck-Mittel-Relationen zu folgen. Zweitens: Während es bei Foucault heißt, der Bürgerkrieg sei die „Matrix aller Machtstrategien“ (zitiert in Unsichtbares Komitee 2014, 6), wird bei Tiqqun jedes gesellschaftliche Handeln unmittelbar zum Bürgerkrieg und nicht nur nach dessen Vorbild geformt.3 Solche Konzeptionen mit ihrer Verklärung des „Kriegers“ und dem völligen Ausstieg aus der etablierten Gesellschaft sind geeignet, die Okkupation des Schanzenviertels als „befreite Zone“ und „Oase der Freiheit“ (so durch respect existence auf der mittlerweile gesperrten Plattform Indymedia am 23. Juli 2017) zu legitimieren. Aber nach den Hamburger Tagen war aus genau jenen Gruppen auch das ambivalente Resümee zu lesen: „Es war ein Rausch, inmitten der Polizeifestung einen Raum der Freiheit zu erschaffen. Doch bald kamen auch Zweifel … Wir haben für ein paar Stunden ein Utopia geschaffen, und es war wieder bestimmt von Gewalt.“
Aus der von Monika Frommel mit den Gewaltaktivist_innen identifizierten Interventionistischen Linken (IL), die einen zwar militanten, auf zivilen Ungehorsam setzenden, aber gewaltlosen Protest befürwortet hatte, kamen nach Hamburg die folgenden Stimmen:
„Wir haften für Dinge, die wir nicht organisiert haben und werden zum Regenschirm für Aktionen, die uns mehr schaden als nutzen. […] Vor den Protesten warb die IL ‚Hamburg wird in diesen Tage[n] zur Stadt für alle werden – Alle werden unseren rebellischen Willen zur Demokratie von unten spüren.‘ Eingetreten ist das Gegenteil. Schuld daran ist nicht nur die böse bürgerliche Presse. Die Wut gegen die Linke kommt von unten und ist authentisch. Das Video einer Anwohnerin, dass schwarz gekleidete Autonome beim Anlegen ihrer Zivilkleidung zeigt, wurde auf Facebook zum viralen Knaller. Der Kommentar lautete ‚Erst meine schöne Stadt & mein schönes Viertel zerstören und sich dann als Zivilist wieder ins Getümmel stürzen – FEIGE, DUMM & WIDERLICH‘. Der Post wurde 12.000 Mal geteilt und 800.000 mal geliked – Zahlen, die wir mit unseren Mitteilungen und Aktionsvideos noch nie erreicht haben. […] Es ist keine Schwäche, sondern ein notwendiges Bildungsprojekt, der Welt da draußen beizubringen, dass es unterschiedliche Linke gibt mit unterschiedlichen Strategien – und dass manche davon nicht weiterhelfen. Dieser Aufgabe können wir uns nicht durch ‚wir distanzieren uns nicht‘-Floskeln entziehen, weil es nicht der richtige Weg ist – und, nebenbei, auch schlicht nicht funktioniert.“ (Interventionistische Linke (mimi, terz, Titow) 2017)
Hintergrund sind Analysen, die deutlich machen, dass „produktive Allianzen zwischen Gruppen und Strömungen des Linksradikalismus, der Neuen Sozialen Bewegungen und der Gewerkschaftsbewegung“ (Hoffrogge 2015, 1204) notwendig sind. Damit diese aber zustande kommen, verbieten sich bestimmte Praktiken als Spaltungsformen, die jede Kooperation unmöglich machen. Und dabei geht es vor allem um Gewalt im genannten engeren Sinne.

