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Mehr Mut zur Demokratie!

Mitteilungen Nr. 177, S.1-4

Die Kapitelüberschriften des (bündnisgrünen) Grundsatzprogramms
beginnen alle mit dem Wort Aufbruch. Über den Aufbruch zur Erneuerung der Demokratie soll jetzt diskutiert werden. Handelt es sich dabei um eine Analyse unserer heutigen Situation, befinden wir uns in einer Aufbruchphase, oder um eine Aufforderung, daß ein Aufbruch – vielleicht wegen allzu großer Schläfrigkeit – erforderlich sei? Vermutlich das zweite. Die Klage über eine allgemeine Politik-verdrossenheit und Politikferne ist allgemein. Warum? Nach meiner Einschätzung,weil die Bürgerinnen und Bürger
– keine Glaubwürdigkeit der Politik und der Politiker mehr sehen,
– den Eindruck haben, „die da oben machen ja doch was sie wollen, wir haben keinen Einfluß“,
– weil ein Freiheitsbewußtsein, ein Streben nach Selbstbestimmung
sich entwickelt hat, welches kaum Resonanz in der Politik findet.
Wenn diese scherenschnittartige Analyse richtig ist, müssen die Parteien in der Tat einen Aufbruch zur Erneuerung der und das heißt zu mehr Demokratie wagen, wie es Willy Brandt in seinem Wahlkampf forderte, denn die Demokratie lebt nur von engagierten, selbstbewußten demokratischen Bürgerinnen und Bürgern.
Willy Brandt hat in seiner damaligen Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 gesagt: „Die Regierung kann in der Demokratie nur erfolgreich wirken, wenn sie getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger. Wir haben so wenig Bedarf an blinder Zustimmung, wie unser Volk Bedarf hat an gespreizter Würde und hoheitsvoller Distanz. Wir suchen keine Bewunderer; wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten. Das Selbstbewußtsein dieser Regierung wird sich als Toleranz zu erkennen geben. Sie wird daher auch jene Solidarität zu schätzen wissen, die sich in Kritik äußert.Wir sind keine Erwählten; wir sind Gewählte.
Deshalb suchen wir das Gespräch mit allen, die sich um diese Demokratie mühen.“
Vielleicht ist dies ein weiterer Grund, warum der Bundesvorsitzende
der HUMANISTISCHEN UNION um einen Beitrag gebeten wurde.
Alles was ich im Demokratiekapitel gelesen habe, ist richtig.
Aber da ist viel Allgemeines, viel Grün, viele schöne Worte.
Vieles – oder das meiste – könnte auch in anderen Parteipro-grammen stehen, könnte auch von Otto Schily oder Edmund Stoiber unterschrieben werden, und weder wir Bürgerrechtler noch vermutlich die Grünen möchten doch mit diesen beiden in einem Boot sitzen. Forderungen in einem Grundsatzprogramm sollten dynamischer, pointierter, zukunftsweisender, ja teilweise vielleicht aggressiver oder gar plakativer formuliert werden. Sie müssen unverwechselbar sein, Profil zeigen. Dies möchte ich an einigen Beispielen deutlich machen.
1. Im Kapitel VIII über Elemente der direkten Demokratie heißt es, es sollten „Beteiligungsrechte gestärkt“ werden.
Warum so zaghaft ? Wenn ich als ein wesentliches Element der verbreiteten Politikverdrossenheit die berechtigte Einschätzung der Bürger genannt habe „die da oben machen ja doch, was sie wollen“, dann muß nicht irgend etwas gestärkt werden, dann brauchen wir eine klare Forderung, zum Beispiel:
„Wir wollen mehr direkte Demokratie, mit geringem Quorum und umfassender Zuständigkeit.“
Ich glaube nicht, daß die Politik dadurch besser wird, aber auch nicht schlechter. Das Argument, unsere heutige Welt sei so kompliziert, der Bürger verstehe das nicht oder das Volk reagiere emotional und sei demagogisch verführbar und deshalb dürfe man ihm nicht so viel Recht geben, ist doch schlicht falsch. Oder will jemand behaupten, mehr als vielleicht 10 oder 20 der insgesamt über 600 Abgeordneten
hätten bei der Abstimmung über die Steuerreform die komplizierten
Regelungen verstanden, besser als das Volk? Wer von den Abgeordneten weiß denn überhaupt, daß 90 bis 95 Prozent aller Gewerbebetriebe keine Gewerbesteuer mehr bezahlen, beziehungs-weise kann mir erklären, warum das so ist (weil die Gewerbesteuer bei Personengesellschaften auf die Einkommensteuer angerechnet wird).
Und zum Thema Demagogie: Das Flugbenzin wurde seinerzeit auf die Forderung eines einzigen Menschen, Franz-Josef Strauß, einstimmig – nicht vom Volk ! – vom Bundestag steuerfrei gestellt, und später wollte es keiner gewesen sein.
Der Wähler hat auch nicht Hitler an die Macht gebracht. Bei der letzten freien Wahl am 6. November 1932 erhielt seine Partei nur 33,1 Prozent der Stimmen und selbst bei der schon nicht mehr freien Wahl nach seiner Machtergreifung am 5. März 1933 errangen die Nationalsozialisten nur 43,9 Prozent. Das Ermächtigungsgesetz,
welches ihm plein pourvoir gab, unter Einschluß des Verstoßes gegen die Verfassung wurde nicht vom ach so dummen oder manipulier-baren Volk beschlossen, sondern am 24. März 1933 von den Abgeordneten des Reichstages – mit Ausnahme einer einzigen Fraktion! Und ein Beispiel aus der neuesten Gegenwart: Gegen das Zuwanderungsgesetz hat die CDU nicht etwa deshalb gestimmt, weil
die Inhalte von denen ihrer eigenen Zuwanderungskommission so erheblich abwichen, sondern ausschließlich aus taktischen Gründen wegen des Bundestagswahlkampfes in diesem Jahr.
Angst vor dem bösen oder gefährlichen Souverän, dem Volk braucht also niemand zu haben. Aber dem Bürger mehr tatsächliche Mitbestimmungsmöglichkeiten zu geben, würde der Politikver-drossenheit entgegenwirken und mehr demokratisch engagierte Bürger, notwendige Grundlage unserer Demokratie, schaffen. Und warum nicht als Überschrift für dieses Kapitel: „Wir haben keine Angst vor dem Volk!“
2. Demokratisierung Europas.

