Beitragsbild Das Bundesverfassungsgericht über Wahlrecht und Demokratie: Das BVerfG hebt die Fünf-Prozent-Klausel nur für die CSU auf
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Das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt über Wahlrecht und Demokratie: Das BVerfG hebt die Fünf-Pro­zent-­Klausel nur für die CSU auf

Pressemitteilung vom 30.07.2024

Mitteilungen25208/2024Seite 19-20

Allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen sind eine unabdingbare Bedingung für das demokratische Funktionieren staatlicher Macht. Artikel 38 Absatz 1 GG regelt diese Grundsätze und die Unmittelbarkeit für Bundestagswahlen als subjektive Grundrechte deutscher Staatsbürger. Wie diese Grundsätze im Wahlrecht ausgestaltet werden, obliegt dem Bundesgesetzgeber. Er kann mit einfacher Mehrheit regeln, wie allgemein, frei, gleich und unmittelbar Wahlen abgehalten werden müssen. Dem Bundesverfassungsgericht obliegt es wiederum, den Wahlgesetzgeber am Maßstab von Art. 38 Abs. 1 GG zu kontrollieren und kann dessen Entscheidungen aufheben, wenn sie verfassungs-widrig sind. Zwar gesteht das BVerfG dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum zu, interpretiert und konkretisiert aber die Wahlrechtsgrundsätze, nach denen es den Gesetzgeber kontrolliert, vorab erst einmal verbindlich.

Mit der Wahlrechtsreform vom Juni 2023 hat die Mehrheit der Ampelkoalition das sogenannte Zweitstimmendeckungsverfahren eingeführt und die Grundmandatsklausel abgeschafft. Das Zweitstimmen-deckungsverfahren regelt im Bundeswahlgesetz, dass es künftig keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr gibt. Überhangmandate fielen bislang an, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate gewann, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis an Sitzen zustand. Diese Mandate durfte sie behalten, die anderen Parteien erhielten dafür Ausgleichsmandate. Mit dieser Änderung soll die Größe des Bundestags stark reduziert werden – auf maximal 630 Abgeordnete. Diese Änderung des Wahlrechts sei verfassungsgemäß, urteilte das BVerfG am Morgen des 30. Juli 2024. Hingegen beurteilte das BVerfG die Aufhebung der sogenannten Grundmandatsklausel – nach ihr zogen Parteien auch dann in der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag ein, wenn sie unter die Fünf-Prozent-Sperrklausel fielen, als verfassungswidrig. Durch den Wegfall der Grundmandatsklausel sei die Fünf-Prozent-Sperrklausel derzeit verfassungswidrig. Bis zu einer Neuregelung ordnete das BVerfG aber die Fortgeltung der Grundmandatsklausel an.

Das Urteil zeigt einmal mehr die Macht des BVerfG und die Abhängigkeit unseres demokratischen Systems vom Gericht. Nach wie vor wählen die Menschen mit der Erststimme einen Bewerber in ihrem Wahlkreis. Die Bewerber mit den meisten Stimmen ziehen aber nun nicht mehr automatisch in den Bundestag ein. Es kommen nur noch so viele Direktkandidaten in den Bundestag, wie der Partei nach dem Ergebnis der Zweitstimmen zustehen. Manche Direktkandidaten bekommen also nach diesem sogenannten Zweitstimmendeckungsverfahren keinen Sitz im Parlament, auch wenn sie in ihrem Wahlkreis die meisten Erststimmen erhalten. Die Wahlkreissieger mit den schlechtesten Ergebnissen im Vergleich zu anderen Wahlkreissiegern können wegen fehlender Zweitstimmen ihrer Partei leer ausgehen. Das hält das BVerfG für vom Spielraum des Gesetzgebers gedeckt, das neue „Zweitstimmendeckungsverfahren“ führe zu mehr Verhältniswahl und weniger Direktwahl. Die Stärkung des Verhältniswahlprinzips gegenüber dem Mehrheitswahlprinzip stärkt die Demokratie, weil es die Proportionalität zwischen den Wahlbewerbern sichert und die Gleichheit der Stimmen im Sinne ihres Erfolgswertes stärkt und ist deshalb zu begrüßen.

Anders verhält es sich mit der Beurteilung der Fünf-Prozent-Klausel durch das Gericht. Im Urteil wird die Sperrklausel, trotz langer verfassungsrechtlicher Kritik an ihr und ihrer Aufhebung bei der Europawahl, weiter uneingeschränkt für legitim gehalten. Das überzeugt schon deshalb nicht, weil am Ende ihre derzeitige Fassung wegen der Aufhebung der Grundmandatsklausel im Urteil als verfassungswidrig beurteilt wird.

Noch merkwürdiger aber ist die Argumentation zum Wegfall der Fünf-Prozent-Klausel für die CSU. Die Kooperation zwischen CSU und CDU, bestehend aus den besonderen drei Elementen (gleichgerichtete politische Ziele, Bildung einer einheitlichen Fraktion und Verzicht des Wettbewerbs untereinander), führe zum Wegfall der Sperrklausel für die CSU, wenn sie mit der CDU gemeinsam über fünf Prozent komme. Dem Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen ein sogenanntes Einzelfallgesetz verboten. Das BVerfG scheint aber nun mit dieser Interpretation ausgerechnet im Wahlrecht ein solches zu erlauben. Das führt nicht zur Stärkung der Demokratie im Sinne der Wahlrechtsgleichheit und lässt Zweifel an der politischen Neutralität des Zweiten Senates des BVerfG aufkommen.

Rosemarie Will

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