Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 184: Der gläserne Mensch

Wissen oder Nicht­wis­sen?

Ethische Aspekte der Anwendung prädiktiver genetischer Tests

aus: Vorgänge 184 ( Heft 4/2008), S.70-78

1. Einleitung

Helmut Plessner hat in einer besonders prägnanten Formel darauf hingewiesen, dass es eine wesentliche Eigenschaft des Menschen ist, sein Leben aktiv und planvoll zu gestalten; er schreibt: „Der Mensch lebt nur, indem er sein Leben führt.” (Plessner 1975: 310) Eine solche Lebensführung ist jedoch nur unter der Bedingung möglich, dass wir – zumindest in einem gewissen Umfang – über verlässliche Annahmen hinsichtlich relevanter zukünftiger Entwicklungen und Ereignisse verfügen; ohne sie ist planvolles Handeln nicht oder doch nur in einem sehr beschränkten Maße möglich. Neben lebensweltlichen Erfahrungen liefern heute vor allem die modernen Naturwissenschaften die Grundlagen für solche Annahmen. Sie machen zahlreiche Bereiche des Lebens „kalkulierbar” und eröffnen so Handlungsspielräume von vormals ungeahnten Ausmaßen. Zwar kann es im Einzelnen sein, dass Berechenbarkeit und Planbarkeit – die selbstverständlich Grenzen haben und bisweilen den trügerischen Eindruck von Beherrschbarkeit erzeugen – einem gelungenen Leben nicht zuträglich oder sogar abträglich sind; dessen ungeachtet wäre es aufs Ganze gesehen doch wohl verfehlt, diese Entwicklung hin zu gesicherteren Vor-hersagen nicht als Fortschritt zu bewerten.

Seit Neuerem ermöglicht auch die Medizin durch den Einsatz von modernen biotechnologischen Verfahren Vorhersagen über zukünftige Entwicklungen und Ereignisse. Mit der Prädiktion hat sich das klassische Aufgabenspektrum der Medizin, das über Jahrhunderte hinweg auf die Trias „Diagnose, Therapie, Prävention” beschränkt war (die Frage, ob die Palliation einen weiteren eigenständigen Aufgabenbereich bildet, oder durch die klassische Trias abgedeckt ist, muss hier außer Acht gelassen werden), um einen Bereich erweitert. Die Prädiktion ist dabei deutlich von der Prognose zu unterscheiden, die zwar auch in die Zukunft gerichtet ist, aber doch lediglich Aussagen über den weiteren Verlauf einer bereits manifesten Erkrankung macht. Die Prädiktion hingegen richtet sich auf ein Ereignis, etwa den Ausbruch einer Krankheit, für das noch keinerlei offenbare Anzeichen in Form von Symptomen vorliegen. Anders gewendet: Die Prognose geht vom Kranken aus, die Prädiktion vom Gesunden.[1]

Zwar erlaubte es schon die Familienanamnese, Prädiktionen dieser Art vorzunehmen, und auch andere medizinische Untersuchungsverfahren können für Vorhersagen über den zukünftigen Gesundheitszustand herangezogen werden. Mit der Entwicklung sogenannter prädiktiver Gentests (Propping et al. 2006; Schmidtke et al. 2007) hat die vorhersagende Medizin nun aber zumindest quantitativ neue Dimensionen angenommen. Mittlerweile steht eine Vielzahl von genetischen Tests zum Nachweis von Veranlagungen für genetische Erkrankungen zur Verfügung. In den meisten Fällen kann dabei allerdings nicht das sichere Eintreten einer Erkrankung vorhergesagt werden oder gar der genaue Erkrankungszeitpunkt oder der individuelle Schweregrad, sondern lediglich ein erhöhtes Risiko für das Auftreten einer Erkrankung. Auch für andere Zwecke können prädiktive Gentests genutzt werden, beispielsweise zur Familienplanung (Heterozygotentests), als Hilfsmittel für eine verbesserte Entwicklung von Medikamenten sowie für gezieltere, auf den individuellen Patienten abgestimmte Therapien (Pharmalcogenetische Tests), oder auch um Gewissheit über nicht krankheitsrelevante genetische Dispositionen (sogenannte Lifestyle-Tests) zu erlangen. Prädiktive Gentests stellen damit eine der wichtigsten Anwendungen der Humangenomforschung dar. Angesichts dieser Entwicklung stellte der Mitentdecker der DNA-Struktur, James Watson, geradezu euphorisch fest: „We used to think our fate was in our stars. Now we know, in !arge measure, our fate is in our genes.” (Jaroff 1989: 65) Diese Euphorie nutzen auch kommerzielle , Anbieter wie beispielsweise die US-amerikanische Firma 23andMe, die mit dem Slogan „23andMe Democratizes Personal Genetics” über das Internet u.a. ein Gentestpaket anbietet, das über 90 krankheitsrelevante und nicht-krankheitsrelevante genetische Anlagen analysiert (URL http://www.23andme.com). Die Kosten für das Testpaket liegen bei 399 US-Dollar.

