Der Vatikan und der Holocaust gestern und heute
Eine Ausstellung der Vatikanischen Museen über Papst Pius XII. Aus: Mitteilungen Nr. 204 (1/2009), S. 14/15
Pius XII. gilt seit Rolf Hochhuths anklagendem Theaterstück „Der Stellvertreter“ aus dem Jahre 1963 als der Papst, der zum Holocaust geschwiegen hat. Hochhuths in einer Mischung aus historischem Drama und satirischem Pamphlet auf die Bühne gebrachte These: der Papst habe nichts gegen die Ermordung der europäischen Juden getan, durch sein Schweigen den Holocaust geduldet und sich dadurch gar mit schuldig gemacht an der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas. Kein anderes Theaterstück hatte seit 1945 so für politische Aufregung gesorgt wie Hochhuths „Stellvertreter“. Seine Thesen fanden weltweit Resonanz, bis in den Deutschen Bundestag reichte die Diskussion über die Rolle der katholischen Kirche bzw. des Papstes im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Es kam zu Reaktionen in vielen europäischen Ländern und zu scharfen Protesten von katholischer Seite. Bis in die Gegenwart hinein erhitzt Hochhuths These die Gemüter, noch immer wird Pius in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem wegen seines angeblichen Schweigens zur Judenverfolgung in einer „Halle der Schande“ dargestellt. Die Kirche verlangt die Rücknahme dieser von ihr als Diffamierung angesehenen Darstellung – bisher ergebnislos.
Doch was hat Pius XII., der von 1939 bis 1958 auf dem Heiligen Stuhl saß, tatsächlich getan oder nicht getan? Während seiner Zeit als Berliner Nuntius hatte er vor Hitler und dem Nationalsozialismu gewarnt. Als Papst mied er jedoch derart klare Worte gegen die NS-Verbrechen, ein entsprechendes Redemanuskript soll er zerrissen haben. Ihm wird jedoch zugute gehalten, er habe durch Enthaltung Schlimmeres zu verhindern gesucht. Es ist gerade diese Politik der Enthaltung, die ihm nicht nur Hochhuth zum Vorwurf macht. Die im Auftrag des Vatikans erstellte Wanderausstellung „Opus Justitiae Pax – Das Werk der Gerechtigkeit ist der Frieden“, die bis zum 7. März 2009 im Charlottenburger Schloss in Berlin zu sehen war, versuchte diese Politik zu verteidigen. Mit der biographischen Ausstellung über Papst Pius XII. will der Vatikan, wie es im Programmtext heißt, „solide Aufklärung ohne Apologetik“ betreiben und das unverzerrte Lebensbild Eugenio Pacellis, des späteren Papst Pius XII. zeigen.
In der Ausstellung wird zunächst der vorbildliche Lebensweg von Pacelli dargestellt, Schautafeln dokumentieren seine Reisen, in Vitrinen sind wertvolle Pontifikalgewänder und seine Stola zu sehen, erstmals nördlich der Alpen auch die Tiara und der Bischofsring. „Für Freunde von Glanz und Gloria wird […] etwas geboten“, verspricht die Programmankündigung. Auf Schautafel 37 steht jedoch ein Satz, der den apologetischen Ansatz dieser Schau entlarvt: „Manchmal haben seine humanitären Handlungen Erfolg, ein anderes Mal scheitern sie an den Interessen und gegensätzlichen Zielen der Kriegsparteien. Aus diesen Gründen, und weil der Zweite Weltkrieg vielleicht keinem anderen Krieg des 20. Jahrhunderts gleicht, ist Papst Pacelli eine der entscheidenden Gestalten des 20. Jahrhunderts.“ Warum „vielleicht“? Im Zweiten Weltkrieg haben über 55,5 Millionen Menschen ihr Leben verloren, darunter ca. 27,3 Millionen Zivilisten. Im Rahmen eines beispiellosen, staatlich organisierten Massenmordes wurden über 6 Millionen Juden planmäßig ermordet. Warum also „vielleicht“? Zu aller erst stellt das „vielleicht“ die Einmaligkeit des Holocaust in Frage, relativiert ihn geradezu. Darüber hinaus ist dieses „vielleicht“ eine Rechtfertigung. Es unterstellt, dass Papst Pius XII. das wahre Ausmaß des organisierten Mordens nicht bewußt war. Gerade er war jedoch ein ausgewiesener Experte der deutschen Verhältnisse, hatte viele Jahre als Nuntius in Berlin gelebt und gearbeitet, war unter seinem Vorgänger Papst Pius XI. maßgeblich an den Verhandlungen und dem Vertragsabschluss des 1933 unterzeichneten „Reichskonkordats“ beteiligt, der gegenseitigen staatlichen Anerkennung von Vatikan und Deutschem Reich. Zudem pflegte er mit hohen deutschen Würdenträgern persönliche Freundschaften.
