Publikationen / vorgänge / vorgänge 131

Das Kreuz mit dem Kreuz

Aus: vorgänge Nr. 131, Heft 3/1995, S. 10-14

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichtes hat mit einem Beschluss vom 16. Mai 1995 die Anbringung eines Kreuzes in den staatlichen Pflichtschulen – soweit es keine Bekenntnisschulen sind – als nach Art. 4 Abs. I GG („Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“) verfassungswidrig erklärt. Dementsprechend ist die Bestimmung der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern, die Kreuze in allen Schulzimmern der Volksschulen vorschreibt, nichtig.

Die Entscheidung ist mit der denkbar knappsten Mehrheit, nämlich mit fünf gegen drei Stimmen gefallen. Hätte nur eine Richterin, ein Richter sich anders entschieden: Eine Verfassungswidrigkeit wäre nicht festgestellt worden. Der Senat hatte unter dem Vorsitz des Vizepräsidenten Prof. Dr. Johann Friedrich Henschel getagt, dessen Amtszeit jetzt ausläuft. Wie hätte sich ein Nachfolger entschieden? Ein besonderer Dank gebührt deshalb Henschel, weil er das seit 1991 bei seinem Senat anhängige Verfahren noch so kurz vor dem Ende seiner Amtszeit zur Entscheidung gebracht und sich sehenden Auges einigen Ärger eingehandelt hat. Anzumerken ist, dass Henschel — Pastorensohn aus Marienwerder — seiner Zeit von der FDP für das Verfassungsgericht vorgeschlagen worden und zuvor Rechtsanwalt in Hannover war.

Das Kreuz — Kultur­symbol oder Religi­ons­zei­chen?

Man kann nicht nur falsch antworten, sondern auch falsch fragen. Die Frage in der Zwischenüberschrift ist falsch. Das Kreuz ist Beides, Kultursymbol und Religionszeichen. Die falsche Fragestellung hat die Diskussion verwirrt. Die Kirchen werten in dem Bestreben, das Kreuz in den Schulen zu erhalten, das Kreuz zum Kultursymbol herab, während ihre ungläubigen Gegner in dem Kreuz das Religionszeichen sehen. Das Bundesverfassungsgericht greift streng ausgewogen zu je einem katholischen und evangelischen Lexikon (Höfer/Rahmer: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl. 1961 Bd. 6, Sp.605ff.; Fahlbusch, Evangelisches Kirchenlexikon, 3 Aufl. 1989, Bd. 2 Sp.1462 ff.) und findet: „Das Kreuz gehört nach wie vor zu den spezifischen Glaubenssymbolen des Christentums. Es ist geradezu sein Glaubenssymbol schlechthin. Es versinnbildlicht die im Opfertod Christi vollzogene Erlösung des Menschen von der Erbschuld, zugleich aber auch den Sieg Christi über Satan und Tod und seine Herrschaft über die Welt, Leiden und Triumph in einem.“ Ich selbst habe zeitlebens Schwierigkeiten gehabt, ein Hinrichtungsinstrument als christliches Symbol zu begreifen und halte es mit Goethe: „Wir ziehen einen Schleier über diese Leiden, eben weil wir sie so hoch verehren. Wir halten es für eine verdammungswürdige Frechheit, jenes Martergerüst und den daran leidenden Heiligen dem Anblick der Sonne auszusetzen, die ihr Angesicht verbarg, als eine ruchlose Welt ihr dies Schauspiel auf drang, mit diesen tiefen Geheimnissen, in welchen die göttliche Tiefe des Leidens verborgen liegt, zu spielen, zu tändeln, zu verzieren und nicht eher zu ruhen, bis das Würdigte gemein und abgeschmackt erscheint.“ Für mich ist das Symbol des Christentums das Auferstehungsbild des Isenheimer Altars.