Neben der rechtsverbindlichen Verankerung der bisher nur deklaratorischen Grundrechtecharta in den Verträgen ist die Demokratisierung – und damit Herstellung von Öffentlichkeit und von mehr Mitwirkung – der wichtigste Punkt für die Weiterentwicklung
der Europäischen Union. Es darf nicht so bleiben, daß die Minister in vertraulichen Ministerratsrunden beschließen und anschließend die Folgsamkeit der nationalen Parlamente einfordern. Europol ist ein schlimmes Beispiel. Eine Polizeibehörde, deren Mitglieder für ihr Handeln ausdrücklich nicht zur Verantwortung gezogen werden dürfen – und dies obendrein ursprünglich noch durch ein Protokoll, welches die Regierungen vor den Parlamenten geheimhalten wollten!
Hier muß klar Position bezogen werden, und zwar in einem Parteiprogramm nicht in Form einer diplomatisch verklausulierten
Erklärung des Außenministers, daß Mitentscheidungsrechte des Parlaments gefordert werden – so im Europakapitel Zeile 249 – sondern klar: Wir fordern, daß verbindliche Rechtsvorschriften in Europa nur noch vom öffentlich tagenden und debattierenden Europäischen Parlament beschlossen werden.
Nicht Mitwirkungsrechte des Parlaments, sondern Mitwirkungsrechte
des Ministerrats. Das muß die Forderung sein.
3. Demokratie verlangt Öffentlichkeit, Transparenz. Alles Geheime ist vom Grundsatz her demokratiewidrig und fördert, wie in den letzten Jahren zunehmend deutlich wird, Korruption. Das beste Mittel dagegen ist Öffentlichkeit. Daraus folgt:
a) Die Demokratie fordert ein umfassendes Informationsfreiheits-gesetz, wie es etwa die skandinavischen Staaten bereits seit hunderten von Jahren haben. Demokratische Willensbildung ist nur möglich mit Wissen; Wissen, das häufig genug in amtlichen Akten vor dem Souverän geheimgehalten wird. Wir brauchen ein Informations-freiheitsgesetz mit umfassenden Einsichtsrechten der Bürger – nicht nur in Umweltbelangen – und einem Auskunftsanspruch über alles,
was der Staat über ihn weiß.
b) Dazu gehört die Forderung: Keine Überwachung des Bürgers, kein Datensammeln auf Vorrat; der Bürger ist nicht Objekt, sondern Subjekt des Staates. Übrigens alles Aussagen unseres Bundesverfassungsgerichts. Bis zum Beweis des Gegenteils ist davon auszugehen, daß die Bürgerinnen und Bürger rechtstreu sind und folglich nicht vorbeugend kontrolliert und überwacht werden dürfen; keine verdachtslose Kontrolle, keine flächendeckende Videoüberwachung.
c) Die Geheimdienste sind das Gegenteil von öffentlich und
demokratiefördernd. Sie sind auch überflüssig. Der Inlandsgeheim-dienst Verfassungsschutz hat weder Terrorakte noch verfassungs-widrige Bestrebungen verhindert oder aufgeklärt, für die Beobachtung und Analyse der NPD oder DVU brauche ich keinen Verfassungsschutz, das tun die Bürger und die Medien. Der Auslandsgeheimdienst BND hat uns vor keinem Angriff von Außen gewarnt noch auch nur den Zusammenbruch des Ostblocks vorausgesehen. (Zitate Schmidt und Kohl) Die Geheimdienste begehen mehr Straftaten als sie verhindern (Celler Loch, Schmücker-Prozeß, Panzer als landwirtschaftliche Geräte für Israel). Als Geheimbehörden sind sie Fremdkörper in einem demokratischen Rechtsstaat, sie sind auch nicht kontrollierbar und gehören abgeschafft. Ein grünes Grundsatzprogramm braucht die plakative Überschrift: „Wir fordern den gläsernen Staat statt des gläsernen
Bürgers.“ Nur das ist demokratiewürdig.
4. Demokratie fordert und fördert Pluralismus in der Gesellschaft. So steht es auch in Kapitel II und III des Programmentwurfs.
Der Pluralismus ist nur aufrecht zu erhalten, solange nicht eine der vielen gesellschaftlichen Kräfte Zugriff auf den Staat erhält und damit die anderen dominieren kann. Deshalb steht mit gutem Grund im noch gültigen Grundsatzprogramm die Forderung nach Trennung von Staat und Kirche. Hier macht mir als Bürgerrechtler Sorgen, der Antrag des Kreisverbandes Heinsberg mit der Forderung nach einem Kapitel Kirchen als Teil der Zivilgesellschaft, gegen dessen erste 20 Zeilen nichts einzuwenden ist. Kirchen können in der Tat in vielen