Der letzte Raum der Ausstellung steht unter dem Motto „Hier hören Sie das Schweigen des Papstes“. Neben seiner vor einem Mikrophon plazierten Bronzebüste ertönt die Stimme von Pius XII. Es sind die einzigen zwei Stellen zu hören, die sich unmittelbar auf den Holocaust beziehen: aus einer Weihnachtsbotschaft der Kurie von 1942 und aus einer Rede des Papstes an die Kardinäle vom 2. Juni 1943. In der Weihnachtsbotschaft heißt es: „Dieses Gelöbnis schuldet die Menschheit den Hunderttausenden, die persönlich schuldlos bisweilen nur um ihrer Volkszugehörigkeit oder Abstammung willen dem Tode geweiht oder einer fortschreitenden Verelendung preisgegeben sind.“ An die Kardinäle gerichtet erklärte Pius XII. im Juni 1943: „Seid nicht erstaunt, Ehrwürdige Brüder und liebe Söhne, wenn Wir mit besonders eiliger Fürsorge auf die Bitten derjenigen antworten, die sich an Uns wenden, die Augen voll von ängstlichem Flehen, diejenigen, die aufgrund ihrer Nationalität oder ihrer Rasse zur Zielscheibe für noch größere Katastrophen und noch heftigere Schmerzen geworden sind und die manchmal sogar, ohne eigenes Verschulden, zur Ausrottung bestimmt sind.“
In seiner historischen Darstellung „Papst Pius XII. und der Zweite Weltkrieg“ schreibt Jesuitenparter Pierre Blet: Pius XII. „setzte alle Hebel, über die er verfügte, in Bewegung“, um die Verfolgten zu retten. „Er beschränkte seine öffentlichen Kundgebungen, von denen er sich nichts Gutes erhoffte, auf ein Minimum. Er redete nicht, er handelte.“ Betrachtet man die beiden oben aufgeführten Textstellen, die in der vatikanischen Ausstellung zum Beweis gegen die Hochhuth-Thesen angeführt werden, muss man einräumen: Nein, der Papst hat nicht geschwiegen! Er äußerte sich, jedoch auf eine sehr abstrahierte Art und Weise. Nur die beiden angegebenen Textpassagen sind überliefert. In einem Fall handelt es sich um eine an die Kardinäle gerichtete interne Äußerung (1943). Die Äußerung im anderen Fall, die veröffentlichte Weihnachtsgrußbotschaft, kann wohlwollend noch als „zurückhaltend“ bezeichnet werden. Das grundsätzliche Problem am Umgang der katholischen Kirche mit dem Mord an den europäischen Juden ist jedoch, dass der Heilige Stuhl ganz offensichtlich die Einmaligkeit und die Ungeheuerlichkeit dieses Ereignisses nicht erkannte.
Aber was gehen uns mögliche Fehler und Versäumnisse des Vatikans in der Vergangenheit heute an? Gibt es nicht bereits seit Jahren einen jüdisch-christlichen Dialog? Tatsächlich darf die Ausstellung nicht schlicht als historische Ausstellung über einen ehemaligen Papst verstanden werden. Der Vatikan verfolgt mit ihr eindeutig kirchenpolitische Ziele, die in ihrem Rahmen getroffenen Aussagen sind als politische Stellungnahme der Kirche zu verstehen. Derzeit befindet sich der von Benedikt XVI. gegen alle Proteste betriebene Prozess der Seligsprechung von Pius XII. in der Endphase. Von sieben Ausstellungsräumen befasst sich ein Raum mit dem Nachweis, dass sich Pius XII. entgegen allen Vorwürfen deutlich gegen Holocaust und Nationalsozialismus geäußert habe. Als Beleg werden aber nur die beiden zitierten Texte herangezogen. Dies nährt den Verdacht, dass hier die anstehende Seligsprechung durch die Darstellung eines „makellosen Lebensweges“ vorbereitet werden soll.
