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Grundlage Menschen­würde

Mitteilungen17909/2002Seite 50-52

Mitteilungen Nr. 179, S.50-52

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt.“ Als die wenigen Mütter und die vielen Väter des Grundgesetzes diesen Satz an den Anfang unserer Verfassung stellten, waren die Bücher und Traktate noch nicht geschrieben, in denen kluge Juristen seine Bedeutung und Tragweite erläutert haben. Das hat nicht geschadet. Was man wollte, war allen klar: Der Mensch, der Bürger, seine Würde, sein Glück sollten das oberste Staatsziel sein. Diese Verheißung sollte allen Menschen gelten, die sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes aufhalten, Ausländern so gut wie Deutschen, illegalen Einwanderern ebenso wie Asylbewerbern, Strafgefangenen, Tätern ebenso wie ihren Opfern. Damals klangen allen noch die grauenhaften Parolen aus der Nazizeit in den Ohren: Du bist nichts, das Volk ist alles. Deutschland soll leben, und wenn wir sterben müssen. Vernichtung lebensunwerten Lebens. Die unzähligen Grabinschriften: Für Ehre und Vaterland. Die Opfer, die der Rassenwahn gefordert hatte. Die totale Unterdrückung des Individuums, schließlich: der totale Krieg, die totale Niederlage. Zu all dem war dies die Antithese: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die Freiheit von Wissenschaft und Kunst, Pressefreiheit, Koalitionsfreiheit, Berufsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Eigentum und Erbrecht werden garantiert. Das Post- und Fernmeldegeheimnis soll unverletzlich sein, ebenso die Wohnung. Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Dafür wurde der Grundstein gelegt, dafür sollte die neue deutsche Republik stehen. Die HUMANISTISCHE UNION wacht über dieses Erbe der ersten Stunde. Sie hat sich immer dann zu Wort gemeldet, wenn Freiheitsrechte beschränkt wurden, bei der Notstandsgesetzgebung, bei Berufsverboten für Lehrer, bei Einschränkungen von Verteidigerrechten, bei der Legalisierung von Abhörmaßnahmen, beim großen Lauschangriff, bei der Ausweitung von polizeilichen Befugnissen, bei Restriktionen im Asylrecht, bei den jüngsten Maßnahmen zur Terrorbekämpfung. Von einer Erfolgsbilanz kann freilich keine Rede sein. Die – unvollständige – Auflistung der einschlägigen Maßnahmen kennzeichnet einen anscheinend unaufhaltsamen Prozess der Erosion von Grundrechten. Was ist vom Asylrecht übrig geblieben, das nur so lange großzügig war, wie es allein um die Aufnahme von Verfolgten des Ostblocks ging? Ein Drahtverhau mit wenigen Durchlässen, garniert mit Arbeitsverboten und Abschiebeandrohungen. An das Telefongeheimnis glauben nur noch Unaufgeklärte. Die Freiheit der Person schützt Asylbewerber nicht vor den ihnen auferlegten Aufenthaltsbeschränkungen, das Recht auf körperliche Unversehrtheit bewahrt den Verdächtigen nicht vor der erzwungenen Verabreichung von Brechmitteln, die Unverletzlichkeit der Wohnung wird beim sogenannten großen Lauschangriff durchbrochen. Die Aufzählung ist nicht abgeschlossen. Die Bilanz wäre einseitig, ließe man die positive Entwicklung der Grund- und Freiheitsrechte in der Bundesrepublik Deutschland unerwähnt. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist in der Rechtsordnung fest verankert, in der Lebenswirklichkeit schreitet sie unübersehbar voran. Homosexualität wird nicht mehr verfolgt, Prostitution ist ein legales Gewerbe, die Rundfunkfreiheit ist gestärkt, die Koalitionsfreiheit stabilisiert, die Meinungsfreiheit entfaltet, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung etabliert, der gerichtliche Rechtsschutz ausgeweitet. Nicht zu vergessen: In der Europäischen Union hat sich ein Grundrechtekanon herausgebildet, den der Europäische Gerichtshof in wirkungsvoller Weise gegenüber Akten der Gemeinschaft zum Tragen bringt. Der Straßburger Gerichtshof wacht über die Einhaltung der Menschenrechtskonvention und scheut nicht davor zurück, auch das Bundesverfassungsgericht wegen zu langer Prozessdauer zu rügen. Vor nicht allzu langer Zeit hat er die deutsche Berufsverbotepraxis unseligen Angedenkens beanstandet. Auch diese Liste ließe sich fortführen. Beide Entwicklungen hat die HUMANISTISCHE UNION kritisch engagiert und begleitet. Im Verein