Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 221/222: Perspektiven des Datenschutzes nach der DSGVO

Berliner Neutra­li­täts­ge­setz: Gutachten bezweifelt Rechts­bin­dung der beiden Kopftuch-Ent­schei­dungen des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts

in: vorgänge Nr. 221/222 (1-2/2018), S. 121-123

(SL) Im Land Berlin wird derzeit darüber gestritten, ob das sogenannte Neutralitätsgesetz des Landes[1] nach der zweiten Kopftuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts[2] anzupassen ist.

Die Landesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen hatte sich im Dezember vergangenen Jahres für eine Abschaffung des Gesetzes ausgesprochen.[3] Dagegen gründete sich eine Initiative „Pro Neutralitätsgesetz“[4], die für den Erhalt des nach ihrer Meinung bundesweit vorbildlichen Gesetzes streiten will. Sie wird unterstützt u.a. von Seyran Ates, Necla Kelek, Ahmad Mansour, Ingrid Matthäus-Maier, Volker Panzer, Jürgen Roth, Peter Schaar und Alice Schwarzer.

Nach der genannten Entscheidung des BVerfG ist ein generelles Verbot von Kopftüchern oder anderer religiöser Kleidung bei Lehrer/innen an staatlichen Schulen unzulässig. Ein solches Verbot setze eine „hinreichend konkrete Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität in einer beachtlichen Zahl von Fällen“ (Leitsatz 3 der Entscheidung v. 27.1.2015) innerhalb eines Schulbezirks voraus. Das seit 2005 geltende Berliner Neutralitätsgesetz enthält jedoch ein pauschales Verbot. Es verbietet in § 2 Abs. 2 u.a. allen Lehrkräften an öffentlichen Schulen während ihrer Dienstzeit das Tragen von „sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole[n], die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren“ sowie „religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke[n].“ Bedienstete des Landes sollen auf diese Weise zu religiös-weltanschaulicher Zurückhaltung verpflichtet werden, um die staatliche Neutralität des Landes Berlin zu gewährleisten. In Berlin gab es in den letzten Jahren mehrere muslimische Referendarinnen, die mit Kopftuch unterrichten wollten und deshalb nicht in den Schuldienst übernommen wurden. Sie kritisierten das Gesetz als religiöses Berufsverbot, eine von ihnen erstritt vor Gericht eine Entschädigung durch das Land Berlin, andere Verfahren erreichten Ähnliches im Wege des Vergleichs.[5]

Der frühere Verwaltungsrichter Dr. Gerhard Czermak begründet in einem kürzlich vorgelegten Gutachten[6], warum am Berliner Neutralitätsgesetz trotz der o.g. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts festgehalten werden könne: Aus seiner Sicht sei das Ergebnis der gerichtlichen Abwägung zwischen dem Recht der individuellen Religionsfreiheit der Lehrer/innen und der staatlich gebotenen Neutralität fehlerhaft, die Religionsfreiheit der Bediensteten überbewertet. Zum Problem werde das Kopftuchverbot überwiegend nur für Vertreter/innen eines orthodoxen Islam, bei denen Czermak grundsätzliche Zweifel an ihrer Eignung für staatliche Bildungsaufgaben sieht: „Wie neutral kann eine orthodox-islamische Lehrerin sein, die nicht einmal für die begrenzte Zeit ihrer sichtbaren Berufsausübung bereit ist, auf ein demonstratives Glaubenssymbol zu verzichten?“ (S. 1f.) Die Religionsfreiheit der Lehrer/innen sei von vornherein durch die Erfordernisse der Amtsausübung und des Schulfriedens überlagert; zudem würde niemand von den Lehrer/innen verlangen, dass sie ihre religiös/weltanschaulichen Überzeugungen „vollständig unterdrücken müssten“ – sie sollten nur nicht zur Schau gestellt werden. Weiterhin bezweifelt Czermak, dass „die Religionsfreiheit im heutigen pluralistischen Staat noch ein besonderes Moment der gesellschaftlichen Gesamtintegration sein könnte.“ (S. 1)

Neben seiner inhaltlichen Kritik an der zweiten Kopftuch-Entscheidung des BVerfG sieht Czermak einen weiteren Grund, warum das Berliner Neutralitätsgesetz unverändert beibehalten werden darf: Die oben zitierte Entscheidung des Gerichts würde der ersten Entscheidung des gleichen Gerichts zur Kopftuchfrage[7] in „tragenden Entscheidungsgründen“ widersprechen. Es handle sich insofern um eine widersprüchliche Spruchpraxis des obersten Gerichts, in deren Folge beide Entscheidungen nach § 31 BVerfGG keine Bindungswirkung mehr entfalten. Für den Fall einer abweichenden Rechtsauffassung zwischen den beiden Senaten sieht das BVerfGG in § 16 eine gemeinsame Plenarentscheidung beider Senate vor, die Czermak folgerichtig einfordert. Mit anderen Worten: Da der Gesetzgeber nach den beiden Entscheidungen zur Kopftuchfrage nicht mit hinreichender Klarheit erkennen kann, an welchen Kriterien er sich bei der Ausgestaltung von „Kopftuchgesetzen“ orientieren soll, muss er sich an keines der beiden Urteile halten.

Auf welche sich widersprechenden Entscheidungsgründe sich Czermak im einzelnen bezieht, und ob diese Erwägungen wirklich so unvereinbar sind, wie er behauptet, führt das Gutachten nicht weiter aus. Czermak verweist jedoch auf den jüngsten Beschluss einer Kammer des 2. Senats des BVerfGs, dass den Antrag einer Rechtsreferendarin ablehnte, die ihr Referendariat an einem Gericht mit Kopftuch ausführen wollte.[8] Die Richter lehnten dies mit Verweis auf die sogenannte negative Religionsfreiheit der Prozessbeteiligten ab, die verletzt sei, wenn „sie dem für sie unausweichlichen Zwang ausgesetzt werden, einen Rechtsstreit unter der Beteiligung von Repräsentanten des Staates zu führen, die ihre religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen erkennbar nach außen tragen.“ (Rn. 53). Analog müsste – so Czermak – auch die Freiheit der Schüler/innen geschützt werden, „kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben“ (Rn. 52).

Anmerkungen:

1 Artikel I des Gesetz zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin v. 27.01.2005, Berliner GVBl. 2005, 92.

2 BVerfG, Urteil des 1. Senats v. 27.1.2015 – BverfG 1 BvR 471/10 und 1 BvR 1181/10.

3 S. https://gruene.berlin/ldk17.

4 S. http://pro.neutralitaetsgesetz.de/.

5 S. Sabine Berghahn: Kopftuchdebatten – und kein Ende, in: vorgänge Nr. 217 (1/2017), S. 38.

6 Dr. Gerhard Czermak: Zum Fortbestand des Berliner Neutralitätsgesetzes nach der 2. Kopftuch-Entscheidung des BVerfG von 2015. Institut für Weltanschauungsrecht, Friedberg/Bayern, 5.1.2018, abrufbar unter https://hpd.de/sites/hpd.de/files/field/file/rechtsgutachten_czermak_neutralitatsgesetz.pdf

7 BVerfG, Urteil des 2. Senats v. 24.9.2003 – 2 BvR 1436/02.

8 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27.6.2017 – 2 BvR 1333/17.

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