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Die (Nicht-)Verar­bei­tung der gemeinsamen deutschen Schuld

05. November 1991

aus: ders., Zur religiösen Legitimation der Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1991, S. 21-24

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von Seiten der Sieger vielfach eine Kollektivschuld des ganzen deutschen Volkes für die Taten der nationalsozialistischen Verbrecher behaupteL14J, zumal die große Masse des deutschen Volkes den Aufstieg des Nationalsozialismus tatsächlich gebilligt hatte und sich deshalb auch die in seinem Namen durchgeführten Diskriminierungen, Unterdrückungen und Verbrechen zurechnen lasse müsse. Der Philosoph Karl Jaspers hat 1946 sich mit diesem schwierigen und alle Deutschen betreffenden Problemen auseinandergesetzt. Die christlichen Theologen, insbesondere die Kirchenführer, haben sich auffällig wenig um‘ eine konkrete Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld bemüht. Dabei war aus der Theologiegeschichte die Kollektivschuld der Juden an der Kreuzigung Christi nachdrücklich und verhängnisvoll tradiert. Warum sollte es jetzt nicht auch für das deutsche Volk gelten, in dessen Namen Juden millionenfach ermordet worden waren? Immerhin hat erst 1965 das Zweite Vatikanische Konzil die Schuld an der Kreuzigung Christi nur denjenigen Juden zugeschrieben, die persönlich dazu beigetragen haben, und damit die Zuweisung einer Kollektivschuld an die Juden erstmals abgelehnt (Dekret über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen n.4).
Bei der Durchsicht der Hirtenbriefe der deutschen katholischen Bischöfe nach 1945 fällt auf, wie wenig ernsthaft sie darüber nachgedacht haben, warum und wie es zur Katastrophe des Nationalsozialismus und der schlieslichen Niederlage kommen konnte. Offenbar haben die Bischöfe im tiefsten Winkel ihres Vorbewussten gespürt, wie sehr sie in diese Entwicklungen verstrickt und wie tief sie in diese Schuld mitverwickelt waren. Wenn Fragen nach den Ursachen des nationalen Unglücks überhaupt angesprochen wurden, wird vor allem das Unglück mit peinlicher Wehleidigkeit beklagt: Es müssten nun alle leiden müssen, weil einige (sic!) gottlos gehandelt haben und den Lehren der Kirche (sic!) nicht gefolgt sind; die politisch-nationale Katastrophe wird gleichsam zum erlebten Beweis dafür umstilisiert, was geschieht, wenn Lehre und Freiheit der Kirche nicht hinreichend geachtet werden. Der Erschütterung über das gemeinsam zu verantwortende Versagen und Verbrechen, dem ehrlichen Versuch nach Ursachen und Auswegen zu suchen, wie sie in der Rede von Ernst Wiechert vom 11.11.1945 ihren Ausdruck gefunden hat, haben die deutschen katholischen Bischofe nichts Ebenbürtiges an die Seite zu steilen. Gegenüber der katholischen Wehleidigkeit, der Selbstbemitleidung und der Herausstellung des angeblich glänzenden Widerstandes der Kirche gegen den Nationalsozialismus, hebt sich die sogenannte Stuttgarter Schulderklärung vom 18./19. Oktober 1945 der Evangelischen Kirchen Deutschlands in ihrer spröden Nüchternheit geradezu wohltuend ab. Gegenüber einer Delegation von Vertretern des ökumenischen Rates der Kirchen – also auch nicht ganz aus eigenem Antrieb – erklärte der Rat der deutschen Kirchen in der berühmt gewordenen Formulierung: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Länder und Völker gebracht worden. Was wir in unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregime seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“
Auf katholischer Seite sollte es bis 1988 dauern, dass der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Bischof Lehmann, eine ähnliche Erklärung abgab, die allerdings um dreiundvierzig Jahre zu spät kam. Vom Vatikan, über dessen Kanäle nach 1945 zahlreiche nationalsozialistische Verbrecher ins Ausland, insbesondere nach Südamerika fliehen konnten, fehlt bis heute jedes Wort einer Mitschulderklärung. Gerade der Vatikan hat mehr noch als die deutschen Bischöfe den Widerstandswillen der deutschen Katholiken und der deutschen katholischen Politiker gegen das NS-Regime in den ersten Monaten des Jahres 1933 untergraben. Das waren die entscheidenden Monate! Danach war Widerstand praktisch nur noch für todesmutige Heroen möglich und politisch für den einzelnen Bürger, die einzelne Bürgerin so gut wie sinnlos. Sie konnten nur noch Zeichen setzen. Und nicht wenige haben es getan! Nicht aber die Kirchenführer! Betrachtet man die amtlichen kirchlichen Stellungnahmen abgesehen von der Stuttgarter Erklärung von 1945, so muss man feststellen, dass die Kirchen, ganz besonders die katholische Kirche, keinen Beitrag zur Aufarbeitung der Frage geleistet haben, wie es überhaupt zum Massenwahn des Nationalsozialismus und in seinem Gefolge zu den furchtbaren Greueltaten des Zweiten Weltkrieges, der millionenfachen Tötung von Juden, Polen und Russen, sowie von sogenanntem lebensunwertem Leben kommen konnte. Alle diese Entwicklungen und Taten waren ja nicht wie ein Gewitter plötzlich vorn Himmel gefallen, sondern hatten eine lange Vorgeschichte, die zurückreicht in die letzten Jahrzehnte des vergangen Jahrhunderts). Die alten religiösen Institutionen konnten den Entrechteten und Armen, den Verlierern der industriellen Revolution und des Ersten Weltkrieges weder konkrete Hilfe noch realisierbare Zukunftsperspektiven anbieten.

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