Die Grenzen der Kooperation

Die breitere Linke muss sich die Frage stellen, ob sie weiterhin bereit ist, jenen Raum bereit zu stellen, den gewaltbereite Linksautonome brauchen, um ihren Bürgerkrieg zu inszenieren. Bisher wurde von relevanten Akteur_innen dieser Frage ausgewichen, seitens der Interventionistischen Linken, Teilen der sozialen Bewegungen und Initiativen, auch aus Teilen der Partei DIE LINKE. Man feiert es als Erfolg, sich nicht habe spalten zu lassen (Wilde 2017). Auch vom Falschen dürfe es keine Distanzierung geben, denn, so Karl-Heinz Dellwo: „Das Falsche im Aufbruch gehört dazu, wenn wir etwas ändern wollen, wenn wir wieder einen Begriff von Kommunismus, vom anderen Leben, von kollektiver Subjektivität und einem vom Menschen ausgehenden Lebenssinn entwickeln wollen“ (Dellwo 2017). So wurde bei der Demonstration Welcome to Hell nicht nur ein schwarzer Block zugelassen, sondern er konnte sogar den Zug anführen, bildete seine „Speerspitze“. Es wurden keine eigenen Ordnungskräfte eingesetzt, um Gewalt seitens der Demonstrant_innen zu verhindern und auch nicht, um das Schanzenviertel vor Bränden zu schützen. Dabei hatten anreisende Autonome schon beim Verlassen der Züge skandiert: „Macht ihr uns die Zelte platt, nehmen wir uns die ganze Stadt.“ In Mobilisierungsvideos hieß es als gemeinsamer Konsens: „Hamburg meine Perle, Pflastersteine und Scherben.“ Dies alles ist unverantwortlich und nimmt die Gewalt einer kleineren Minderheit billigend, teilweise auch zustimmend in Kauf. Die Distanzierung post festum oder die politische „Verurteilung“ sind dann entweder hilflos oder ,schlimmer noch, Heuchelei. Natürlich ist die linksautonome Szene Geist vom Geiste der Linken. Die Verbindung von Freiheit und Gleichheit durch Solidarität eint. Aber diese Verwandtschaft im Geiste schließt nicht die Unvereinbarkeit im Handeln aus.
Die Schlussfolgerung aus Hamburg wie aus allen ähnlichen Ereignissen der letzten Jahre muss sein: Wer Gewalt unter den Bedingungen des Rechtsstaats und der Möglichkeiten des zivilen Ungehorsam als legitimes Mittel der Politik ansieht und praktiziert, darf in den Reihen der breiteren Linken unter keiner, wirklich unter keiner Bedingung toleriert werden. Er ist ein direkter Gegner. Er bringt die Mehrheit um die Wirkung ihres Protests, delegitimiert jede linke Alternative, stellt die gesamte Linke in das Lager der Befürworter eines Bürgerkriegs, stärkt direkt autoritäre und rechte Tendenzen. Jede Form von Kooperation mit solchen Gruppen im Rahmen gemeinsamer Proteste ist ausgeschlossen.

Hat sich der Antikapitalismus erledigt?