mit anderen Menschenrechtsorganisationen hat sie Bürger mobilisiert, Verantwortliche zur Rede gestellt, Argumente und Informationen verbreitet und Sachverstand aufgeboten. Ihre Publikationen werden ernst genommen und bleiben nicht ohne Einfluss. Ich nenne die seit Jahrzehnten erscheinenden vorgänge, die Grundrechte-Reporte. Wie weit unser Einfluss reicht, ist schwer abzuschätzen. Eher wohl nicht sehr weit, leider. Aber wir werden am Ball bleiben und tun, was wir können. Und wir stehen nicht allein. Das Thema Menschenwürde führt jedoch über den gewohnten Kriegsschauplatz der HUMANISTISCHEN UNION hinaus. Die Blickrichtung auf den Staat, der Freiheitsrechte der Bürger aus fragwürdigem Sicherheitsstreben einschränkt, bleibt richtig und wichtig. Die Diskussionen um das Antiterrorpaket lassen daran keinen Zweifel. Aber Menschenwürde und Freiheitsrechte sind auch von anderer Seite bedroht. Die Chefetagen der großen Wirtschaftsunternehmen sind Machtzentren, die Menschenschicksale bestimmen und ihren Profitinteressen unterwerfen. Geheimdienste anderer Staaten hören unsere Telefongespräche in weit größerem Umfang ab, als offizielle staatliche Stellen unseres Landes, im Rahmen der gerichtlich angeordneten Telefonüberwachung. In kirchlichen Einrichtungen, die zu den größten Arbeitgebern der Bundesrepublik Deutschland gehören, werden die Arbeitnehmer in ihrer Koalitionsfreiheit und Religionsfreiheit beschränkt. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Gegen diese Bedrohung der Bürgerfreiheiten durch private Mächte muss der Staat Schutz gewähren. Das Menschenwürdeprinzip verpflichtet ihn in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, jedem, der in unserem Lande lebt, das Existenzminimum zu sichern. Dazu gehört auch die menschenwürdige Unterbringung bedürftiger Personen. Den Freiheitsrechten des Grundgesetzes wohnt ein Schutzgebot inne. Der Staat darf nicht untätig zusehen, wenn Grundrechte im Privatrechtsverkehr, im Arbeitsverhältnis, in den Medien oder auf andere Weise verletzt werden. Dieser Aspekt des aktiven Grundrechtschutzes ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes fest etabliert. Das Gericht billigt dem Staat einen besonders weiten Ermessungsspielraum zu: Welche Schutzmaßnahmen ergriffen werden sollen, müssen in erster Linie die staatlichen Stellen in eigener Verantwortung entscheiden. Der Handlungsspielraum ist auch deshalb beträchtlich, weil sich bei Konflikten unter Privaten gewöhnlich zwei Grundrechtspositionen in der Weise gegenüberstehen, dass der Schutz der einen Position nur auf Kosten der anderen erreicht werden kann. Aber es gibt eine untere Interventionsschwelle, an der der Staat handeln muss, um seinem verfassungsrechtlich verankerten Schutzauftrag gerecht zu werden. Das Bundesverfassungsgericht spricht von einem Untermaßverbot. Schutzpflichten hat das Gericht im Arbeitsverhältnis eingefordert, so beim Kündigungsschutz oder im Zusammenhang mit einem kritischen Artikel eines Lehrlings in einer Schülerzeitung. Eingegriffen hat es auf dieser Grundlage auch im Privatrechtsverkehr und zwar zugunsten einer unerfahrenen und vermögenslosen Frau, die zur Übernahme einer unverantwortlichen Bürgschaftsverpflichtung gedrängt worden war. Schließlich sind auch die beiden Abtreibungsurteile Beispiele für die Aktualisierung von staatlichen Schutzpflichten zugunsten von Grundrechten. Bürgerrechtsvereinigungen wie die HUMANISTISCHE UNION müssen stärker als bisher die Schutzpflichten des Staates einfordern. Es ist an der Zeit, den Staat auch als Verbündeten im Kampf um die Verwirklichung von Menschenwürde und Freiheitsrechten wahrzunehmen. Das ist zwar eine ungewohnte Sicht für eine Organisation, die bisher ihr Hauptaugenmerk auf die Wahrung von Bürgerfreiheiten vor staatlichen Eingriffen richtete. Aber sie ist auch nicht neu. Im Grundrechte- Report 2002 haben sich Peter Grottian mit der verdeckten Armut in unserer Gesellschaft und Tobias Baur mit menschenunwürdigen Bedingungen in Pflegeheimen befasst und damit Schutzpflichten des Staates angemahnt. Welch ein weites Feld sich hier eröffnet, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Umweltbelastungen auch Grundrechtsgefährdungen darstellen, dass Bildungsnotstand gleichzeitig