Bereichen Bündnispartner von Bündnis 90/Die Grünen sein wie auch von Bürger- und Menschenrechtsorganisationen, das Eintreten für Frieden, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte für die Schwachen eint uns. Aber die Kirchen sind eine gesellschaftliche Kraft unter vielen anderen und dürfen keine Sonderrechte haben. 30 Prozent der Bewohner von Deutschland gehören schon heute nicht den großen christlichen Kirchen an und von den restlichen 70 Prozent sind vielleicht nur 5 Prozent wirklich überzeugte Gläubige.
Deshalb dürfen die christlichen Kirchen keine Sonderrechte erhalten, und auch das Eintreten der Grünen für Behinderte rechtfertigt es nicht, wie es der Antrag von Heinsberg 153-1 fordert, das Modell der „hinkenden Trennung“ von Kirche und Staat zu loben. Pluralismus und Toleranz fordern weiterhin die strikte Trennung von Staat und Kirche.
5. Was wir Bürger wollen, was Sie wollen, ist nicht nur Demokratie im Sinne von das Volk soll wählen, das Volk soll entscheiden, das Volk soll herrschen. Wir wollen die freiheitliche, rechtsstaatliche Demokratie. Wir wollen den Bürger mit aufrechtem Gang, mit geradem Rückgrat, der seine Freiheitsrechte nutzt und zu nutzen wagt. Die Demokratie lebt von solchen Demokraten.
Gustav Radbruch, der Rechtsphilosoph und sozialdemokratische
Justizminister der Weimarer Republik, hat in seiner Rechtsphilosophie gesagt: „Demokratie ist gewiß ein preisenswertes Gut, Rechtsstaat aber ist wie das tägliche Brot, wie Wasser zum Trinken und wie Luft zum Atmen und das beste an der Demokratie gerade dieses, daß nur sie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern.“
Dieser Rechtsstaat mit seinen Freiheitsrechten, die für ihn konstitutiv sind, ist in Gefahr. Er wird seit den 70er Jahren, seit der RAF-Angst-macherei, damals noch gegen den erbitterten Widerstand von Otto Schily, abgebaut. Er wird scheibchenweise durch Sicherheits- und Terrorismushysterie verkleinert, bis nichts mehr da ist. Ich selbst war
als Sachverständiger geladen im Deutschen Bundestag. Mit
Ausnahme der drei Präsidenten vom Bundesverfassungsschutz
sowie vom Bayerischen Landesverfassungsschutz und Landes-kriminalamt haben sich alle Sachverständigen gegen das angebliche Terrorismusbekämpfungsgesetz ausgesprochen, denn es hat mit Terrorismusbekämpfung nichts zu tun, dient lediglich der Überwachung von uns allen und stigmatisiert jeden Ausländer als potentiellen Straftäter. Burkhard Hirsch hat in seinem berühmten
Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 2.11.2001 gesprochen vom Abschied vom Grundgesetz. Benjamin Franklin, der Verfassungsvater der amerikanischen Verfassung, hat davor gewarnt: „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren.“
Der Sicherheitsfanatismus der Innenminister und Innenpolitiker aller Parteien vermag nicht, mehr Sicherheit zu bringen, ist aber eine der größten Gefahren für unsere Demokratie. Denn die Einschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte, die zunehmende – und oft geheime – Überwachung der Bürgerinnen und Bürger beschädigt in den
Worten des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts
das Gemeinwohl, die Demokratie, weil der überwachte Bürger sich nicht mehr traut, in Freiheit seine Meinung zu sagen und dafür zu kämpfen. Deshalb schlage ich vor, die Kapitelüberschrift in Ihrem Grundsatzprogramm zu ergänzen:
Aufbruch zur Erneuerung der Demokratie – zum freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat.

Dr. Till Müller-Heidelberg,
Der Beitrag wurde am 16. März als Gastrede zur Programmdebatte
von Bündnis 90/ Die Grünen auf deren Bundesdelegiertenkonferenz
vorgetragen und bezieht sich auf das Kapitel „Aufbruch zur Erneuerung der Demokratie“ des grünen Grundsatzprogramms.

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