Eine solche Seligsprechung ist für den Vatikan zunächst einmal eine kirchenpolitische, ergo eine innenpolitische Entscheidung. Dass derartige Entscheidungen jedoch immer auch eine außenpolitische Dimension haben, scheint vom Vatikan regelmäßig ignoriert zu werden. Das illustrierten zuletzt die Auseinandersetzungen um die Wiederaufnahme der erzkonservativen Piusbrüderschaft in die katholische Kirche und die unglückliche Aufhebung der Exkommunikation des als Holocaustleugner einschlägig bekannten Bischofs Williamson. Bereits ein Jahr vorher, im Februar 2008, hatte Benedikt XVI. gegen den ausdrücklichen Widerstand der Weltbischöfe den alten, tridentinischen Messritus wieder zugelassen. In dieser Sonderform der umstrittenen Karfreitagsfürbitte wird indirekt zur „Bekehrung“ der Juden aufgerufen. Die Wiedereinführung des tridentinischen Meßritus kann bereits als Tribut an die Piusbrüderschaft verstanden werden. Jene Bruderschaft kritisiert die Reinigung liturgischer Texte von antijüdischen Passagen, genauso wie einige ihrer Vertreter den Holocaust offen leugnen. Bereits im Vorjahr ließ die Kritik am „Entgegenkommen“ des Papstes nicht lange auf sich warten: Der Papst ginge von der Überlegenheit des christlichen Glaubens aus und halte „den Dialog mit dem Judentum für überflüssig“, monierte etwa Venedigs Oberrabiner Elia Enrico Richetti.
Die Einschätzung des Berliner „Tagesspiegel“, die „Kehrtwende“ bei der Karfreitagsbitte und die Rehabilitierung des Holocaust-Leugners Williamson lasse vermuten, dass die katholische Kirche „ihren alten Antisemitismus nicht völlig überwunden“ habe, scheint überzogen. Benedikt selbst ist sicherlich kein Antisemit. Seine Kritiker werfen ihm zu Recht vor, in Bezug auf den Holocaust schlicht unsensibel, wenn nicht gar gleichgültig zu sein. Der Kirchendogmatiker Ratzinger stellt auch als Papst die pastorale Sorge um die Einheit der Kirche über alle anderen möglichen Implikationen. Kirchenrechtlich ist die Aufhebung der Exkommunikation ein Akt der Versöhnung. In diesem Fall hat sich die Kirche mit einer Bruderschaft versöhnt, die sich weigert, das zweite vatikanische Konzil anzuerkennen, das allen Menschen die freie Wahl der Religion zugesteht und damit die Grundlage bildet für den interreligiösen Dialog. Dass sich die Piusbruderschaft plötzlich von ihren fragwürdigen Positionen abwenden könnte, ist mehr als unwahrscheinlich. Stattdessen triumphierte sie bereits am 21. Februar 2009 in der italienischen Tageszeitung „Il Giornale“, dass sie nun die katholische Kirche in ihrem Sinne aufrollen werde. Es sind Äußerungen wie diese, die viele Gläubige befürchten lassen, dass sich die Piusbruderschaft in der katholischen Kirche wie ein Trojanisches Pferd aufführen werde.
Dass die Aufhebung der Exkommunikation dieser Traditionalisten und die Versöhnung der Kirche mit Vertretern derartiger Positionen nur wenige Tage vor dem Gedenktag zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar bekannt gegeben wurde, musste für viele Opfer zwangsläufig einer Verhöhnung ihres Leids gleichkommen. Der Papst muss sich den Vorwurf gefallen lassen, mit Scheuklappen für das Geschehen um ihn herum kirchliche Innenpolitik zu betreiben, und die kirchliche Einheit nach seinem Verständnis ohne Rücksicht auf Verluste anzustreben. Er nimmt dafür nicht nur die Gefahr einer Beendigung des interreligiösen Dialogs in Kauf, sondern auch eine Entfremdung der undogmatischen katholischen Basis. Der Jesuit Alfred Delp, ein Mitglied des Kreisauer Kreises im Widerstand gegen Hitler, hat einmal über die Amtsstuben der katholischen Kirche beklagt: „Die Kirche ist in der Welt. Zu meinen, man könne sich mit Worten, abstrakten Unterscheidungen und mit Totschweigen des entscheidenden Punktes aus den politischen Kontexten herausbegeben, in den man steht, ist weltfremd.“ Dies gilt für die Reaktion Papst Pius XII. auf den Mord an den europäischen Juden, ebenso wie für den amtierenden Papst Benedikt den XVI.
Dr. Stephan A. Glienke,
Research Fellow des Centre for the Study of War, State and Society der University of Exeter und Mitglied des Landesvorstands der Humanistischen Union Niedersachsen
Die Ausstellung „OPUS JUSTITIAE PAX – Das Werk der Gerechtigkeit ist der Frieden“ ist vom 17. März bis zum 3. Mai 2009 im Münchner Karmelitersaal zu besichtigen. Weitere Informationen zur Ausstellung unter: http://www.papstpiusxii.de/.
Zur Wiederaufnahme der Piusbrüderschaft durch Papst Benedikt XVI. und der Relativierung der Ergebnisse des II. Vatikanischen Konzils hat die Humanistische Union am 27.1.2009 in einer Pressemitteilung Stellung bezogen: „Der Glaube ist teilbar, die Menschenrechte sind es nicht“, abrufbar unter www.humanistische-union.de/presse/2009/.