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Prof. Dr. Gerald Grünwald – ein Großer hat uns verlassen

Mitteilungen Nr. 208/209 (1+2/2010), S. 36f.

Geboren am 5. September 1929 in Prag, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht in Bonn von 1963 bis zu seiner Emeritierung, später Rektor der Universität Bonn und Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz, ist mit Gerald Grünwald am 18. Dezember 2009 einer der großen Strafrechtler und Kämpfer für ein liberales Straf- und Strafverfahrensrecht und einen liberalen Rechtsstaat gestorben.

1966 zählte Gerald Grünwald zu den „Alternativprofessoren“, die einen Alternativentwurf zum Strafgesetzbuch vorlegten und dadurch die liberalen Reformen des Strafrechts stark geprägt haben. Gerald Grünwald gehört damit zu den Akteuren jener kurzen Phase einer Liberalisierung des Strafrechts, bevor ab Mitte der 1970er Jahre im Rahmen der sog. Terroristenbekämpfung (RAF) das Pendel im Straf- und Strafprozessrecht wieder zurückschlug. Unter dem Vorsitz von Charlotte Maack berief die Humanistische Union Grünwald 1975 in ihren Beirat (ich vermute, auf Vorschlag der damaligen Bundesvorstandsmitglieder Werner Holtfort und Jürgen Seifert), 1978 verlieh die HU ihm den Fritz-Bauer-Preis. Liest man heute die Reden anlässlich dieser Preisverleihung – die Begründung kam von der damaligen Bundesvorsitzenden Charlotte Maack, die Laudatio von Helga Schuchardt – so stellt man fest, dass Grünwald in den Kernbereichen der HU aktiv war.

Gerald Grünwald trug in den 1960er Jahren dazu bei, dass die Gedanken von Strafe und Sühne im Strafrecht zugunsten der Resozialisierung verdrängt wurden, er half bei der Abschaffung der Zuchthausstrafe und des Arbeitshauses und war an der Begrenzung kurzer Freiheitsstrafen und der Einschränkung der Sicherungsverwahrung beteiligt – weil all dieses der Gesellschaft nichts nützt und den Straftäter nicht bessert. So konnte er in seiner Dankesrede zur Verleihung des Fritz-Bauer-Preises feststellen: „Wir haben ein Strafrecht, das weniger inhuman ist als das der Vergangenheit.“

Doch die Vorzeichen änderten sich. In den 1970er Jahren kämpfte Grünwald gemeinsam mit der HU gegen den Abbau jener rechtsstaatlichen Vorschriften, die bis dato den Verdächtigen und damit zunächst noch Unschuldigen schützen sollten: Kontaktsperregesetz, Kronzeugenregelung, Abhören von Verteidigergesprächen, Verteidigerausschluss, Rechtfertigung gesetzwidriger Abhörmaßnahmen mit einem angeblichen Staatsnotstand (Lauschaffäre Traube). Als Sachverständiger bezog er vor dem Bundestag Stellung gegen die Gesetzentwürfe zur Bekämpfung terroristischer Gewalttäter und die Einführung des § 129a StGB, der einen neuen Straftatbestand (Bildung schwerkrimineller oder terroristischer Vereinigungen) schuf. Er wies darauf hin, dass diese Vorschrift nicht wirklich der Bekämpfung terroristischer Straftaten diene, sondern lediglich als Türöffner zu ansonsten verbotenen Ermittlungs- und Überwachungsmaßnahmen, zur Verhängung von Untersuchungshaft ohne Haftgrund. Diese Kritik ist heute so aktuell wie einst.

„Ihr ganzes Engagement ist unserem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat gewidmet“, sagte das HU-Beiratsmitglied Helga Schuchardt in der Laudatio für den Preisträger. Grünwald setze immer wieder das Recht über die politische Opportunität, weil er wusste, dass nur die Einhaltung rechtlicher Begrenzungen der Staatsmacht die Freiheitsrechte der Bürger und damit ein menschenwürdiges Dasein sichern kann – unabhängig von noch so guten und scheinbar einsichtigen Zwecken, mit denen die Einschränkung der Freiheitsrechte und die Beseitigung gesetzlicher Schranken für die Staatsgewalt begründet werden. Grünwald war sich bewusst, dass solche „Sicherheitsgesetze“ oft genug lediglich aus politischer Opportunität verabschiedet wurden. Bei rationaler Betrachtung erkenne man leicht, dass die gesetzgeberischen Schritte das angebliche Ziel der Schaffung von mehr Sicherheit für die Bürger gar nicht erreichen können, oder – wie der Verfasser dieses Nachrufs oft genug formuliert hat: „Die Politiker tun so, als ob sie etwas täten“, weil sie meinen, dies der öffentlichen Meinung schuldig zu sein.

