Das Kreuz mit dem Kreuz
Grundrechte-Report 1998, S. 76-79
Der letztjährige Grundrechte-Report hatte über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1995 (BVerfGE 93, 1ff.) berichtet, die § 13 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern für verfassungswidrig erklärt hatte, wonach Kreuze in allen Klassenzimmern der bayerischen Volksschulen anzubringen waren. Dagegen hat der bayerische Landtag auf Initiative der Staatsregierung in einer „Blitzgesetzgebung“ bereits am 23. Dezember 1995 einen neuen Absatz 3 in Artikel 7 des bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) eingefügt, wonach „angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns in jedem Klassenzimmer ein Kreuz angebracht wird“. Wenn – so die folgenden Sätze der neuen Regelung – dieser Anbringung des Kreuzes „aus ernsthaften und einsehbaren Gründen“ widersprochen werde, solle der Schulleiter eine gütliche Einigung versuchen und schlußendlich eine Regelung treffen, die „die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen aller in der Klasse Betroffenen zu einem gerechten Ausgleich bringt; dabei ist auch der Wille der Mehrheit soweit möglich zu berücksichtigen“.
Bereits der letztjährige Grundrechte-Report endet hierzu mit den beiden Sätzen: „Das versteht man in Bayern unter Schutz der Grundrechte. Bleibt abzuwarten, wann auch diese Vorschrift vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt wird.“
So weit ist es – leider – noch nicht. Zunächst war aufgrund von mehreren Popularklagen der bayerische Verfassungsgerichtshof am Zuge, der mit Entscheidung vom 1. August 1997 (NJW 1997, 3157) erwartungsgemäß einem von der Staatsregierung eingeholten Parteigutachten des Münchner Staatsrechtlers Peter Badura folgte, die Neuregelung für verfassungskonform erklärte und auch keinen Widerspruch zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Band 93, 1ff.) zu sehen vermochte, obwohl Gesetzregelung und Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes in allen zentralen Punkten diametral der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und dem Leitbild des weltanschaulich neutralen Staates widersprechen.
Nach der Auffassung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs ist zu berücksichtigen, daß in Bayern rund 90 Prozent der Bevölkerung einer christlichen Kirche angehören und daß die Grundrechte derjenigen, die nicht einer christlichen Kirche angehören, eben „u. a. dort ihre Grenzen (fänden), wo sie auf die kollidierenden Grundrechte Andersdenkender“ treffen (Seite 24 der Entscheidung). Daß genau mit dieser Frage das Bundesverfassungsgericht sich in seiner Entscheidung bereits befaßt und ausgeführt hat, „der daraus entstehende Konflikt läßt sich nicht nach dem Mehrheitsprinzip lösen, denn gerade das Grundrecht der Glaubensfreiheit bezweckt in besonderem Maße den Schutz von Minderheiten“, kümmert den Bayerischen Verfassungsgerichtshof nicht. Denn das Ei des Columbus ist – Badura folgend – gefunden, weil nach der neuen gesetzlichen Regelung ja ein Konfliktlösungsmechanismus vorgesehen und die Mehrheitsmeinung nicht in jedem Falle, sondern nur „soweit möglich“ zu berücksichtigen sei – wie dies aussehen soll, sagt das sechsundvierzigseitige Urteil allerdings nicht.
Der Bayerische Verfassungsgerichtshof weiß auch zu berichten, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Staat sich nicht auf konfessionelle oder weltanschauliche Inhalte festlegen darf, die Schule nicht missionarisch wirken und christliche Glaubensinhalte nicht für alle als verbindlich festlegen darf, Schüler nicht durch Werbung oder Abwerbung ihrem Glauben oder ihrer Weltanschauung entfremdet werden dürfen – daß staatlich verordnete Kreuze in Klassenräumen dem entgegenstehen könnten, ist aber für den Bayerischen Verfassungsgerichtshof kein Problem, denn: Sie sind „weder Inhalt des Unterrichts und der Erziehung, noch bedeuten sie eine Bekenntnisübung. Sie stellen kein staatliches Bekenntnis zu den durch das Symbol des Kreuzes ausgedrückten Glaubensinhalten oder Bekenntnishandlungen im Sinn einer staatskirchlichen Identifikation dar.“ Zitiert wird an dieser Stelle für diese abwegige Auffassung der Regierungsgutachter Badura, nicht aber die gegenteiligen Ausführungen im Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, wonach das Kreuz eben Symbol einer bestimmten religiösen Überzeugung ist und deshalb seine Anbringung in Klassenzimmern die Grenze der religiösen Neutralität des Staates überschreitet.
Trotz aller juristischen Klimmzüge müssen die neun Richter des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs aber wohl doch gemerkt haben, daß die neue gesetzliche Regelung und ihre Entscheidung im Gegensatz zum Beschluß des Bundesverfassungsgerichts stehen: So stellen sie dann einfach im Abschnitt C ihrer Entscheidung fest, sie seien nicht an den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts gebunden, denn „die aus § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz folgende Bindung erfaßt den Tenor und die tragenden Gründe“, diese seien aber durch die neue bayerische Regelung und gerichtliche Entscheidung nicht verletzt. Daß das Kreuz religiöses Symbol ist, daß der Staat sich jedenfalls in staatlichen Pflichtschulen religiöser Symbole zu enthalten hat und daß es in dieser Frage nicht auf Mehrheiten und Minderheiten ankommt – das alles weiß der Bayerische Verfassungsgerichtshof vielleicht (der sich ja aus hohen und höchsten Richtern zusammensetzt), das interessiert ihn aber nicht.