Die Argumente

Das Gericht hat sich nicht in plakativer Klarheit auf den Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche berufen; dann wäre die Argumentation leichter gewesen (Ich hatte so für die „Humanistische Union” einem im Urteil auch erwähnten Schriftsatz an das Gericht argumentiert). Offensichtlich liest der Senat aus der Verfassung nicht den Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche heraus. Bei einer an der Sprache orientierten Auslegung der Verfassung kann man über diese Frage in der Tat streiten. Aber immerhin liest es sich abgemildert im Urteilstext so: „Sie (die Grundgesetzartikel, U. V.) verwehren die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagen die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso wie die Ausgrenzung Andersgläubiger.“ Der aus meiner Sicht für die Senatsmehrheit entscheidende Absatz lautet: „Zusammen mit der allgemeinen Schulpflicht führen Kreuze in Unterrichtsräumen dazu, dass die Schüler während des Unterrichts von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeit mit diesem Symbol konfrontiert sind und gezwungen werden, , unter dem Kreuz‘ zu lernen. Dadurch unterscheidet sich die Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern von der im Alltagsleben häufig auftretenden Konfrontation mit religiösen Symbolen der verschiedensten Glaubensrichtungen. Zum einen geht diese nicht vom Staat aus, sondern ist eine Folge der Verbreitung unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen und Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft. Zum anderen besitzt sie nicht denselben Grad der Unausweichlichkeit. Zwar hat es der Einzelne nicht in der Hand, ob er im Straßenbild, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder beim Betreten von Gebäuden religiösen Symbolen oder Manifestationen begegnet. Es handelt sich in der Regel jedoch um ein flüchtiges Zusammentreffen, und selbst bei längerer Konfrontation beruht diese nicht auf einem notfalls mit Sanktionen durchsetzbaren Zwang.“ Wirklich entschieden ist nur der Leitsatz 1 zum Beschluss: „Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs 1 GG. „

Hierzu ist anzumerken:

1. Ein Leitsatz wird zwar von dem Senat beraten, aber ist rechtlich nicht Teil des verbindlichen Beschlusstextes. Streng rechtlich ist der Leitsatz ohne Bedeutung. Freundlicher formuliert: Jeder Leitsatz ist zwangsläufig verkürzt und vor dem Hintergrund der Gründe des Beschlusses zu lesen. Man kann sich deshalb nur bedingt auf einen Leitsatz berufen.

2. Auch der Leitsatz nimmt ausdrücklich nur Bezug auf Art. 4 Abs. 1 GG, der die Religionsfreiheit garantiert, nicht aber auf Art. 140 GG, in dem festgestellt wird, dass es keine Staatskirche gibt.

3. Vizepräsident Henschel hat den Leitsatz 1 in einer Presseerklärung dahin interpretiert, dass nur ein auf staatlicher Anordnung aufgehängtes Kreuz oder Kruzifix gemeint gewesen sei.

Die Senatsminderheit sieht es anders: „Durch das Anbringen von Kreuzen in Unterrichtsräumen wird die Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität nicht verletzt. Unter der Geltung des Grundgesetzes darf das Gebot der weltanschaulich religiöser Neutralität nicht als eine Verpflichtung des Staates zur Indifferenz oder zum Laizismus verstanden werden. Durch die Verweisung auf die Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung in Art. 140 GG ist das Neutralitätsgebot im Sinne einer Zusammenarbeit des Staates mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften, die auch deren Förderung durch den Staat einschließt, ausgestaltet worden.“ Die Senatsminderheit sieht das Problem nicht als ein solches des Verhältnisses einer Mehrheit zur Minderheit, sondern als Lösung der Aufgabe, die negative und positive Glaubensfreiheit zum Ausgleich zu bringen. Damit disqualifiziert sich die Senatsminderheit in meinen Augen. Es ist gerade das Wesen von Grundrechten, dass sie auch gegenüber der Mehrheit Bestand haben. Sonst wären Grundrechte in einer Demokratie überflüssig.

Würdigung

Die Senatsmehrheit begründet ihre Entscheidung unscharf getrennt mit einer abgemilderten Form der Trennung von Staat und Kirche, im Kern aber durch den Hinweis auf Art. 4 Abs. 1 GG mit der „negativen Religionsfreiheit”. Dies lässt eine Deutung zu, nach der die Kreuze nur in den Fällen aus den Klassenräumen entfernt werden müssen, in denen sich Schüler bzw. deren Eltern zur Wehr setzen. Zu einem derartigen Protest werden sich nicht eben viele Menschen bereit finden, da sie sich dadurch als Außenseiter zu erkennen geben. Schulen sind noch immer Selektionsapparate, und wer riskiert hier schlechte Noten?