Abschließend möchte ich Monika Frommels Frage aufgreifen, was heute links ist. Sie schreibt, dass es „nur noch wenige Menschen“ gibt, „die etwas gegen die Gleichberechtigung aller Menschen haben […], niemand befürwortet die Kriege oder billigt die Armut in der Welt“ (S. 106). Sie stellt die These auf, „dass sich das Streben nach mehr Demokratie, die Garantie von Grundrechten und die Verbesserung von Chancengleichheit nicht mehr als ‚linke‘ Ziele verstehen, sondern mehrheitsfähig geworden sind“ (S. 101). Dies alles steht im schreienden Widerspruch zur Tatsache, dass die wohlhabende Mitte der Weltgesellschaft mit ihren Bollwerken in den USA, Westeuropa und jetzt auch zunehmend in Asien und aufsteigenden Schwellenländern ganz selbstverständlich eine Produktions- und Lebensweise verteidigen, die auf der Zerstörung der Lebensgrundlagen des Unten dieser Weltgesellschaft und zukünftiger Generationen basiert (Brand/Wissen 2017) und erneut wachsenden Hunger hervorbringt (Ziegler 2013). Die Tendenzen zu Entdemokratisierung und Autoritarismus haben im Gefolge des neoliberalen Finanzmarkt-Kapitalismus sprunghaft zugenommen, während die Konzentration von wirtschaftlicher und finanzieller Macht exponentiell stieg. Die Zahl der Veröffentlichungen dazu ist Legion (nur stellvertretend für viele andere Streeck 2013; Bischoff 2009). Die vielen zivilen Proteste sind keinesfalls „sinnentleert“, auch nicht als Blockaden. Walter Benjamin sprach vom Griff nach der Notbremse, um das Rasen in die Katastrophe zu stoppen.
Monika Frommel fordert: „Wer mit ‚links‘ eine fundamentale Kapitalismus-Kritik meint, muss zeigen, wie dieses Ziel umgesetzt werden soll.“ (S. 2f.) Dies ist absolut richtig. Doch liegen diese Vorschläge auf dem Tisch. Sie beginnen bei einer simplen Finanzmarkttransaktionssteuer und enden bei einem völlig neuen Finanzsystem (Felber 2012). Sie fangen an beim Ausstieg aus der Nutzung der fossilen Brennstoffe und münden in eine Solargesellschaft (Scheer 2011). Eine zusammenfassende Darstellung der Möglichkeiten findet sich zum Beispiel bei Dieter Klein (2013). Der große Degrowth-Kongress in Leipzig 2014 und der jüngste Gegengipfel in Hamburg haben sehr konkrete Ansätze diskutiert. Ihre Umsetzung würde verlangen, dass die hochentwickelten Länder rund zehn Prozent ihres Bruttosozialprodukts für eine sozialökologische Transformation in globaler Solidarität ausgeben. Wir hören aber eher von „America first“, „Deutschland den Deutschen“ und „Schotten zu“, von „Militärausgaben rauf“ und „Solidarität runter“. Kapitalismus ist eine Gesellschaft des Primats der Interessen der Kapitaleigentümer über die Gesellschaft. Das ist mit Freiheit, Gleichheit, Solidarität, mit Wahrung des natürlichen Reichtums und Frieden nun wirklich nicht zu vereinbaren. Man darf sich nicht blind machen lassen: Wenn Menschen hungern und verhungern, elementare Gesundheitsvorsorge fehlt, Ressourcenkriege eskalieren, die Klimaveränderung Menschen in die Flucht treibt, dann werden die strukturellen Zwänge einer kapitalistisch-imperialen Weltordnung zu direkter Gewalt, die Leib und Seele vieler Millionen Menschen zerstört. Die Börsenkurse der glänzenden Tower in New York, London, Tokio oder Hongkong haben ein hässliches Gesicht, doch dieses Gesicht sieht man ihnen nicht an. Verreckt wird anderswo. Von Kapitalismuskritik als bloßer „Satire“ (S. 107) keine Spur.
Das Erschrecken vor den Exzessen in Hamburg sollte nicht blind, sondern hellsichtig machen: Ja, die Linke in Deutschland muss endlich aktiv das ihr Mögliche tun, in ihren Protesten und Demonstrationen durch offene Diskussion, eigene Ordnungskräfte und Disziplin Gewalt zu unterbinden.

Dies darf nicht der Polizei überlassen werden. Widerstand ist zu Gewaltfreiheit verpflichtet, auch und gerade, um zivilen Ungehorsam möglich zu machen und die Gewalt in der Welt zurückzudrängen. Der Kampf für einen Richtungswechsel der Politik darf deshalb nicht länger Schutzschirm für die Inszenierung von Bürgerkrieg bleiben. Und auch Ja und nochmals Ja: Wir brauchen entschiedeneren Protest. Wir brauchen konkrete alternative Projekte und Experimente. Wir brauchen eine linke Regierung, die sich für einen solchen Richtungswechsel in Deutschland und in der EU stark macht. Sonst kommt noch ein Trump made in Germany und zeigt uns, wie es ganz von rechts geht. Nach den jüngsten Bundestagswahlen ist ein Neubeginn der Linken in Deutschland gefordert.

