Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 219: Soziale Menschenrechte

Eine geradlinige Querden­ke­rin. Zum Tod von Anna Elmiger (8.11.1934 - 6.7.2017)

in: vorgänge Nr. 219 (3/2017), S. 131-134

Aus Anlass des 50jährigen Bestehens der Humanistischen Union (in vorgänge 3/2001) resumierte Anna Elmiger einige der für ihre bürgerrechtliche Entwicklung bedeutsamen Ereignisse: Erschießung von Benno Ohnesorg, Hochsicherheitstrakt, Kennzeichnung von Polizisten, Knastarbeit, Hausbesetzerbewegung, Gleichberechtigung … Sie wünschte bei dieser Gelegenheit den nachkommenden Aktiven „Kraft, Witz, Humor und Hartnäckigkeit“. Ihrem HU-Eintritt 1967 folgten 12 Jahre als Berliner Landesvorsitzende und 6 Jahre im Bundesvorstand. Anna Elmiger hat viele Menschen beeindruckt und ihnen Aha-Erlebnisse verschafft, weil sie eine ganz geradlinige Querdenkerin war. Darüber tauschten sich nach Anna’s Tod vier Menschen aus dem HU-Umkreis gegenseitig aus. Aus dieser Korrespondenz entstanden nachfolgende Erinnerungssplitter. Sie lassen die große Fähigkeit von Anna Elmiger aufblitzen, Politik, Bürgerrechtspolitik als Ganzheitliches wahrzunehmen. Und sie erinnern an ihre Einsicht, dass Witz und Humor das Medium sind, mit den Missständen der Welt überhaupt erträglich umgehen zu können, ohne im Selbst- und Fremd(mit)leid zu versinken.

Anna, die Nonkon­for­mistin und die Regel

Anna kannte in allem Regeln, hielt sich daran und war doch zuallererst Nonkonformistin. Sie war anders und auch ihre Regeln waren anders. Deren Übertretung liebte sie mindestens so sehr wie ihre Befolgung. Das machte ihre Regeln so menschlich. Sie liebte es, zu gestalten und schuf für viele Begegnungen zuerst den richtigen Rahmen – seien es Feste, Theaterstücke oder politische Veranstaltungen.

Sie hatte gelernt, mit wenig viel zu machen. „Der Krieg“, so sagte sie, „war für uns pädagogisch wertvoll“. Bis zuletzt ist sie entschiedene Anti-Militaristin geblieben und hat den Grünen nicht verziehen, dass sie sich mit dem Militär arrangiert haben. Als Kunst-, Musik- und Theater-Lehrerin war sie beliebt, als Mutter von vier Kindern eigentlich ausgelastet, doch immer war sie daneben fürs Gemeinwohl aktiv.

Am 2. Juni 1967, während Anna gerade in Spanien unterwegs war, wurde in Berlin bei einer Demonstration gegen Schah Reza Pahlavi der FU-Student Benno Ohnesorg erschossen. Für viele war das ein Wendepunkt in der Geschichte der Studentenbewegung. Für Anna war es der Grund, in die wenige Jahre zuvor gegründete Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union einzutreten. Später, in den 1980er Jahren, sollte sie deren Landesvorsitzende werden und jahrelang im Bundesvorstand mitarbeiten. Viele unterschätzten sie anfangs. Ihr samtpfötiger Feminismus etwa, der ab und an scharfe Krallen zeigte, hat viel bewegt.

Nach ihren aktiven Jahren in der HU engagierte sie sich noch jahrelang als Vorsitzende des Vereins „Kunst und Knast“, der künstlerisches Arbeiten in die Gefängnisse brachte. Mit Jutta Limbach als Justizsenatorin hatte sie dabei eine gute Partnerin.

Die letzten Jahre lebte sie auf dem Land in Brandenburg, im beschaulichen Trechwitz. Anna organisierte dort Konzerte, führte Regie beim Theater mit Menschen und Pferden, wirkte im Kulturverein „Kranich“ mit und sorgte dafür, dass Flüchtlingskinder Zugang zur Musik finden. Sie spann ein Netzwerk engagierter Menschen, wie sie es zeitlebens getan hatte. Dabei fühlte sich jede Person ganz besonders gemeint – und war es auch. Anna hatte eine große Gabe, Anteil zu nehmen und dabei ermutigend zu wirken.

Albert Eckert

Anna, die Anstößige

Ich habe in der Nachfolge von Albert Eckert die Geschäftsführung des Berliner Landesverbandes der HU übernommen. Von der ersten Begegnung mit Anna Elmiger an war ich erstaunt über die fröhliche Gelassenheit einer Frau, die vom Alter her meine Mutter hätte sein können, und die gleichzeitig mit einer ganz eigenen Beharrlichkeit politisch arbeitete. Ich hatte noch nie jemanden getroffen, dem Kämpfen und Engagement so viel Spaß und Genuss bereitete wie Anna Elmiger.

Irgendwann lud sie mich mal zu einer Abschlussfeier ihrer Kunst-Aktionen in der JVA Plötzensee ein. Sie hatte es irgendwie geschafft (mit Hilfe anderer, klar), die inhaftierten Roma-Frauen zum Kochen und Tanzen zu bringen, Weddinger Junkie-Gören und Spandauer Gattenmörderinnen trugen Gedichte vor und alle anderen sangen oder spielten Theater. Daran war nichts nett oder kitschig, es war rau, brutal ehrlich, genial und vollkommen verrückt. Und es war mehr wert als ein Dutzend Abende in der Schau- oder Volksbühne. Ich glaube, das war unter den unzähligen eine ihrer größten Gaben: bei anderen Talente anzutippen, von denen die nicht einmal wussten, dass sie sie hatten – ohne dabei den Eindruck zu erwecken, dass sie das auch nur im Geringsten anstrengen würde.