Vom Wortlaut und der Argumentation des Beschlusses her ist eine Auslegung sowohl in dem Sinne, dass der Staat alle Kreuze aus Schulzimmern von Amts wegen zu entfernen habe, als auch in dem Sinne dass dies nur auf ausdrücklichen Wunsch hin zu geschehen habe, möglich.

Ich wage die Voraussage, dass sich die Auffassung durchsetzen wird, die Kreuze müssten nur dann entfernt werden, wenn dies ausdrücklich von Schülern bzw. deren Eltern verlangt wird. Nur dann ist die individuelle Religionsfreiheit verletzt, zu deren Schutz das Grundrecht der Religionsfreiheit in die Verfassung aufgenommen worden ist und auf die sich der Senat beruft. Wäre die Senatsminderheit klüger gewesen, hätte sie diesen Punkt in den Mittelpunkt ihrer Argumentation gerückt.

Ich halte die eher abschwächende Auslegung auch für politisch wünschenswert, weil ein Flächenbrand nur verbrannte Erde hinterlassen würde. Wir wären damit wieder bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 17. Juli 1993 angelangt, die einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Kreuz im Gerichtssaal stattgegeben hatte: Es könne „davon ausgegangen werden, dass weite Kreise der Bevölkerung gegen die Anbringung von Kreuzen in Gerichtssälen nichts einzuwenden haben und dass auch im übrigen in dieser Ausstattung möglicherweise zutage tretenden ,Identifikation` mit spezifisch christlichen Anschauungen nicht derart ist, dass die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen in einem derart ausgestatteten Gerichtssaal von andersdenkenden Parteien, Prozessvertretern oder Zeugen in der Regel als unzumutbar empfunden wird. Denn das bloße Vorhandensein eines Kreuzes verlangt von ihnen weder eine Identifizierung mit den darin symbolhaft verkörperten Ideen oder Institutionen noch ein irgendwie geartetes aktives Verhalten. Dennoch muss anerkannt werden, dass sich einzelne Prozessbeteiligte durch den für sie unausweichlichen Zwang, entgegen eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen ,unter dem Kreuz‘ einen Rechtsstreit führen … zu müssen, in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG verletzt fühlen können.”

Für die weitere Entwicklung halte ich den Begriff der negativen und positiven Glaubensfreiheit für gefährlich. Er ist vergleichsweise neu, nämlich erst in den sechziger Jahren von kirchennahen Juristen ersonnen. Die Senatsminderheit hat vollkommen richtig erkannt, dass sie mit diesem Begriff nur argumentieren kann, wenn sie ein Problem aus dem Verhältnis der Mehrheit zur Minderheit herauslöst und damit den den Grundrechten wesenseigenen Minderheitenschutz aushebelt. Es fällt mir auf, dass dieser für ihre Argumentation entscheidende Gedankenschritt von der Senatsminderheit nicht begründet worden ist.

Der Beschluss spricht nirgendwo die Glaubensfreiheit der Lehrerinnen und Lehrer an. Der zu entscheidende Fall zwang nicht zur Erörterung dieser Frage und das Bundesverfassungsgericht mag der alten richterlichen Weisheit gefolgt sein, nicht mehr zu entscheiden, als im Einzelfall notwendig ist. Auch ich will ihr folgen zumal ich nicht sicher bin, ob hier analog zu entscheiden wäre.