Grundrechtsnotstand bedeutet, dass Arbeitnehmerschutz auch Grundrechtsschutz ist. Wahrung der Menschenwürde in unserer Zeit erfordert eine Ausweitung des Blickes in die angedeutete Richtung. Wir können uns nicht damit zufrieden geben, dass es genügend Organisationen für jedes der genannten Themenfelder gibt, Naturschutzverbände, Gewerkschaften, Verbände der Wohlfahrtspflege und anderes mehr. Deren Betätigungsfeld reicht weit über den Schutz von Grundrechten hinaus, ist häufig interessengebunden und unspezifisch. Es bleibt genügend Raum für eine an den Freiheits- und Teilhaberechten des Grundgesetzes orientierte Sicht, wie sie die HUMANISTISCHE UNION in qualifizierter Weise einbringen kann. Um mein Anliegen zu verdeutlichen, will ich zwei Beispiele für naheliegende Schutzforderungen nennen: Ich habe schon angedeutet, dass das Telefongeheimnis weniger durch die offizielle Telefonüberwachung durch strafrechtliche Ermittlungsverfahren bedroht wird als durch fremde Geheimdienste. Nach der Auskunft eines Sachverständigen werden nahezu alle Telefongespräche abgehört – mehrfach. Artikel 10 des Grundgesetzes wird damit zum heißen Schutzpflichtthema. Die Frage, ob die technischen Möglichkeiten eines Schutzes vor unbefugtem Abhören ausgeschöpft sind oder ob es praktikable und wirksame Verschlüsselungsmethoden für den Telefonverkehr gibt, ist, soviel ich weiß, noch nicht abschließend öffentlich erörtert worden. Immerhin hat die Datenschutzbeauftragte von NRW vor einiger Zeit eine Software zur Verschlüsselung von e-Mails verteilt und zugleich öffentlich davor gewarnt, dass diese ebenfalls dem Postgeheimnis unterliegende Kommunikation chronisch mitgelesen wird. Das andere Beispiel: Der Europäische Gerichtshof hat im Oktober 2000 entschieden, dass der Bereitschaftsdienst der Krankenhausärzte Arbeitszeit ist und den entsprechenden Schutzbestimmungen unterliegt. In deutschen Krankenhäusern wird das weitgehend ignoriert. Ärzte arbeiten nach wie vor bis zu 24 Stunden am Tag und bis zu 60 Stunden pro Woche, es kann auch länger sein. Die Krankenhäuser führen rechtliche Nachhutgefechte, mit fadenscheinigen Gründen. Die Bundesregierung sieht trotzdem keinen Handlungsbedarf. Anlass genug, sie in die Pflicht zu nehmen, um des Schutzes der Ärzte aber auch der Patienten willen. Die erweiterte Sicht eröffnet neue Kooperationsmöglichkeiten. Die genannten Organisationen, insbesondere die Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände sind die natürlichen Verbündeten im Kampf um die Wahrung von menschenwürdigen Verhältnissen in unserem Land. Sie werden gehaltvolle Unterstützung von Bürgerrechtsvereinen nicht verschmähen, und die HUMANISTISCHE UNION kann von einer Kooperation ebenfalls nur profitieren. Lassen Sie mich mit einer ganz ketzerischen Bemerkung schließen: In gewissem Umfang gilt das auch für die Kirchen. Unsere staatskirchenrechtliche Position, unser Eintreten für einen laizistischen Staat, unser Einsatz für die Religions- und Gewissensfreiheit der kirchlichen Mitarbeiter wird dadurch nicht geschmälert. Der öffentliche Einfluss der HUMANISTISCHEN UNION wird wachsen, wenn sie ihren Blick weitet und in neuer Formation antritt. Ihre Interventionen werden wirksamer, wenn sie sich nicht mehr darauf beschränkt, Sicherheitspakete der Regierungen zu kritisieren und den Abbau von Grundrechten zu beklagen, so wichtig und unentbehrlich eine solche Kritik auch ist. Eine offensive Strategie muss hinzukommen. Der Staat muss gefordert, um nicht zu sagen: herausgefordert werden. Er hat die Pflicht, Menschenwürde und Freiheitsrechte aktiv zu schützen. Sage niemand, dass es bei uns keine Unterdrückten und Verfolgten, keine Armseligen und Vernachlässigten gibt. Da bleibt viel zu tun.

                                                                                      Jürgen Kühling

Diese Rede wurde von dem Mitglied des Bundesvorstandes und früheren Bundesverfassungsrichters Dr. Jürgen Kühling unter dem Titel „Zum Thema Menschenwürde“ als einleitender Beitrag zum Verbandstag der HU in Düsseldorf vorgetragen und bildete den Rahmen für die Debatte weiterer Fallbeispiele zum Thema Menschenwürde (siehe Bericht Seite 53 f.).

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