Bäumler

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Der Ausgangspunkt

Nach meinen 23 Jahren Erfahrung im Bereich des polizeilichen Datenschutzes ist es reizvoll, einmal eine Bilanz zu ziehen. Zunächst habe ich zehn Jahren beim Bundesbeauftragten für den Datenschutz in Bonn gearbeitet, wo ich für die Kontrolle der Geheimdienste und des Bundeskriminalamtes und des Bundesgrenzschutzes zuständig war, bevor ich nach Schleswig-Holstein ging. Dort leite ich jetzt das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein.Sie haben mir das Thema gegeben: „20 Jahre Polizeirechtsgesetzgebung aus der Sicht eines Datenschützers“. Heute lohnt es sich in der Tat, an eine der wichtigsten Quellen des Datenschutzrechts zu erinnern: Vor 20 Jahren, im Dezember 1983, verkündete das Bundesverfassungsgericht das Volkszählungsurteil. Dieses Urteil sollten wir bei der Betrachtung unseres Themas zum Ausgangspunkt nehmen. Zunächst ist ein Blick auf die politische Situation hilfreich, in der diese Entscheidung erging.

Die Situation zum Zeitpunkt des Volkszählungsurteils

Wir hatten in Deutschland auf Bundesebene zum Zeitpunkt des Volkszählungsurteils etwa fünf Jahre Erfahrung gesammelt mit den beiden Kontrahenten Polizei und Datenschutz. Das Bundesdatenschutzgesetz wurde 1977 verabschiedet und der Bundesbeauftragte für den Datenschutz nahm 1978 seine Arbeit auf. Der Datenschutz verfolgte damals einen sehr technikkritischen Ansatz. Die Datenschützer der ersten Stunde waren letztlich alle geprägt von George Orwells „1984“. Der Überwachungsstaat war das Negativbild, ja das Feindbild. Die zentralen Fragestellungen lauteten damals: Wo könnte ein solches Szenario entstehen? Welches könnten die Instanzen sein, die so etwas wie „1984“ aufbauen? Und es gab schon in den ersten Jahren des Datenschutzes immer wieder heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei; dem konnte man sich beim besten Willen nicht entziehen.

Schauen wir auf die andere Seite sozusagen, nämlich auf das was sich zu dieser Zeit bei der Polizei getan hatte. Wir hatten 1983 über zehn Jahre intensive Fahndung mit höchster Priorität nach den Terroristen der RAF hinter uns. Maßgeblicher Stratege der Polizei war damals der Präsident des Bundeskriminalamtes, Horst Herold, der den Computer, wie man so schön sagt, für die Polizei entdeckte. Das Inpol-Konzept von 1975, das sehr stark von Herrn Herold beeinflusst war, war bis zu diesem Zeitpunkt nahezu Punkt für Punkt umgesetzt. Ein Konzept übrigens, bei dem man als Datenschützer aus heutiger Sicht froh wäre, wenn es dabei geblieben wäre. Es trug aber den Keim vieler weiterer Konflikte mit datenschutzrechtlichen Prinzipien schon in sich:

