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Die Vergan­gen­heit erinnern – Nachruf für Ilse Staff

in: vorgänge Nr. 221/222 (1-2/2018), S. 229-232

Ilse Staff ist am 15. November 2017 nach langer schwerer Krankheit im Alter von 89 Jahren gestorben. Sie war fast fünf Jahrzehnte Mitglied der Humanistischen Union und gehörte seit 1985 deren Beirat an.

Der Nachruf der Juristischen  Fakultät der Universität Frankfurt/M., deren erste Professorin sie war, würdigt sie als Pionierin: Ilse Staff war nicht nur die erste Professorin in der Frankfurter Juristischen Fakultät, sondern auch die erste Frau in Deutschland, die eine Professur im Öffentlichen Recht errang, und das erste weibliche Mitglied der deutschen Staatsrechtslehrervereinigung.[1]

In der Humanistischen Union gehörte sie altersmäßig und kulturell zur Gründungsgeneration. Sie war eine typische Vertreterin jener linksliberalen intellektuellen Elite, aus der heraus am 28. August 1961 die Humanistische Union (HU) als erste deutsche Bürgerrechtsorganisation in München gegründet wurde. Ilse Staff gehörte nicht zum Gründungskreis, sie trat erst 1971 der HU bei. Durch ihre enge Freundschaft mit zwei Mitbegründern der HU, Fritz Bauer und Alexander Mitscherlich, kannte sie die HU jedoch von Anfang an. Nach Fritz Bauers Tod organisierte sie, einem Bericht Alexander Kluges zufolge, die Trauerfeier.

Wie für professorale Mitglieder der HU üblich, machte sie ihre Forschungsinteressen auch zu den Themen ihrer Bürgerrechtsarbeit innerhalb der HU. Ilse Staff verfolgte zwei große wissenschaftliche Themen: die Justiz zwischen 1933 und 1945 sowie die Weimarer Staatsrechtslehrerdebatte unter besonderer Berücksichtigung von Hermann Heller. Beides findet sich in ihrer bürgerrechtlichen Arbeit wieder. Mit ihrem Buch „Justiz im Dritten Reich“[2] legte sie als erste bereits 1964 eine systematische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der bundesdeutschen Justiz vor und führte dabei den Nachweis, dass es nicht einfach der positivistische Gesetzesgehorsam der deutschen Juristen war, der zu ihren Verbrechen geführt hatte, sondern dass die Juristen im Dritten Reich systematisch Rechtsbeugung begangen hatten. Zu diesem Befund kam sie schon, bevor Bernd Rüthers 1973 in seinem Werk „Die unbegrenzte Auslegung“ diesen Sachverhalt für die Privatrechtsordnung im Dritten Reich aufzeigte. In die Diskussion um die Weimarer Staatsrechtslehre brachte Ilse Staff vor allem die Ideen Hermann Hellers ein. Gemeinsam mit Christoph Müller gab sie die Gedächtnisschrift für Hermann Heller heraus[3] und stellte ihn dabei als den Verfechter der sozialen Demokratie dar, der unter den prominenten Weimarer Staatsrechtslehrern nicht nur der konsequenteste politische Gegenspieler zu Carl Schmitt war, sondern auch die unter sozialen und demokratischen Gesichtspunkten weitest gehende theoretische Gegenkonzeption zu Schmitt entwickelte.
Sowohl ihre Thesen zum demokratischen Sozialstaat als auch zur Justiz im Nationalsozialismus waren inhaltlich wichtig für jenen Aufbruch, den die HU gegen die geistige Bevormundung und für die „erstrebte Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung des Einzelnen“ organisierte, wie es der Gründungsaufruf beschrieb.[4]

Ilse Staff verkörperte – wie die HU insgesamt – den Vor-68er-Aufbruch in der Bundesrepublik. Mit ihrer Arbeit zu den Justizverbrechen im Dritten Reich nahm sie eines der zentralen Themen der 68er, die Aufarbeitung der Nazivergangenheit, vorweg. Ebenso bereitete sie mit ihrem Eintreten für den demokratischen Sozialstaat den Boden für den 68er Umbruch. Dabei begriff sie – durchaus anders als die 68er – die freiheitlich-demokratische Ordnung des Grundgesetzes als Verheißung, die einzufordern ist. Die Mehrheitsgesellschaft sollte die Pluralität der vorhandenen Anschauungen anerkennen und bei der Formulierung des gemeinsam geteilten Wertekanons berücksichtigen. Das war die Kampfansage der HU an die damalige autoritäre, christlich dominierte Leitkultur der Adenauer-Ära.