Stellt man die eingangs genannte Formel von Plessner in Rechnung, dann liegt es nahe, die skizzierte Entwicklung als positiven Beitrag zu einer aktiven Lebensplanung zu begrüßen. Prädiktive Gentests ermöglichen es dem Einzelnen, individuelle Risiken für bestimmte Krankheiten zu bestimmen und auf diese Weise wichtige Informationen für die persönliche Lebensplanung zu erlangen. Ohne Zweifel liegen in der neuen Technologie große Chancen. Überblickt man die seit Jahrzehnten geführte Diskussion zu den ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekten prädikiver Gentests, kann man hingegen zunächst den Eindruck gewinnen, die sogenannte ELSI (ethical, legal and social issues)-Forschung, die die Entwicklung in diesem Bereich von Beginn an begleitet hat, fokussiere auf Gefahren und Risiken und lege zu wenig Augenmerk auf den Nutzen. Aber selbst wenn dieser Eindruck bisweilen nicht völlig falsch sein mag, so gilt es den-noch zu beachten, dass prädiktive Gentests tatsächlich eine Reihe zum Teil durchaus schwieriger normativer Fragen aufwerfen. Im Zentrum steht hierbei die Frage, so kann man in erster Näherung sagen, welche regulativen Rahmenbedingungen gegeben sein müssen, damit die neue Technologie sinnvoll und ohne unverhältnismäßige Risiken und Gefahren für die individuelle Lebensplanung genutzt werden kann.

Daneben kann man aus ethischer Perspektive allerdings auch die Frage stellen, ob es moralische Kriterien gibt, die der Einzelne bei seiner persönlichen Entscheidung über die Nutzung von prädiktiven Gentests berücksichtigen sollte. Beide Aspekte – der eines regulativen Rahmens einerseits, der individueller Entscheidungskriterien andererseits – sollen im Folgenden beleuchtet werden. Zugespitzt steht damit die Frage „Wissen oder Nichtwissen” im Raum, wobei sie einmal von einer objektiven Warte aus betrachtet wird, einmal eine subjektive Perspektive eingenommen wird.

II. Infor­ma­ti­o­nelle Selbst­be­stim­mung

Im Zentrum der Überlegungen zu den erforderlichen regulativen Rahmenbedingungen für die Anwendung prädiktiver genetischer Tests steht die Einsicht, dass in modernen Gesellschaften der Persönlichkeitsschutz auch den Schutz persönlicher Informationen umfassen muss (Di Fabio 2001, Rn. 173 ff.). In Deutschland hat dies das Bundesverfassungsgericht in seinem wichtigen Urteil zur Volkszählung aus dem Jahr 1983 höchst-richterlich bestätigt. In diesem Urteil hat das Gericht den Begriff „informationelle Selbstbestimmung” geprägt, der seither zur Kennzeichnung eines zunehmend wichtigen Grundrechts Verwendung findet (Bundesverfassungsgericht 1983). Mit Bezug auf die Anwendung prädiktiver Gentests nimmt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine zentrale Rolle ein. Es konkretisiert sich hier zu der Maßgabe, dass es grundsätzlich die betroffene Person selbst sein muss, die entscheidet, ob genetische Informationen überhaupt durch die Anwendung eines Testverfahrens erhoben werden sollen, und — falls sie sich dafür entscheidet — wer außer ihr selbst Zugriff auf diese Informationen erhalten soll. Dies bedeutet zugleich, dass neben einem „Recht auf Wissen” auch ein „Recht auf Nichtwissen” als gleichrangig anerkannt werden muss. Ein angemessener Regelungsrahmen muss daher beides gleichermaßen schützen: Wissen und Nicht-wissen. Anders formuliert: Ob bzw. in welcher Weise der Einzelne Gentests als Hilfsmittel für eine aktive Lebensplanung nutzt, bleibt allein dem Betroffenen selbst überlassen. Mit Bezug auf die Frage „Wissen oder Nichtwissen” kann und darf ein regulativer Rahmen keine Vorgaben machen. Vielmehr muss ein solcher Rahmen beide Optionen eröffnen.