Als erstes Beispiel nenne ich die in diesem Konzept vorgesehene und dann auch umgesetzte systematische Erfassung so genannter „anderer Personen“ in der polizeilichen Datenverarbeitung. Diese „anderen Personen“ waren nicht näher definiert. Es handelte sich jedenfalls nicht um Beschuldigte oder Verdächtige, auch nicht um Zeugen oder Hinweisgeber, denn deren Erfassung war gesondert geregelt. Die Ausweitung des von polizeilichen Rechtseingriffen betroffenen Personenkreises war in diesem Konzept ein tragender Punkt. Es sah nämlich die Einführung von PIOS-Dateien vor, in denen systematisch solche „anderen Personen“ erfasst wurden.Das Konzept beinhaltete außerdem den bundesweiten Kriminalaktennachweis. Dies bedeutete, dass man, sagen wir in München, auf Knopfdruck feststellen konnte, ob über jemand in Flensburg eine Kriminalakte existiert und umgekehrt. Das hatte allerdings zur Konsequenz, dass an die Qualität der polizeilichen Datenverarbeitung bei dieser Art des schnellen Zugriffs auf externe Datenbestände und der daraus vielleicht folgenden Konfrontation eines Bürgers mit einem Polizeibeamten ganz andere Anforderungen zu stellen waren. Es hat Jahre gedauert, bis mit der Polizei die spezifischen Probleme dieser neuartigen Nutzung von Kriminalakten geklärt werden konnten. Fehler in den alten, konventionellen Kriminalaktenkarteien konnten durch einen Blick in die Akte bemerkt werden. In die Akten konnte man nun aber nicht mehr so ohne weiteres reinschauen und etwaige Fehler korrigieren, denn ihr Aufbewahrungsort war u. U. hunderte von Kilometern entfernt. Stattdessen war es fortan möglich, in Sekundenbruchteilen wesentliche Informationen aus einer Kriminalakte abzurufen und daraus Schlüsse zu ziehen. Hingegen gab es keine Chance mehr, Hintergründe und Nebenaspekte aus der Akte selbst zu entnehmen.Und drittens wurde ein Konzept verwirklicht, das der Polizei Online-Zugriffe auf wichtige Verwaltungsdateien ermöglichte, zum Beispiel auf die Melderegister, auf das Ausländerzentralregister und vor allem auf das Zentrale Verkehrsinformationssystem ZEVIS. Seit der Einführung von ZEVIS ist es der Polizei in Deutschland technisch möglich, im ruhenden wie auch im fließenden Verkehr durch Abfragen in Sekundenschnelle heimliche Identifizierungen vorzunehmen.Der Aufbau des INPOL-Systems geschah weitgehend ohne gesetzliche Grundlagen, im Wesentlichen gestützt auf Beschlüsse der Innenministerkonferenz. Damals schon hatten die Datenschützer gefragt, wo denn eigentlich die Rechtsgrundlagen dafür seien. Sie hatten damit auch implizit und explizit die Auffassung vertreten, ein Datenverarbeitungssystem wie INPOL dürfe man nur auf einer gesetzlichen Grundlage einführen, nicht ahnend, dass ihnen das Bundesverfassungsgericht später so massiv Recht geben würde.

Die Wirkungen des Volkszählungsurteils

Dann erging also im Dezember 1983 das Volkszählungsurteil und schien im ersten Moment all das zu bestätigen, was die Datenschützer immer schon vertreten hatten. Folgendes war fortan nicht mehr zu bestreiten:

Datenschutz hat Grundrechtscharakter.
Für Eingriffe in dieses Grundrecht sind gesetzliche Grundlagen erforderlich.
Eingriffsermächtigungen müssen normenklar sein; das heißt, auch ein Nichtjurist muss durch einen Blick ins Gesetz erkennen können, mit welcher Art und mit welchem Umfang von Datenverarbeitung er zu rechnen hat.

Die Datenschützer haben sich seinerzeit geradezu naiv gefreut und sich vielleicht auch ein wenig auf den Lorbeeren dieses Urteils, das sie selbst gar nicht erstritten hatten, ausgeruht und im Übrigen fest auf den Gesetzgeber vertraut. Die Reaktion der Polizei war eine ganz andere: Nach dem ersten Schock über das Urteil ging sie daran, systematisch die Konsequenzen aus dem Urteil aufzuarbeiten. Sie richtete in den Gremien der Innenministerkonferenz Arbeitsgruppen ein, die untersuchten, welche Folgen das Urteil für die Polizeirechtsgesetzgebung haben müsste.

Herausgekommen ist dabei der so genannte Vorentwurf zur Änderung des Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder.

Dieser Vorentwurf enthielt an ein paar wichtigen Stellen A- und B-Varianten, benannt nach den so genannten A(SPD)- und B(CDU/CSU)-Ländern. Grundlegende Unterschiede gab es freilich nicht. Die Grundstrukturen waren in beiden Versionen jeweils relativ gleich. Dieser Vorentwurf hat die Polizeigesetzgebung in Deutschland bis zum heutigen Tage geprägt. Selbst so unterschiedliche Gesetze wie das in Schleswig-Holstein – nach meiner Einschätzung nach wie vor das mit Abstand liberalste Polizeigesetz in Deutschland – und in Bayern, eher am anderen Ende der Skala, folgen letztlich der Grundstruktur des Musterentwurfs. So gesehen ist dieser Musterentwurf – ich komme nicht umhin, es zu sagen – eine beeindruckende Erfolgsstory.Allerdings nur auf den ersten Blick, denn der Musterentwurf ist aus einer „Verteidigungshaltung“ heraus geschrieben. Die Parole in den polizeilichen Gremien war damals: „Wir lassen uns durch das Volkzählungsurteil keine Befugnisse wegnehmen. Wenn für unsere Datenverarbeitung jetzt eine gesetzliche Grundlage notwendig ist, dann machen wir uns an die Arbeit und formulieren sie für den Gesetzgeber vor.“ Und tatsächlich hat die Polizei erreicht, dass sie nach In-Kraft-Treten der neuen Gesetze ihre Datenverarbeitungspraxis kaum ändern musste. Letztlich wurde alles, was zum damaligen Zeitpunkt praktiziert wurde, durch die Gesetze „einwandfrei“ abgesichert.