Ende 1978 vertrat Prof. Dr. Gerald Grünwald als Prozessbevollmächtigter eine Verfassungsbeschwerde gegen die strategische Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs mit der DDR und dem übrigen Ostblock durch den Bundesnachrichtendienst, wenn auch vergeblich. Fünfeinhalb Jahre brauchte das Bundesverfassungsgericht bis zu seinem Beschluss vom 20. Juni 1984, mit dem es die Verfassungsbeschwerde zurückwies und die strategische Post- und Telefonüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst für verfassungsmäßig erklärte (BVerfGE 67, 157).

1992 fand man Gerald Grünwald wieder in der vordersten Reihe derjenigen, die den Großen Lauschangriff verhindern wollten. Die Professoren Erhard Denninger, Gerald Grünwald, Jürgen Seifert (alles Beiratsmitglieder der HU) und Hans-Peter Schneider verfassten im Oktober 1992 den berühmten Aufruf „Wehret dem Lauschangriff gegen Wohnungen“, der aufgrund auch des Organisationsgeschicks von Gerhard Saborowski von ca. 100 Professoren des Staats- und des Strafrechts sowie der Politischen Wissenschaften unterzeichnet wurde und an Bundestag und Bundesrat appellierte, „nicht wegen eines vermeintlichen Sachzwanges grundlegende Prinzipien unserer Verfassung preiszugeben. Sicherheitspolitik, die fundamentale Freiheitsrechte beseitigt, verändert den demokratischen Verfassungsstaat.“ Die damaligen Vorstands- und heutigen Beiratsmitglieder der HU Jürgen Roth und Till Müller-Heidelberg organisierten in Bonn ein Verbändeforum gegen den Großen Lauschangriff, an dem neben den üblichen „Verdächtigen“ wie Humanistische Union, Strafverteidigervereinigungen, Gustav Heinemann-Initiative und anderen auch die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutsche Börsenverein teilnahmen. Für einige Jahre konnte so der Große Lauschangriff verhindert werden – bis trotz entgegenstehender Parteitagsbeschlüsse das ehemalige HU-Mitglied Otto Schily vom damaligen SPD-Parteivorsitzenden Rudolf Scharping den Auftrag erhielt, den Großen Lauschangriff salonfähig zu machen und durchzusetzen – was ihm leider auch gelang und zum Rücktritt der Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger führte; einem der wenigen Ministerrücktritte deutscher Geschichte, die aus politischer Überzeugung und nicht wegen eines Skandals erfolgten.

Zunehmend weniger HU-Mitglieder kennen noch die großen Persönlichkeiten, die unseren Verein und seine Politik geprägt und in der Öffentlichkeit repräsentiert haben. Gerald Grünwald gehörte dazu. Im Kampf um den liberalen Rechtsstaat mit seiner Verteidigung der Freiheits- und Bürgerrechte sowie um ein liberales und soziales Strafrecht darf er nicht vergessen werden.

Dr. Till Müller-Heidelberg
ist Rechtsanwalt in Bingen, war von 1995 – 2003 Bundesvorsitzender der Humanistischen Union und gehört nun dem Beirat der HU an. Er ist Mitherausgeber des jährlich erscheinenden Grundrechte-Reports.

Literatur von und über Gerald Grünwald:

Charlotte Maack/Helga Schuchardt: Fritz-Bauer-Preis 1978. Begründung der Preisvergabe und Laudatio auf Gerald Grünwald. Mitteilungen Nr. 85 (Dezember 1978), S. 44-47

Denninger, Grünwald, Schneider & Seifert: Wehret dem „Lauschangriff“ gegen Wohnungen! vorgänge 120 (Heft 6/1982), S. 113f.

Gerald Grünwald (1978): Die antiliberale Tendenzwende in der Strafrechtspflege (=Rede anlässlich der Verleihung des Fritz-Bauer-Preises 1978), vorgänge 36 (Heft 6/1978), S. 12-18

Gerald Grünwald (1975): Die Strafprozeßreform – Sicherung oder Abbau des Rechtsstaates? vorgänge 18 (Heft 6/1975), S. 36-48

Gemeinsamer Aufruf: 31 Strafrechtslehrer zu den Beschränkungen der Verteidigung im Strafverfahren. vorgänge 16 (Heft 4/1975), S. 110

Gerald Grünwald: Leserbrief zur Diskussion um Berufsverbote in der ehem. DDR. Mitteilungen Nr. 145 (März 1994), S. 10

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