Öffent­li­chen Reaktionen

In öffentlichen Stellungnahmen haben der Parteivorsitzende der CDU Kohl, der Fraktionsvorsitzende der CDU/ CSU Schäuble, der Vorsitzende der CSU Waigel und der bayrische Ministerpräsident Stoiber das Urteil ebenso ungeniert wie laut kritisiert. Das war zu erwarten, weil es einen Zusammenhang zwischen den Wahlerfolgen der CDU, noch stärker aber der CSU und einer kirchlichen Erziehung gibt. Ins Positive gewendet: Die CDU und die CSU lassen ihre Freunde nicht in Stich und haben nach dem neuen Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch Einiges gutzumachen. Die Platzhirsche der Opposition dösten in der Dickung und nur von den Katzentischen der SPD vernahm man ein freudiges Miau. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes hat seit Monaten erstmals die „Troika” der SPD vereint — im Schweigen. Die bayrische SPD-Landesvorsitzende Renate Schmidt hatte bisher geschwiegen. Auch heute sagt sie nicht, ob sie das Urteil für richtig oder falsch hält. Nach der Interpretation des Leitsatzes 1 durch den Vizepräsidenten Henschel kritisiert sie jedoch das Karlsruher Gericht, weil die Klarstellung so spät gekommen sei und erst jetzt mögliche Missverständnisse aus-geräumt seien. So hat sie sich bei ungenauer Betrachtung in die Zahl der Kritiker einreiht, sich aber den Ausweg offen gehalten, zu erklären, sie habe den Beschluss selbst nicht kritisiert. Das mag sie für schlau halten. Ich teile diese Sicht nicht.

Von prominenten Politikern haben sich — Herta Däubler-Gmelin (SPD) ist eine rühmliche Ausnahme — nur solche der FDP hinter das Urteil gestellt, der Parteivorsitzende Wolfgang Gerhardt, die Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sowie aus dem Ausland die Vorsitzende des Liberalen Forums in Österreich, Heide Schmidt. Sie fordert für Österreich Vergleichbares. Felix austria!

Zum Ausgleich stammt auch der dümmste Kommentar von einem Politiker der FDP. Außenminister Dr. Klaus Kinkel hat das Urteil juristisch richtig, aber „politisch ungeschickt” genannt. Erwartet er von einem Gericht falsche, aber politisch geschickte Urteile? Ärgerlich: Der Medienunternehmer Kirch, Minderheitsaktionär der Springer AG, hat die Abberufung des neuen Chefredakteurs Thomas Löffelholz verlangt, weil er in „Die Welt” eine Kolumne des früheren Oberlandesgerichtspräsidenten Dr. Rudolf Wassermann abgedruckt hatte. Wassermann hatte das Urteil begrüßt.

In den Pressestimmen fiel gelegentlich ein Unterton auf, auf den in Zukunft zu achten sein wird. Die christlichen Kirchen und damit auch das Kreuz im Schulzimmer werden als ein Hort der abendländischen Kultur, aber auch als ein Schutzwall gegen die Islamisierung Europas gesehen. Ich will nicht von Fremdenfeindlichkeit sprechen, aber doch davon, dass in der Ablehnung des Urteils eine Verunsicherung mitschwingt, die eine Eigendynamik entfalten könnte und die das überraschend große Echo in der Öffentlichkeit erklären könnte.

Wie sollen wir mit diesem Beschluss umgehen? Schon höre ich radikale Stimmen, die zu einem Kreuzzug gegen das Kreuz aufrufen. Ich rate zur Toleranz. Wer übertreibt, fordert eine Reaktion heraus. Schon heute lebt sie davon, die Folgerungen aus dem Urteil zu übertreiben. Welchen Grund haben wir, ihr behilflich zu sein?

Dank an das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt

Dem Bundesverfassungsgericht gebührt Dank, weil es eine Diskussion über die Grundlagen unseres Staates angestoßen hat, die gerade deshalb wichtig ist, weil sie unterschiedlich gesehen werden. Salopper ausgedrückt: Das Gericht hat das Sommerloch der Medien mit einem sinnvollen Thema gefüllt und auch deshalb so großen Widerhall gefunden. Scharping und Schröder in der Wohnküche über brutto und netto streitend, eine Hintertreppe tiefer im Schlafgemach streitend Renate Schmidt und Albert Schmid, Joschka Fischer in der sommerlich-schönen Toskana mit Spiegel-Redakteuren diskutierend über das Leid in Bosnien füllen es nur unzureichend. Reich-Ranicki und Günter Grass begegnen sich im Paternoster des ehemaligen Reichsluftfahrtministeriums in einem arg engen Feld. Nehmen wir also den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes als ein Thema, das deutlich über den Tagesnachrichten steht und als willkommenen Anlass, über die Grundlagen unseres Staates nachzudenken!

nach oben