Die Absicherung des Status quo

Aber was war das für eine Datenverarbeitung, die sich fortan auf gesetzliche Grundlagen stützen konnte? Es war eine Struktur, die ganz entscheidend aus der Auseinandersetzung mit der RAF entstanden war. Die Instrumente, die in dieser Gesetzgebung abgesichert wurden, waren folglich zugeschnitten auf diese ganz spezielle Form von Kriminalität. Als Beispiele sind zu nennen:

Die polizeiliche Beobachtung etwa ist eine Erfindung von Horst Herold, die ersonnen wurde, um die Verbindungslinien, die die RAF zwischen den Kommandoebenen aufrechterhalten musste, erfassen zu können Es ging um die Frage, wer die Transmissionsriemen zwischen den Mitgliedern in den so genannten Ruheräumen waren. Im Einzelnen funktionierte die polizeiliche Beobachtung so, dass man jemand, gegen den eigentlich nichts vorlag, den man aber irgendwie letztlich doch der „Szene“ zurechnete, zur Fahndung ausschrieb; aber nicht, um ihn festzunehmen, sondern um auf diese Weise unauffällig zu notieren, wann, wo und mit wem er wohin gereist war. Wenn solche Meldungen eifrig gesammelt und systematisch ausgewertet werden, kann man daraus durchaus bestimmte Strukturen erkennen.
Als zweites Beispiel nenne ich die Rasterfahndung. Hinter dieser Methode stand die Überlegung: Welche Spuren muss jemand notgedrungen in irgendwelchen Dateien hinterlassen, der im Übrigen verdeckt im Untergrund lebt? Entsprechend ist dann das Modell der Rasterfahndung erfunden worden und hat vielleicht hier und da ein paar wenige Erkenntnisse gebracht. Die Rasterfahndung ist aber nur ein Mythos. Die Öffentlichkeit glaubt noch heute an Erfolge der Rasterfahndung, die sie in Wirklichkeit nie erbracht hat. Im vorliegenden Zusammenhang bedeutsam ist die Feststellung, dass sie maßgeschneidert ist für die genannte Form des Untertauchens von Straftätern aus dem Bereich der RAF.
Und schließlich ist die Einrichtung von Kontrollstellen zu erwähnen. Diese Fahndungsmaßnahme ging von der Überlegung aus, dass man nach einem Anschlag konzentrische Kreise um den Tatort legen und jedermann kontrollieren müsse um zu versuchen herauszufinden, wer sich vom Tatort wegbewegt.

Nun wissen wir aber, dass Ende der 80er Jahre die Gefahr des Terrorismus, jedenfalls in Gestalt der RAF, gebannt war. Das Gespenst RAF wurde immer schwächer und verschwand letztendlich. Aber es entstanden bzw. traten ins Bewusstsein der Öffentlichkeit neue Kriminalitätsbrennpunkte, zum Beispiel die Organisierte Kriminalität mit Erscheinungsformen – und das machte sie, wie Giovanni Falconi einmal gesagt hat, so gefährlich -, die dem legalen Wirtschaftskreislauf ganz ähnlich sind. Auf solche Kriminalitätsstrukturen war die auf die RAF bezogene Datenverarbeitung überhaupt nicht eingestellt. Ähnliches gilt für den zunehmenden Terrorismus ausländischer Gruppen, der mit dem der RAF nicht zu vergleichen war.Wir sehen also, dass, obwohl es plötzlich ein neues Gegenüber für die Polizei gab, sie lediglich über die alten Instrumente verfügte, die sie durch ihre Legalisierung gerade mit Bravour gegen den Angriff der Datenschützer verteidigt hatte. Und daraus hat sich eine Rollenverteilung entwickelt, die im Grunde bis heute ihre Gültigkeit hat: Die Polizei hat nämlich Recht, wenn sie beklagt, sie hätte eigentlich nicht das richtige Instrumentarium und könne auf bestimmte Bedrohungen nicht adäquat reagieren. Genauso Recht haben aber die Datenschützer, wenn sie postwendend darauf verweisen, was die Polizei in den letzten Jahren alles an neuen Befugnissen bekommen hat.Den ständigen Nachforderungen der Polizei an den Gesetzgeber- es ist ja keineswegs dabei geblieben, dass der Musterentwurf umgesetzt worden ist – hatten die Parlamente und die Datenschützer kaum etwas entgegenzusetzen. Letztere vermittelten obendrein viel zu oft den Eindruck, als komme es ihnen nur auf die formale gesetzliche Grundlage an. Kaum jemand war in der Lage, der Polizei fachlich Paroli zu bieten, weil es an einer Evaluation bestehender polizeilicher Befugnisse und an einer objektiven Überprüfung der Effizienz polizeilichen Handelns fehlte (übrigens bis heute in Deutschland fehlt). Der Gesetzgeber brachte zumeist sein schlechtes Gewissen über diese Art von Gesetzgebung, die ständig die Eingriffsrechte im Sinne der Polizei nachbesserte, durch komplizierte Verfahrensregeln – Stichwort: Grundrechtsschutz durch Verfahren – zum Ausdruck. So entstand ein Bild vom Datenschutz, der nichts wirklich verhindern konnte, der aber alles nur komplizierter machte. Ein fatales Bild, wie wir gleich noch in einem anderen Zusammenhang sehen werden. Die inhaltlichen Anliegen des Datenschutzes verschwanden unter dem grauen Schleier einer sich etablierenden Datenschutzbürokratie.