Andrea Böhm

Sachleis­tungs­prinzip, einmal anderes herum

1978 lernte ich durch Falco Werkentin die HU und deren Berliner Vorsitzende Anna Elmiger kennen. Damals schon Thema: die Flüchtlingskrise – eigentlich unsere Krise. Gegen die Anordnung des Berliner Senats, Flüchtlingen keine Geldleistungen mehr zu gewähren, sondern deren Sozialhilfeanspruch künftig durch Einkaufsgutscheine abzudecken, empörten wir uns. Sie sollten nur in bestimmten Lebensmittelläden und nur zugelassene sucht- und genussfreie Waren einkaufen dürfen: diskriminierend und entmündigend, fanden wir. Unsere Gegenwehr: Wir tauschten mit Flüchtlingen die Gutscheine gegen Bargeld und kauften damit in den Läden selbst ein, mit Folgen. Es kam vor, dass eine pingelige Verkaufsperson uns Nichtberechtigte nicht mit den Gutscheinen bezahlen lassen wollte. Dann stockte alles und es gab einen Auflauf an der Kasse. Der volle Einkaufswagen blieb dann notgedrungen stehen. Unser Hintergedanke: die Lebensmittelläden als Gegner dieser Praxis zu gewinnen.

Kollaterale Gegenwehr Annas: Anna hatte einmal falsch geparkt und bekam einen Bußgeldbescheid in der Höhe, in der die ausgegebenen Lebensmittelgutscheine gestückelt waren. Anna kaufte also für 40 DM zugelassene Lebensmittel ein und begab sich mit dem hübsch eingepackten Lebensmittelpaket zur Polizeidienststelle. Dort erklärte sie den anwesenden Beamten, dass sie das verhängte Bußgeld mit Waren aus dem Einkauf mit dem Lebensmittelgutschein gleichen Betrages zu bezahlen gedenke. Sachleistungsprinzip einmal anders herum. Anna bekam einige Tage darauf die briefliche Aufforderung, sich einer Medizinisch-Psychologischen Untersuchung (umgangssprachlich: Idiotentest) zu unterziehen. Aufgrund Ihres Ansinnens, einen Bußgeldbescheid mit Waren aus dem Erwerb mit Lebensmittelgutscheinen für Flüchtlinge zu bezahlen, seien Zweifel an Ihrer Geeignetheit zum Führen eines Fahrzeuges entstanden.

Ein willkommener Affront: Wir machten den Vorgang öffentlich und hatten eine gute Presse gegen die Gutscheine, die dann auch – nicht sogleich, und sicher nicht gerade wegen dieser Aktion – wieder abgeschafft wurden. Anna musste sich Dank der erlangten Öffentlichkeit keiner Untersuchung unterziehen und durfte ihren Führerschein behalten. Das war Annas Art und Fähigkeit, Lebenssachverhalte miteinander zu verknüpfen und deren jeweilige Monströsität nicht nur für die ohnehin Wissenden erkennbar zu machen.

Udo Kauß

Nicht nur lamentieren, handeln!

Die Freundschaft mit Anna Elmiger begann zu Beginn des Schuljahrs 1971/72, als ich die Klasse 3c an der Rothenburg-Grundschule in Steglitz übernahm. Annas Tochter Henrike wurde meine Schülerin, Anna war Elternvertreterin. Schon nach dem ersten Elternabend waren wir uns einig in der Bewertung der Berliner Bildungspolitik und über die Notwendigkeit deren Veränderung. In Berlin gab es erheblichen Lehrermangel, Stundenausfall, Leistungsdefizite.

Von daher war es fast zwangsläufig, dass Anna im März 1972 einen dreitägigen Schulstreik der Eltern organisierte, um auf die massiven Versäumnisse der Schulpolitik aufmerksam zu machen. Die „Morgenpost“ titelte: „Schulskandal: Neunjährige konnten nicht einmal die Fibel lesen“. Diesem Streik war aber Selbsthilfe vorausgegangen. Eltern gaben nachmittags Nachhilfe oder arbeiteten im Unterricht mit. Das wurde von der davon wenig begeisterten Schulaufsicht nicht honoriert, minderte Annas Engagement für eine bessere gerechtere Bildungspolitik aber keineswegs. Etliche handgezeichnete Flugblätter und Schriften aus jener Zeit, die verteilt wurden, beweisen das.

2002 habe ich mit Anna eine letzte Aktion durchgeführt. Sie überzeugte mich, dass wir protestieren müssten, weil die rot-grüne Koalition im Bundestag der Bombardierung Afghanistans zugestimmt hat. Also verteilten zwei ältere Damen (Anna und ich) und ein älterer Herr (ein guter Freund) in der Bannmeile Flugblätter, mit einem von Anna handgeschriebenen Gedicht von Matthias Claudius. Das dankbarerweise eingeleitete Ermittlungsverfahren wegen Verschmutzung öffentlichen Straßenlands und des Verstoßes gegen das Bannmeilengesetz wurde fallengelassen.

Zwei Beispiele, die Anna charakterisieren: eine großartige Pädagogin, nicht nur in der Schule, mutig und unerschrocken. Ihre Devise war: handeln, nicht nur lamentieren und diskutieren. Wir haben unsere Tochter Henrike nach Annas Tochter benannt.

Karla Werkentin

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