Zwei Jahre Videoüberwachung im Öffentlichen Personennahverkehr in Berlin eine Evaluation, die den Namen nicht verdient
Mitteilungen Nr. 208/209 (1+2/2010), S. 9
Bis zum 31. Januar 2010 hatte der Berliner Senat Zeit für einen Evaluationsbericht, in dem er über Art, Umfang und Erfolg der Videoüberwachung im Öffentlichen Personennahverkehr Auskunft geben sollte. Sowohl die Polizei als auch die BVG sind durch eine Änderung des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG) und des Datenschutzgesetzes seit November 2007 befugt, den Öffentlichen Nahverkehr in der Hauptstadt mit Videokameras zu überwachen. Davon sind täglich über eine Million Fahrgäste betroffen. Wegen erheblicher Zweifel an der Wirksamkeit und der Verhältnismäßigkeit der neuen Regelungen verpflichtete das Parlament den Senat zu der Evaluation, die angesichts des beispiellosen Kameranetzes dringend geboten ist.
Dass es sich bei dem im Januar diesen Jahres vom Senat vorgelegten Bericht (Drucksache 16/2958) um keine ernsthafte Auswertung oder gar Evaluation handelt, zeigt bereits der erste Blick. Der Bericht hat gerade einmal den Umfang von einer Seite. Selbst zusammen mit den Informationen, die sich aus zwei vom Abgeordneten Benedikt Lux eingereichten Kleinen Anfragen (Drucksachen 16/13853 und 16/13854) ergeben, kann der Senat den Nachweis, dass der Eingriff in die Grundrechte der Bürger gerechtfertigt ist, nicht erbringen. Deutlich wird aber durch die jetzt veröffentlichten Zahlen, in welchem Ausmaß innerhalb der ersten beiden Jahre von den neuen Befugnissen Gebrauch gemacht wurde. Die Datenerhebung erfolgte schwerpunktmäßig durch die BVG. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Polizei die Videoüberwachung gem. § 24 b ASOG nur bei hinreichendem Anlass und zur Abwehr oder zum Erkennen von Straftaten von erheblicher Bedeutung nutzen darf. In den vergangenen zwei Jahren sah die Polizei diese Voraussetzungen lediglich in 12 Fällen als gegeben und beobachtete Bahnhöfe und Fahrgäste in Echtzeit. Ohne weitere Analyse bewertet der Senat die Anwendung dieser Maßnahmen relativ großzügig als Erfolg. Im Bericht heißt es dazu: „Es ergab sich ein unauffälliges Bild der Lage an den beobachteten öffentlich zugänglichen Räumen der BVG. Diese Erkenntnis war für die weitere Lagebeurteilung hilfreich.“
In den meisten Fällen bedient sich die Polizei jedoch der durch die BVG angefertigten Videoaufzeichnungen. Anders als die Polizei darf die BVG gem. § 31b Berliner Datenschutzgesetz Videoaufzeichnungen verdachtsunabhängig und damit tagtäglich und rund um die Uhr in allen U-Bahnhöfen, U-Bahnen, Bussen und Straßenbahnen anfertigen. Aus dem Bericht ergibt sich, dass inzwischen alle 173 U-Bahnhöfe, 31 % der U-Bahnen, 68 % der Busse und 28 % der Trams mit Kameras ausgestattet sind. Insgesamt überwacht die BVG ihre Fahrgäste mit 6.404 Kameras.
Aus den vorgelegten Daten ergibt sich, dass nur ein Bruchteil der Bilderflut für die Strafverfolgung verwertbar ist. Im Jahr 2008 wurden 1.383 Aufzeichnungen an die Polizei oder andere Strafverfolgungsbehörden weitergegeben. In 246 Fällen ergaben die Bilder irgendeinen Anhaltspunkt auf die Täter, in 141 Fällen „unterstützten“ die Bilder angeblich die Ermittlung oder Identifizierung von Tätern. Im Jahr 2009 stieg die Zahl bereits auf 1.823 Übermittlungen an, die 325 Täteranhalte lieferten und in 124 Fällen die Ermittlungen oder die Identifizierung unterstützten. Damit wird deutlich: Während die Nachfrage nach den Videobildern von einem zum anderen Jahr deutlich anstieg, halfen die von der BVG gelieferten Bilder der Polizei immer seltener bei der Ermittlung oder Identifizierung von Tatverdächtigen. So drängt sich die Vermutung auf, dass das Anfordern von Videobildern immer mehr zum selbstverständlichen Ermittlungsinstrument wird – unabhängig von deren zu erwartenden Nutzen.
Bei der vom Senat vorgelegten „Evaluation“ bleiben viele Fragen offen: Wie oft die Identifizierung der Täter auch auf andere Weise hätte erreicht werden können? Wie oft führten die Ermittlungen zu Gerichtsverfahren und Verurteilung. In welchem Umfang werden Daten an die Strafverfolgungsbehörden übermittelt? Für die Aufklärung welcher Straftaten wurden die Bilder ausgewertet? Konnte die Videoüberwachung in irgendeiner Form kriminalpräventive Wirkungen entfalten? Antworten auf all diese Fragen wären wichtig, um grundlegend beurteilen zu können, ob die Videoüberwachung zur Kriminalitätsbekämpfung geeignet, erforderlich und im Verhältnis zu dem mit ihr verbundenen Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht auch angemessen ist.
Trotz der mageren Erkenntnisse über die Wirkung der Videoüberwachung schreitet der Ausbau der Überwachungsanlagen zügig voran. Wie aus der Antwort auf die zweite Anfrage des Abgeordneten Lux deutlich wird, plant der Senat alle Fahrzeuge (U-Bahnen, Busse, Trams) mit Kameras auszustatten. Das würde nach Berechnung der Humanistischen Union zu einer Verdopplung auf ca. 12.000 Kameras führen, die rund um die Uhr Bilder aller Fahrgäste aufzeichnen.
Anja Heinrich
ist Landesgeschäftsführerin der HU Berlin-Brandenburg
Drucksache 16/2958 – Evaluationsbericht des Senats von Berlin
Drucksachen 16/13853 und 16/13854 – Antworten des Senats auf die Kleinen Anfragen des Abgeordneten B. Lux und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
HU Berlin-Brandenburg: Pressemitteilungen vom 16.1. und 24.1.2010
Mareike Schmale: So weit die Kamera reicht. Schwierigkeiten einer Evaluation der Videoüberwachung am Beispiel der Berliner Verkehrsbetriebe. Mitteilungen Nr. 204 (1/2009), S. 5-7.