Die Versäumnisse in der Strafprozessordnung

Nach dem Volkszählungsurteil hätte eigentlich das „Gesetz der Gesetze“ der Datenverarbeitung der Polizei, nämlich die Strafprozessordnung, als erstes überarbeitet und ergänzt werden müssen. Die StPO ist im Grunde genommen ein einziges Gesetz zur Sammlung personenbezogener Daten, so wie es Sinn und Zweck des Strafprozesses ist, möglichst alle Informationen über die Straftat zu beschaffen und in der mündlichen Verhandlung vorzulegen, damit das Gericht entscheiden kann: Wer war der Täter und welche Strafe ist angemessen? Es hätte also aller Grund bestanden, zuerst die StPO zu novellieren. Tatsächlich ist aber diesbezüglich zehn, fünfzehn Jahre wenig passiert. Die Innenminister hießen damals unter anderem Zimmermann und Kanther, und das Justizressort war die Domäne der FDP. Man konnte sich nicht auf die Inhalte der Novellierung der Strafprozessordnung einigen und schob das Problem viele Jahre vor sich her.In der Zwischenzeit stießen die Landesgesetzgeber mit ihren Polizeigesetzen in diese Lücke und erließen zahlreiche Vorschriften zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten, deren Inhalt eigentlich der Strafverfolgung zuzurechnen ist. Zur Veranschaulichung sind – statt vieler – folgende drei Beispiele nennen:

Die Polizeiliche Beobachtung etwa kann schon begrifflich kaum Gefahrenabwehr sein, denn dem Polizeibeamten, der eine zur polizeilichen Beobachtung ausgeschriebene Person antrifft, ist es untersagt, aufgrund der Ausschreibung irgendeine polizeirechtliche Maßnahme vorzunehmen. Der Betroffene soll ja überhaupt nicht merken, dass er gespeichert ist. Eine Gefahr ist auf diese Weise kaum abzuwehren. In Wirklichkeit geht es um Vorfeldermittlungen, aber nicht im Sinne der polizeilichen Gefahrenabwehr, sondern zur Vorbereitung der künftigen Strafverfolgung. Tatsächlich finden sich Befugnisse zur polizeiliche Beobachtung aber auch in den Landespolizeigesetzen.
Als zweites Beispiel nenne ich die Verdeckten Ermittler. Bei deren Einsatz kann man sich eine gefahrenabwehrende Tätigkeit kaum vorstellen. Wenn wirklich eine unmittelbare Gefahr besteht, dann muss die Polizei zu deren Abwehr rasch eingreifen. In einer solchen Situation einen Polizeibeamten zunächst mit einer Legende in eine Szene einzuschleusen und langfristig bestimmte Zielpersonen zu beobachten, ergibt unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr wenig Sinn. Gleichwohl enthalten die meisten Landespolizeigesetze exakt hierzu die Befugnis.
Und schließlich sei der gesamte Bereich der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten angeführt, der ja an einem vernünftigen Gedanken ansetzt: Vorbeugen ist besser als Heilen. In der Praxis ist allerdings der größte Anteil dessen, was unter dem Etikett „vorbeugende Bekämpfung von Straftaten“ in den Polizeidienststellen passiert, lediglich die Vorbereitung auf eine bessere künftige Strafverfolgung. Was in der Sache nicht zu kritisieren ist, denn die Polizei tut gut daran, sich auf künftige Strafverfolgung vorzubereiten. Aber das ist eben ein Thema der Strafverfolgung und deshalb gehört nach meiner Auffassung die Mehrzahl der Befugnisse, die unter der Rubrik „vorbeugende Bekämpfung von Straftaten“ in Landespolizeigesetzen stehen, eigentlich in die Strafprozessordnung.