DR. MICHAEL BRIE   Gründungsdirektor und Senior Fellow des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, jüngste Buchveröffentlichung: Lenin neu entdecken. Dialektik der Revolution und Metaphysik der Herrschaft, Hamburg 2017.
Literatur
Bailey, Brian 1998: Luddite Rebellion, Stroud
Bild-Zeitung 2017: Wagenknecht gegen Kipping – Linken-Zoff nach G20-Krawall, in: BILD.de, abrufbar unter: http://www.bild.de/politik/inland/g20-gipfel/gewalt-hamburg-linken-zoff-um-schwarzen-block-kipping-wagenknecht-52489390.bild.html (letzter Zugriff: 23.9.2017)
Bischoff, Joachim 2009: Jahrhundertkrise des Kapitalismus. Abstieg in die Depression oder Übergang in eine andere Ökonomie?, Hamburg
Brand, Ulrich/Wissen, Markus 2017: Imperiale Lebensweise: Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus, München
Brie, Michael 2008: Gewalt und Befreiung. Solidarische Emanzipation unter den Bedingungen des neoliberalen Kapitalismus, in: Rilling, Rainer (Hrsg.): Eine Frage der Gewalt. Antworten von Links, Berlin, 101–137
Brie, Michael 2017: Ideologie der?»Namenlosen«, in: Neues Deutschland, abrufbar unter: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1058972.ideologie-der-namenlosen.html
Brie, Michael/Brangsch, Lutz (Hrsg.) 2016: Das Kommunistische. Oder: Ein Gespenst kommt nicht zur Ruhe. Mit Beitragen von Bini Adamczak, Friederike Habermann und Massimo De Angelis, Hamburg
Dellwo, Karl-Heinz 2017: Zum Riot im Schanzenviertel. Nicht distanzieren!, abrufbar unter: https://www.facebook.com/laikaverlag/posts/1549596275114654
Felber, Christian 2012: Die Gemeinwohl-Ökonomie. Eine demokratische Alternative wächst, Wien
Habermas, Jürgen 2010: Das utopische Gefälle. Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (8), 43–53
Haunss, Sebastian 2008: Antiimperialismus und Autonomie – Linksradikalismus seit der Studentenbewegung; in: Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hrsg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt am Main: Campus, 447–473
Hobsbawm, Eric J. 1952: The Machine Breakers, in: Past & Present, (1), 57–70
Hoffrogge, Ralf 2015: Linksradikalismus; in: Haug, Wolfgang Fritz/Haug, Frigga/Jehle, Peter/Küttler, Wolfgang (Hrsg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 8/2, Hamburg, 1193–1207
Interventionistische Linke (mimi, terz, Titow) 2017: Es braucht mehr als ein Nein, abrufbar unter: https://blog.interventionistische-linke.org/g20-gipfel/es-braucht-mehr-als-ein-nein
King, Martin Luther 1969: Aufruf zum zivilen Ungehorsam, Düsseldorf
Klein, Dieter 2013: Das Morgen tanzt im Heute. Transformation im Kapitalismus und über ihn hinaus, Hamburg: VSA, abrufbar unter: http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/VSA_Klein_Das_Morgen.pdf
Nunner-Winkler, Gertrud 2004: Überlegungen zum Gewaltbegriff; in: Heitmeyer, Wilhelm/Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Gewalt, Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt am Main, 21–61
Reemtsma, Jan Philipp 2015: Gewalt als attraktive Lebensform betrachtet, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, (4), 4–16
Scheer, Hermann 2011: Der energethische Imperativ: 100 Prozent jetzt. Wie der vollständige Wechsel zu erneuerbaren Energien zu realisieren ist, Frankfurt am Main
Scheunemann, Egbert 2017: Das G20-Treffen in Hamburg und die kollektiv wahnhaften Reaktionen, abrufbar unter: http://www.egbert-scheunemann.de/G20-Hamburg-Pseudolinke-und-kollektiver-Wahn-Scheunemann.pdf
Streeck, Wolfgang 2013: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin
Unsichtbares Komitee 2014: An unsere Freunde. Kapitel 5: Lass uns verschwinden, abrufbar unter: http://bloom0101.org/?parution=an-unsere-freunde
Wikipedia 2017: G20-Gipfel in Hamburg 2017, in: Wikipedia, abrufbar unter: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=G20-Gipfel_in_Hamburg_2017&oldid=169350313
Wilde, Florian 2017: Großer Erfolg, in: Junge Welt, abrufbar unter: https://www.jungewelt.de/artikel/315029.großer-erfolg.html
Ziegler, Jean 2013: Wir lassen sie verhungern: Die Massenvernichtung in der Dritten Welt, München

Anmerkungen:

1 Es gibt viele Formen, in denen „narzistische Gewinne“ durch Ausbrechen aus der Bürgerlichkeit
erlebt werden können. So knapp, wie Reemtsma diese Möglichkeiten darstellt, sind sie in der Gesellschaft
des Entertainments nicht. Sonst müsste Gewalt in ihren verschiedenen Formen auch viel
verbreiteter sein, als sie es ohnehin schon ist.

2 Der hier zitierte Text entstand in der Auseinandersetzung um Angriffe auf Polizist_innen während
der Demonstration gegen das G8-Treffen in Rostock am 2. Juni 2007. Der Text fasst meine eigenen
Position zum Verhältnis von Linker und Gewalt unter den Bedingungen rechtsstaatlich verfasster
Gesellschaften zusammen.

3 Eine ausführliche Darstellung und Auseinandersetzung mit den Positionen von Tiqqun findet sich
in Brangsch/Brie (2016, 184-192) und mit Bezug auf die Proteste in Hamburg dieses Jahres in Brie
(2017).

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