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Wieder­ent­deckt. Tucholskys „Briefe an eine Katholikin“

Mitteilungen Nr. 208/209 (1+2/2010), S. 41

Seit über 40 Jahren ist der Club Voltaire in Frankfurt ein geschichtsträchtiger, legendärer Ort für die HU: Hier wurde politisch gestritten, polemisiert, provoziert. Auch für Joachim Kahl, den Marburger Philosophen (und studierten Theologen), war der Abend im März eine Rückkehr an einen altbekannten Ort, schließlich studierte er nach seinem Austritt aus der Kirche Ende der 1960er Jahre in Frankfurt Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaft. Sein rororo-Band „Das Elend des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott“  erreichte allein vom November 1968 bis zum Mai 1969 schon fünf Auflagen: ein Bestseller damals. Doch an diesem Abend war das aktuelle Elend der Katholischen Kirche kein Thema, vielleicht zur Enttäuschung mancher im Club.

Joachim Kahl zeigte in seinem bemerkenswerten Vortrag über Kurt Tucholskys „Briefe an eine Katholikin“ einen skeptisch-konstruktiven Religionskritiker, der sich in der Endphase der Weimarer Republik auf einen Briefwechsel mit einer jungen Journalistin aus der Zentrumspartei eingelassen hatte. Tucholsky selbst nannte diese Texte Briefe „über den trennenden Graben hinweg“, geschrieben von „Verstand zu Verstand“. Heiter bis melancholisch, ironisch bis leicht erotisch begründet Tucholsky der Journalistin seinen säkularen Humanismus. Er wendet sich dagegen, die Kirche mit „Clichéphrasen“ zu bekämpfen. Er grenzt sich gegen überhebliche Dogmatiker ab (in der Kirche wie unter den  Kommunisten), geißelt Dummköpfe, unwürdige Priester, Scheinheilige. Er hält dem Christentum vor, kein Verbrechen, keinen Krieg verhindert zu haben. In einem Brief aus dem Jahr 1931 fragt Tucholsky Marierose Fuchs: „Wie sieht die Geschichte der christlichen, der allerchristlichsten Staaten aus? Bluttriefend. Also? Also ist es nichts, nützt nichts, hilft nichts“. Wenige Jahre vor seinem Tod im schwedischen Exil sucht dieser intellektuelle Geist eine Verständigung über einen weltlichen Humanismus und Menschen, die diese Suche teilen. Wie aktuell diese Suche doch ist.

Literaturhinweise:

Marierose Fuchs hat die Briefe im Jahr 1970 erstmals bei Rowohlt veröffentlicht, in der Tucholsky-Gesamtausgabe sind sie ebenfalls enthalten. Ab Spätsommer ist der Vortrag von Joachim Kahl auf der Homepage des Autors nachzulesen: www.kahl-marburg.de.

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