Die Untätigkeit des Bundesgesetzgebers überließ den Landesgesetzgebern vermeintlich das Feld der Gesetzgebung im Bereich der Vorbeugung. Ein gefährliches Terrain, denn es fehlen dort so eherne rechtstaatliche Sicherungen wie der Anfangsverdacht einer Straftat, oder der Grundsatz, dass Maßnahmen sich primär gegen den Verdächtigen zu richten haben. Wer ist aber der Verdächtige, wenn eine Straftat noch gar nicht begangen worden ist?

Das Füllhorn der Befugnisse

Nachdem zunächst auf der Ebene der Strafprozessordnung nicht viel geschah, legte der Bundesgesetzgeber dann 1992 mit dem Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (OrgKG), dem Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 und schließlich mit dem Strafverfahrensänderungsgesetz (StVÄG) 2000 nach. Letzteres war nach 17 Jahren die vorläufig letzte Nachlese der Konsequenzen aus dem Volkszählungsurteil.Diese Ergänzungen der Strafprozessordnung fanden in einer Zeit statt, in der sich der politische und gesellschaftliche Wind sich in Deutschland massiv gedreht hatte. Die genannten Novellierungen der StPO hätten sicher ein anderes Aussehen gehabt, wenn sie in den ersten fünf Jahren nach dem Volkszählungsurteil zustande gekommen wären. Vor allem aber hatte der Bund, als er dann im Jahr 2000 das StVÄG erließ, nicht mehr die Kraft und den Willen, die bereits bestehende wuchernde Landesgesetzgebung im Bereich der Vorbeugung noch einmal zurückzudrehen. Stattdessen wählte er den Weg des geringsten Widerstandes. So existieren jetzt in zwei ganz unterschiedlichen Arten von Gesetzen, verabschiedet von unterschiedlichen Gesetzgebern im Bund und in den Ländern, Vorschriften zur vorbeugenden Straftatenbekämpfung: In der Strafprozessordnung finden wir beispielsweise § 81 b, hinzugekommen ist außerdem u. a. § 484, der die Datenverarbeitung und Datenspeicherung für Zwecke der künftigen Strafverfolgung zutreffend in der Strafprozessordnung regelt. Der Bundesgesetzgeber hat aber einen respektvollen Bogen um die schon bestehenden Landesgesetze gemacht und in § 484 Absatz 4 StPO ausdrücklich anerkannt, dass bestehende landesrechtliche polizeirechtliche Rechtsgrundlagen daneben ihre Wirksamkeit behalten. Weiterhin hat man die Datenübermittlung zwischen den Bereichen Gefahrenabwehr, Vorbeugung, Strafverfolgung – hin und her – wesentlich erleichtert: § 481 StPO ist eine sehr weit gefasste Übermittlungsvorschrift, so dass der Informationsfluss zwischen den verschiedenen Bereichen, egal auf welcher Grundlage die Daten dort erhoben worden sind, relativ einfach möglich ist.Daraus entstand nun eine sehr kommode Auswahlsituation für die Polizei. Für den Einsatz eines verdeckten Ermittlers hat sie in allen Ländern, mit Ausnahme von Schleswig-Holstein, die Wahl, eine solche Maßnahme nach der Strafprozessordnung durchzuführen, oder nach dem Gefahrenabwehrrecht oder zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten. Als Datenschützer ist man geneigt, resigniert festzustellen: Irgendetwas passt immer. Rechtsanwalt Kempf, der Vorsitzende des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltstages, spricht in diesem Zusammenhang zu Recht vom „Befugnis-Hopping“. Was aber dabei verloren gegangen ist, sind wichtige rechtsstaatliche Grundsätze, die staatliches Handeln begrenzen und vorhersehbar machen sollen, nämlich das Erfordernis des Anfangsverdachts einer Straftat, die Prüfung des Vorliegens einer polizeirechtlichen Gefahr oder die vorrangige Inanspruchnahme des Verdächtigen bzw. des Störers. Diese Grundsätze haben ihre Wirkung verloren und sind geradezu unterminiert worden mit unbestimmten Begriffen wie Vorbeugung, Gefahrenerforschung, Kontaktpersonen usw. Inzwischen scheint sich auch kaum jemand mehr darüber aufzuregen, dass ein auch inhaltlich sehr fragwürdiges Instrument wie die Schleierfahndung in den Landespolizeigesetzen erlaubt wird – obwohl die Fahndung nach Straftätern doch eigentlich Gegenstand der Bundesgesetzgebung ist und neuerdings auch in § 131 der StPO geregelt ist.Manche „Restriktionen“ laufen regelrecht auf eine Veralberung des Publikums hinaus. Man lese einmal Artikel 31 des Bayrischen Polizeiaufgabengesetzes. Da ist erst akribisch beschrieben, über welche Personenkreise die Polizei Daten erheben und verarbeiten darf. Und am Ende heißt es dann: “ … und über sonstige Personen“. Eine wirkliche Begrenzungsfunktion kann eine solche Vorschrift kaum erfüllen. Man hätte auch gleich „regeln“ können: Die Polizei darf über jeden Daten verarbeiten.