III. Gentests im Arbeits- und Versi­che­rungs­be­reich

Besondere Regelungen zum Schutz der informationellen Selbstbestimmung sind im Bezug auf prädiktive Gentests vor allem deshalb erforderlich, weil auch Dritte ein Interesse an den Testergebnissen haben können. So liegt es beispielsweise nahe, dass Versicherer Informationen über etwaige gesundheitliche Risiken ihrer Kunden und vor allem potentieller neuer Kunden zur Kalkulation von Prämien heranziehen. Ebenso könnten Arbeitgeber gesundheitsrelevante Informationen von Arbeitnehmern oder Bewerbern nutzen wollen. In einem gewissen Umfang klären Versicherungsunternehmen und Arbeitgeber auch heute den gesundheitlichen Zustand von Bewerbern vor Vertragsschluss ab. Dies ist eine allgemein akzeptierte Praxis. Die Diskussionen der vergangenen Jahre haben dazu geführt, dass vielfach die Meinung vertreten wird, dass die Anwendung von Gentests zwar womöglich nicht prinzipiell verschieden von dieser Praxis ist, dass hier die „Eingriffstiefe” jedoch ungleich größer ist als bei den etablierten medizinischen Un-tersuchungsverfahren. Dies wird als Grund dafür angeführt, dass die Nutzung von prädiktiven Gentests durch Arbeitgeber und Versicherer gesetzlich untersagt werden sollte. Kritiker — darunter auch der Nationale Ethikrat (2005, 2007) — machen demgegenüber geltend, dass dieser quantitative Unterschied keine qualitative Ungleichbehandlung verschiedener Methoden rechtfertigen könne, insbesondere im Hinblick auf die üblicher-weise praktizierte Familienanamnese. Sie fordern daher Regelungen, die nicht auf die Methode der Erhebung, sondern auf den voraussagenden Charakter von Informationen abstellen.

Tatsächlich gibt es Gründe, einen starken „genetischen Exzeptionalismus” abzulehnen. Tut man dies, dann stellt sich allerdings die Folgefrage, ob prädiktive Gentests als Methoden im Rahmen von Gesundheitsprüfungen zugelassen werden sollten oder ob nicht vielmehr die gängige Praxis einer Revision unterzogen werden müsste. Die Klärung dieser Frage bedarf freilich sehr grundlegender Überlegungen und Abwägungen zwischen zahlreichen, grundsätzlich legitimen Anliegen. Regelungspragmatisch könnte es deshalb vorteilhaft sein, die Anwendung von Gentests isoliert zu behandeln (Gesetzentwurf der Bundesregierung 2008; dazu Damm 2008). Dies muss man nicht unbedingt so verstehen, dass damit schon die Frage, ob sich ein starker oder schwacher genetischer Exzeptionalismus rechtfertigen lässt, positiv entschieden wäre. Eine isolierte Regelung könnte indessen eine grundsätzliche Debatte darüber, in welcher Weise prädiktive Gesundheitsinformationen in unser Gesellschaft Verwendung finden können sollen, auch im Keim ersticken — darin könnte man ein politisches Argument gegen eine Regelung, die ausschließlich die prädiktive Gendiagnostik zum Gegenstand hat, erblicken.