Dass die Humanistische Union 1961 mit ihrem Gründungsaufruf der richtige Verein zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und mit ihren Forderungen den Zeitgeist traf für den bevorstehenden kulturellen und politischen Umbruch der Jahre 1968-1971, ist auch Ilse Staffs Verdienst. Der frühere HU-Vorsitzende Hans Robinsohn hat dies ausdrücklich in der kurzen Rezension der 1978 erschienenen Taschenbuchausgabe von „Justiz des Dritten Reiches“ in den vorgängen[5] gewürdigt.

Sie selbst will 1984 in einem Beitrag für die vorgänge[6] zeigen (anlässlich einer Diskussion zur Rechtfertigung zivilen Ungehorsams gegen den Nato-Doppelbeschluss), dass ihre Thesen auch nach 68 aktuell bleiben. Unter der Überschrift „Legalität und Legitimität“ erörtert sie, ausgehend von der gleichnamigen Arbeit Carl Schmitts aus dem Jahr 1932, Thesen von John Rawls und Jürgen Habermas zur Theorie des zivilen Ungehorsams. Bei Rawls stellt sie heraus, dass er bei aller moralischen Rechtfertigung des zivilen Ungehorsams die Mehrheitsentscheidungen in der pluralistischen Gesellschaft anerkennt. Zugleich sollte die überstimmte Minderheit auch nach der Entscheidung weiter gewaltlos appellieren dürfen – um sicher zu stellen, dass aus Minderheiten auch Mehrheiten werden können. Staff ging es dabei um den von Hans Kelsen und Hermann Heller angesprochenen Charakter einer Demokratie: es muss sichergestellt werden, dass die Majorität im Bewusstsein der Argumente der Minorität entscheidet und ihre Entscheidung vor deren Argumenten zu verantworten hat.

Ilse Staff fand – so scheint es jedenfalls im Nachhinein – mühelos die Verbindungen zwischen den Themen der bundesdeutschen Gründungsgeneration, den Themen der 68er und den großen politischen Reformen der Nach-68er-Zeit. So verkörpert sie auch jene Neuorientierung, die nach 1968/69 bei der HU zu beobachten war. Diese Neuorientierung geht auf die Auseinandersetzungen mit den Terrorbekämpfungsgesetzen der 1970er Jahre zurück; auf sie hat der Verein nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 erneut zurückgegriffen. Zwei Dokumente der späten 1970er Jahre markieren diesen Wandel: das „Memorandum der HU zum Sympathisanten-Begriff“[7] vom 9. September 1977 (unterzeichnet von der HU-Vorsitzenden Dr. Charlotte Maack, maßgeblich formuliert von Jürgen Seifert) und ein Aufruf vom 23. Mai 1978 unter der Überschrift „Die Humanistische Union fragt Bundesregierung und Bundestag: Wo beginnt der Kernbereich des Rechtsstaats?“[8], der von einer Vielzahl linksliberaler Persönlichkeiten von Wolfgang Abendroth über Jürgen Habermas, Uta Ranke-Heinemann, bis Karl Zinn unterzeichnet wurde. Die HU findet in diesen Dokumenten zu ihren bis heute vertretenen Grundpositionen zur Sicherheitspolitik.

Die damalige Sicherheitslage wird im Memorandum wie folgt beschrieben: „Seit sechs Jahren wird von der Waagschale der Schutz- und Freiheitsrechte etwas weggenommen und auf die Waagschale der inneren Sicherheit gelegt.“

Ausgehend davon fragt die HU: „Wo beginnt der unantastbare Kernbereich der freiheitlichen Rechtsordnung in der Bundesrepublik, und wo darf er auch dann nicht angetastet werden, wenn das Risiko der inneren Sicherheit z.B. durch den Ausbau weiterer politischer Attentat zusätzlich belastet wird?“
Das beste Rezept gegen Terrorismus sei eine offene und zum Dialog fähige Gesellschaft. Es müsse in der Bundesrepublik möglich sein, „ohne Berührungsangst mit möglichen Terroristen zu reden, ehe sie zu jenen stoßen, die Morden für ein Mittel der Politik halten.“

Das Memorandum gehört im Selbstverständnis der HU zu ihren größten Erfolgen. Der damalige Bundespräsident Walter Scheel machte es sich in seiner Ansprache beim Staatsakt für den von der RAF ermordeten Hanns Martin Schleyer am 25. Oktober 1977 weitgehend zu Eigen.