Der gesellschaftliche Wandel

Im Rückblick hat die Polizei in den letzten zwanzig Jahren so ziemlich alles bekommen, was sie dem Gesetzgeber abverlangt hat. Trauriger Höhepunkt war dabei aus meiner Sicht die Einführung des Großen Lauschangriffs. Den Datenschützern ist es nicht gelungen, eine überzeugende Gegenargumentation aufzubauen. Der Rückzug auf das Verlangen nach formalen Rechtsgrundlagen war nicht attraktiv. Er hat dem Datenschutz letztlich das Image der bloßen Behinderer ohne inhaltliches Konzept eingetragen – leider nicht völlig zu Unrecht. Das ist allerdings ein gefährliches Image. Aufgrund des gesellschaftlichen Wandels werden inzwischen Behinderungen der Polizei vom Publikum nicht mehr goutiert. Heute haben wir eine ganz andere Haltung der Bevölkerung zur Polizei als in den 70er Jahren. Auch die Polizei selbst hat sich wesentlich gewandelt. Die Art und Weise der Zusammenarbeit mit der Polizei, die wir in Schleswig-Holstein pflegen, ist geprägt ist von der beiderseitigen Prämisse, dass Datenschutz selbstverständlich ist und selbstverständlich auch von der Polizei zu beachten ist. Es geht lediglich um die adäquate Umsetzung im Alltag der Polizei. In den 70er Jahren wäre eine solche Kooperation kaum vorstellbar gewesen.Es ist auch auf den jahrelangen, permanenten politischen Missbrauch zurückzublicken, der mit der Instrumentalisierung der Kriminalstatistik für Zwecke der Parteipolitik seine Spuren in den Köpfen der Menschen hinterlassen hat. Verbreitet herrscht der Eindruck: Wir haben jedes Jahr mehr Kriminalität (wiewohl die Kriminalstatistik zunächst nur besagt, dass die Polizei mehr Verfahren eingeleitet hat). Und wir haben eine veränderte Medienlandschaft. Medien, die verzweifelt um Auflagenhöhe und Einschaltquote kämpfen, haben das Gebiet der Kriminalität als ein sehr lohnendes Gebiet entdeckt.Was uns dabei verloren gegangen ist, das ist wirklich eine – ich nenne das bewusst so – Kultur der Wertschätzung für Behinderungen der staatlichen Exekutive. Eigentlich ist die Strafprozessordnung einmal erlassen worden, um eine ungezügelte, ungehinderte staatliche Ermittlungsarbeit gerade nicht zu ermöglichen, sondern um Eingriffe in die Rechte der Menschen an bestimmte Voraussetzungen zu knüpfen. Um wie viel effizienter könnte die Polizei arbeiten, wenn sie nicht zuvor umständlich zum Richter gehen müsste, sondern jederzeit eigenmächtig nachts Hausdurchsuchungen durchführen könnte. Sie würde viele Straftaten besser aufklären können, davon bin ich überzeugt. Die Strafprozessordnung ist bei Lichte besehen eine einzige Veranstaltung zur Behinderung von Polizeiarbeit. In den verfassungsrechtlichen Vorlesungen haben wir einmal gelernt, dass es wichtig ist, dem Staat Zügel anzulegen. Dieses Verständnis geht jetzt aber offenbar mehr und mehr verloren. Das hat etwas damit zu tun, dass bei uns derzeit praktisch alle Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens aus ökonomischen Gründen unter den Aspekten der Effizienz, Beschleunigung und letztlich der Rentabilität durchforstet werden. Und dieser Wertewandel macht auch nicht Halt vor der Polizei. Die Gedanken der Verwaltungsmodernisierung werden durchaus auch auf die Polizei angewandt. Das führt unweigerlich dazu, dass Behinderungen in erster Linie als etwas Fremdes, Kosten verursachendes, angesehen werden. Dieser Widerspruch, dass die Strafprozessordnung eigentlich als gewolltes Behinderungsinstrument der Polizei zu verstehen ist und andererseits der gesellschaftliche Bewusstseinswandel Behinderungen als etwas Negatives empfindet, ist bis heute nicht aufgelöst.

