Themen / Lebensweisen / Pluralismus

Die Gesell­schaft als Geisel.

01. Dezember 1999

Mitteilung Nr. 168, S. 101

Entsetzt über die jüngsten Gewaltaktionen Jugendlicher in Bad Reichenhall und an einem Leipziger Gymnasium äußerte sich in Berlin die Humanistische Union. In einer systematischen Durchsuchung von Schülerinnen und Schülern vor dem Schuleingang sieht die älteste bundesdeutsche Bürgerrechtsorganisation aber keine Lösung; vielmehr müsse die Gewalt an ihren Wurzeln bekämpft werden.
HU-Pressesprecher Franz-Josef Hanke sieht die Gründe für Gewalttätigkeit von Jugendlichen vor allem in einem Werteverlust und alltäglicher Gewalt in der Familie, PC-Spielen und den Medien als Vorbild. Nach einer Studie von Professor Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Instituts Hannover, sind Jugendliche aus Familien, wo Gewalt alltäglich ist, um das Fünffache gewalttätiger als Altersgenossen aus Familien, die sich intensiv ihren Kindern widmen und wo keine Gewalt herrscht. Für ihn besteht kein Zweifel, daß mörderische Computerspiele sowie Gewaltdarstellungen in Videos und Fernsehprogrammen auf Jugendliche, die für Gewalt anfällig sind, gewaltsteigernd wirken. Hintergrund von Gewalt sind häufig prekäre Familienverhältnisse wie beispielsweise Arbeitslosigkeit und soziale Deklassierung.
Franz-Josef Hanke warnte deshalb vor weiteren Einsparungen am sozialen Sicherungssystem, die sich möglicherweise in einer Welle von Gewaltaktionen niederschlagen könnten. Außerdem rief der Journalist Verantwortliche in Fernsehsendern, Videofirmen und der Produktion von Computerspielen auf, auf Gewaltdarstellungen allein zur Unterhaltung zu verzichten: „Wir müssen endlich weg vom allabendlichen Krimi mit wilden Schießereien oder grausam verstümmelten Leichen!“ Verbote hält der HU-Sprecher aber nicht für angebracht. Vielmehr sei es ein Wesenselement ausgeprägter Demokratien, daß der Einzelne mit seinen Freiheiten verantwortungsvoll umgehen müsse.
Lehrern und Schulleitungen riet Hanke, Gewalt zu thematisieren und bei allen Ansätzen von Gewalttätigkeit nicht wegzugucken. Nach kriminologischen Studien ist Gewalt dort größer, wo „eine Kultur des Wegguckens“ (Christian Pfeiffer) herrscht. Insbesondere dem dramatisch zugespitzten Kampf jedes Einzelnen gegen jeden Anderen um das alltägliche Überleben im globalen Wirtschaftsraum dürfe nach Ansicht der HU nicht mehr länger tatenlos zugesehen werden. „Wenn wir nicht sofort mit einer gesellschaftlichen Debatte über gleiche Chancen für alle beginnen“, so warnte Hanke abschließend, „dann werden wir alle zu Geiseln unserer eigenen Rücksichtslosigkeit!“

Franz-Josef Hanke (HU-Pressesprecher)
Tel. 06421/ 666 16 / e-Mail: hu-marburg@medienlinks.de

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