Kritisch ist zu dieser glorifizierenden Betrachtung aber anzumerken, dass das Memorandum nicht das ist, wofür es oft ausgeben wird: nämlich als Beleg für den Wandel der HU in eine kampagnenfähige Bürgerrechtsorganisation. Vielmehr bleibt sich die HU auch bei diesen beiden Aktionen treu. Sie stellt sich angesichts terroristischer Bedrohungen konsequent gegen den Abbau grundrechtlicher Freiheiten; sie kritisiert und vermittelt, indem sie Briefe schreibt; sie setzt sich aber nicht an die Spitze einer Bewegung. Die Fähigkeit zur bürgerrechtlichen Kritik der Sicherheitspolitik hatte die HU schon Ende der 1960er Jahre im Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung erworben; in den 1970er Jahren wurde daraus anlässlich der Terrorgesetzgebung durchaus ein starkes Standbein der HU.

Ilse Staff hat als Hochschullehrerin an all dem engagiert mitgewirkt. Ihr war der  Brückenschlag zwischen den Generationen wichtig. Sie verhalf den studentischen Forderungen von 1968 wie auch den politischen Forderungen der 1980er Jahre nach Kräften zu einer rechtsstaatlichen Legitimation. Ihre Herangehensweise, inmitten scheinbar unüberbrückbarer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen das Grundgesetz einzufordern, charakterisiert die HU bis heute.

Gleichwohl bietet der Tod von Ilse Staff als eine der letzten aus der Gründungsgeneration die Gelegenheit für einen kritischen Blick auf die Fähigkeiten der HU. Die Leistung der HU als intellektuelle Vorbereiterin notwendiger gesellschaftlicher Umbrüche, die Ideen aufgreifen und in rechtspolitische Forderungen ummünzen kann, die Grundrechte und andere Verfassungsnormen modernisiert, scheint wie das Leben von Ilse Staff vorbei zu sein. Die HU ist heute kein Honoratiorenclub mehr. Ihre Fähigkeit als gesellschaftlicher Katalysator, der ein Protestpotenzial in den gesellschaftlichen Mainstream vermitteln konnte, hat sie verloren. Viele traditionelle Themen der HU werden heute zunehmend vom Mainstream vertreten, in der Bürgerrechtsszene hat sie viel Konkurrenz von Organisationen bekommen, die sich auf einzelne Themen spezialisiert haben. Das ist kein Fehler ihrer Mitgliedschaft, sondern eine in vielen Politikbereichen zu beobachtende Erfahrung. Zugleich lässt sich aber kaum bestreiten, dass die soziale Affinität der Mitglieder eines Vereins wie der HU zu den von ihnen bearbeiteten Themen den Kern ihrer Bürgerrechtsarbeit ausmacht. Es ist die unabhängige bürgerliche Linksliberalität, der sich ihre Mitglieder verbunden fühlen und die den Kernbestand der HU-Positionen ausmacht. Dafür stand Ilse Staff. Ihr Tod sollte Anlass sein zu fragen, wofür die HU heute steht.

Rosemarie Will
lehrte bis 2014 Staats- und Verfassungsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin und war von 2005 bis 2013 Vorsitzende der Humanistischen Union, deren Bundesvorstand sie heute angehört.

Anmerkungen:

1 Ausführlich dazu: Ute Sacksofsky, Ilse Staff – Die erste deutsche Staatsrechtslehrerin, in: 100 Jahre Rechtswissenschaft in Frankfurt. Erfahrungen, Herausforderungen, Erwartungen, Frankfurt/M. 2014; dies., Kritische Vorreiterin und erste deutsche Staatsrechtslehrerin. Nachruf auf Ilse Staff (1928–2017), in: Kritische Justiz Band 51, Nr. 1, 14.3.2018.

2 Ilse Staff: Justiz im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Frankfurt/M. 1964: Fischer.

3 Christoph Müller/Ilse Staff, Der soziale Rechtsstaat. Gedächtnisschrift für Hermann Heller 1891-1933, Baden-Baden 1984: Nomos.

4 Vgl. Müller-Heidelberg, Till, Von der antiklerikalen Aufklärung zur Bürgerrechtsbewegung, Die Humanistische Union, in: Mitteilungen der Humanistischen Union Nr. 162, S. 35-39.

5 Hans Robinsohn, Ilse Staffs „Justiz im Dritten Reich“: ein Klassiker, in: vorgänge Nr. 39 (3/1979), S. 129ff.

6 Ilse Staff, Legalität und Legitimität im demokratischen Gesetzgebungsstaat, in: vorgänge Nr. 70 (4/1984), S. 6ff.

7 Bundesvorstand der HU: Memorandum der Humanistischen Union zum Sympathisanten-Begriff. Offener Brief an den Bundespräsidenten v. 9.9.1977, in: vorgänge Nr. 29 (5/1977), S. 128-130.

8 HU: Die Humanistische Union fragt Bundesregierung und Bundestag: Wo beginnt der Kernbereich des Rechtsstaats?, in: vorgänge Nr. 33 (3/1978), S. 123-125.

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