Das latente Risiko

Wir haben, trotz der genannten gefährlichen Befugnisse, nach wie vor noch eine funktionierende Demokratie. Aber wir können von Glück reden, dass die Polizei dieses Füllhorn an Befugnissen nach meiner Beobachtung – von Einzelfällen abgesehen – bislang nicht missbraucht hat. Es ist ungewiss, wie lange und wie sicher wir uns darauf verlassen können, dass die Polizei keinen Unfug mit ihren vielen Befugnissen und Instrumenten macht. Wir müssen aber in Rechnung stellen, dass aus diesem Arsenal von schlummernden Befugnissen, die oft jahrelang nicht benötigt und auch nicht angewandt werden, jederzeit etwas reaktiviert werden kann. In diesem Sinne haben wir „Schläfer“ in den Polizei- und Strafverfahrensgesetzen. Die Rasterfahndung ist ein Beispiel für die unerwartete Renaissance einer Befugnis. Ich habe mich schon seit Jahren gefragt: Was hat ein Instrument wie die Rasterfahndung in einem Landespolizeigesetz zu suchen? Denn eine Rasterfahndung ist eine – wie wir gerade an der Rasterfahndung nach dem 11. September sehen – langwierige Geschichte. Diese Rasterfahndung läuft beispielsweise schon seit eineinhalb Jahren, dem Vernehmen nach übrigens ohne nennenswerten Erfolg. Wenn hier wirklich eine unmittelbare Gefahr drohte, dann müsste man tatsächlich etwas unternehmen und nicht in irgendwelchen Rechenzentren Rasterläufe durchführen. Ich habe es nie für möglich gehalten, dass jemand auf die Idee kommen könnte, tatsächlich eine Rasterfahndung nach Polizeirecht abhalten zu wollen.In Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bremen gab es konsequenterweise nicht einmal entsprechende Befugnisse im Landespolizeirecht, weil die Parlamente diese nicht für nötig hielten. Dann kam der 11. September und irgendjemand meinte, man sollte nicht nach der Strafprozessordnung eine bundesweite Rasterfahndung durchführen, sondern nach 16 Landesgesetzen unter dem Aspekt der Gefahrenabwehr – eine nur schwer nachvollziehbare Überlegung. Die Verwerfungen, die dieser bizarre Gedanke hervorgerufen hat, sind beträchtlich: Drei Länder „mussten“ im Eilverfahren ihr Polizeirecht ändern. Schleswig-Holstein hat gerade noch die Sicherung eingebaut, dass das Gesetz nach fünf Jahren überprüft werden muss. Wir haben jetzt aber eine Rasterfahndungsbestimmung in unserem Polizeigesetz, die selbst die Polizei seinerzeit bei der Verabschiedung des Polizeigesetzes gar nicht für notwendig gehalten hatte.Ein anderes Beispiel für eine schlummernde Befugnis ist die schon erwähnte polizeiliche Beobachtung. Sie ist im Moment aus zwei Gründen ein wenig aus der Mode gekommen. Einerseits ist das Kriminalitätsbild, das ihr zugrunde lag, so nicht mehr existent. Allerdings wäre das allein kein Grund, die polizeiliche Beobachtung nicht auch in Bereichen der Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität und anderer Formen der Kriminalität einzusetzen. Andererseits fehlt heute das Lebenselexir der polizeilichen Beobachtung, nämlich das Meldeaufkommen. Es wird immer weniger kontrolliert in Deutschland. Die Grenzkontrollen, in deren Zuge früher die häufigsten Anhaltemeldungen entstanden, sind weggefallen. Und im Inland kommen polizeiliche Kontrollen gottlob eher selten vor. Jedoch hat die Einführung von Ermächtigungen zur Schleierfahndung in einer ganzen Reihe von Ländern plötzlich eine vermeintlich überholte Vorschrift wieder zum Leben erweckt und füttert die polizeiliche Beobachtung künftig wieder mit neuen Informationen. So kann eine Bestimmung, wenn sie erst einmal existiert, unter geänderten Verhältnissen durchaus neue Bedeutung erlangen.Alles in allem befinden wir uns, glaube ich, in einer trügerischen Situation, die bei veränderten politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen einen Überwachungsstaat auf einwandfreier gesetzlicher Grundlage ermöglichen würde.Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt, der bedacht werden muss: Man darf nicht nur die Welt der Gesetze, die mir hier zum Thema gemacht worden ist, betrachten. Während dies alles entstand, was ich versucht habe ein bisschen anzureißen, hat sich auch die Informationstechnik verändert. Außer dem Verbrechen macht sich auch die Polizei neue, ungeahnte technische Möglichkeiten zunutze, die das Potenzial polizeilicher Handlungsmöglichkeiten beträchtlich erweitert haben:

Die gesamte Kriminaltechnik, speziell die Entwicklung der erkennungsdienstlichen Behandlung vom guten alten Fingerabdruck über das AFIS-System bis zum genetischen Fingerabdruck, bewegt sich heute auf einem ganz anderen Niveau als noch vor 10, 20 Jahren.
Die automatische Bildauswertung und die gesamte Entwicklung der Videotechnik, die Miniaturisierung von Beobachtungstechnik in Form von winzigen Mikrofonen und Kameras haben die Möglichkeiten der heimlichen und automatisierten Überwachung geradezu revolutioniert.
Eine völlig veränderte Datenverarbeitung im Privatbereich hält für die Polizei Daten in einer Qualität bereit, die die Polizei mit „Bordmitteln“ gar nicht erreichen könnte.

Dies sind nur einige ganz wenige beispielhafte Punkte. Die Polizei kann heute in riesigen Datenmengen Zusammenhänge nachprüfen und sie systematisch auswerten. Datenbestände, wie wir sie jetzt bei Banken, Versicherungen und in der Werbewirtschaft finden, böten exzellente Grundlagen für Rasterfahndung. Insbesondere die Entwicklung der Überwachung der Telekommunikation eröffnet viele Möglichkeiten, die weit über die Überwachung des Inhalts von abgewickelten Telefongesprächen hinausgehen. Auch beim Internet wird erst die nähere Zukunft zeigen, ob es zu einem Überwachungs- und Kontrollinstrument umfunktioniert wird oder ein Raum der relativen Freiheit bleibt.

Evaluation steht auf der Tagesordnung

Wie soll es weitergehen? Hoffentlich nicht so wie bisher. Was wir brauchen, ist eine objektive Evaluation der bestehenden gesetzlichen Instrumente. Ich denke, wir müssen dringend einmal Bilanz ziehen. Dabei bin ich im übrigen nicht der Meinung, dass die Strafprozessordnung etwas Sakrosanktes ist, das man niemals ändern darf. Gesellschaft ändert sich, polizeiliche Arbeit ändert sich und man kann auch die Strafprozessordnung, die im Grunde bezogen ist auf eine Gesellschaft und eine Polizei von vor hundert Jahren, durchaus anpassen. Aber dem muss ein kritischer, offener Diskurs zugrunde liegen, der in beide Richtungen geht. Das jahrelange Absenken der rechtsstaatlichen Standards nach Art der bekannten Salamitaktik ist nicht akzeptabel.Ich meine, dass die kurz aufgeflackerte und ganz schnell wieder beendete Diskussion über Folter in Deutschland uns allen eines vor Augen führen sollte: Wenn man den Diskurs immer nur unter dem Aspekt der Beseitigung von „Behinderungen“ der Polizei betrachtet, und wenn man die Debatte nicht auf der Grundlage überdauernder Werte führt, dann kommen wir auf eine Rutschbahn, an deren Ende plötzlich einer wagt es auszusprechen: Folter wäre doch in manchen Situationen auch ganz hilfreich. Dann erschrecken wir – Gott sei Dank – noch mit großer Mehrheit. Solche Debatten sollten aber genutzt werden, um die Fragen der rechtsstaatlichen Grenzen für die polizeiliche Arbeit etwas grundsätzlicher und abseits von den tagespolitischen Aufgeregtheiten anzugehen. Die Polizeirechtsgesetzgebung der letzten 20 Jahre böte allen Anlass für eine gründliche und kritische Aufarbeitung. Sie ist mit der heutigen Tagung allenfalls – aber immerhin – begonnen.

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