Ob in einem speziellen Regelungsansatz für prädiktive Gentests oder in einer umfassenden Regulierung prädikitver Gesundheitsinformationen, ein Verbot der Nutzung von Prädiktionen ist im Arbeits- und Versicherungssektor grundsätzlich angezeigt. Asymmetrische Machtkonstellationen können in diesen Bereichen sonst schnell dazu führen, dass der Einzelne sich (implizit) genötigt sieht, prädiktive Untersuchungen durchführen zu lassen, obwohl er dies eigentlich nicht will. Bedenkt man, welch weitreichende Konsequenzen etwaige positive Befunde für die individuelle Lebensführung und -planung haben können, dann müssen zumindest rein wirtschaftliche Interessen von Arbeitgebern und Versicherern wohl in der Regel dahinter zurückstehen. Allerdings besteht die Gefahr, dass ein Nutzungsverbot seinerseits beispielsweise zu Lasten von Lebensversicherungen ausgenutzt wird. Dies kann dadurch verhindert werden, dass Versicherungen mit außergewöhnlich hohen Prämien von einem Nutzungsverbot bereits vorliegender Testergebnisse ausgeschlossen werden. Auch andere Fälle sind denkbar, in denen eine Güterabwägung zuungunsten der informationellen Selbstbestimmung des Einzelnen aus-fällt. Es wäre verfehlt, darin generell einen unbotmäßigen Angriff auf die informationelle Selbstbestimmung zu sehen. Ausnahmeregelungen dieser Art verdeutlichen vielmehr, dass Selbstbestimmung und persönliche Freiheit nicht grenzenlos sein können und in unzumutbaren Nachteilen für andere ihre natürlichen Grenzen finden.

Bei den genannten Verboten handelt es sich ohne Zweifel um nicht unerhebliche Eingriffe in wichtige Grundrechte, insbesondere die Vertragsfreiheit. Dennoch leuchtet es ein, dass der Einzelne prädiktive Gentests nur dann sinnvoll zur persönlichen Lebensplanung nutzen kann, wenn er nicht befürchten muss, dass krankheitsrelevante Ergebnisse bei Versicherungsabschlüssen oder bei der Arbeitssuche gegen ihn verwendet werden. Eine Regulierung der Anwendung prädiktiver Gentests erfolgt also, um informationelle Selbstbestimmung zu ermöglichen. Die Situation stellt sich anders dar, wenn ein Arbeitgeber prädiktive Gentests, insbesondere sogenannte Suszebtibilitätstests, als Maßnahmen im Rahmen des Arbeitsschutzes einsetzt. Zwar wird man auch dann die Freiwilligkeit der zu testenden Personen als Bedingung voraussetzen und sicherstellen müssen, dass durch die Anwendung prädiktiver Gentests ein objektiver Arbeitsschutz nicht unterlaufen wird, ein generelles Verbot erscheint hingegen nicht begründet.

IV. Genetische Beratung und Arztvor­be­halt

Der Schutzaspekt bildet allerdings nur den negativen Teil des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Es bleibt, zumindest mit Blick auf so komplexe Technologien wie prädiktive Gentests es sind, unvollständig, wenn nicht ein positiver Teil hinzutritt. Für den medizinischen Laien ist es schwer, wenn nicht gar unmöglich, den informativen Nutzen von prädiktiven Gentests richtig einzuschätzen. Ohne fachliche Hilfe bleibt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung somit gleichsam leer. Daher kommt der kompetenten Beratung in diesem Kontext eine entscheidende Bedeutung zu. Es gilt im jeweiligen Einzelfall genau zu klären, welche Aussagen durch einen Gentest gemacht werden können, was ein möglicherweise erhöhtes Erkrankungsrisiko bedeutet, welche therapeutischen oder präventiven Maßnahmen es gibt etc. Bei sogenannten direct-toconsumer Tests, wie etwa dem Testpaket von 23andMe, droht die Gefahr, dass weder im Vorfeld eine adäquate Beratung noch bei der Ergebnisübermittlung eine fachliche Interpretation stattfindet. Unter diesen Bedingungen befördern Gentests eine aktive Lebensplanung nicht, sondern lösen womöglich unbegründete Ängste aus oder veranlassen gar zu unangemessenen Reaktionen. Es herrscht daher zu Recht die Auffassung vor, dass prädiktive Gentests nur von fachlich kompetenten Ärzten durchgeführt werden sollten (Arztvorbehalt) und dass vor einer Testdurchführung eine umfassende genetische Beratung stehen sollte, in der die Möglichkeiten und Grenzen der genetischen Prädiktion genau erläutert werden. Eine Beratungspflicht für Testwillige lässt sich damit allerdings nicht begründen — informationelle Selbstbestimmung kann sich auch im bewussten Verzicht auf Information manifestieren —, sondern lediglich eine Pflicht, eine Beratung zur Verfügung zu stellen. Sofern ein erhöhtes Erkrankungsrisiko ermittelt wird, müssen bei der Ergebnisübermittlung etwaige präventive oder therapeutische Optionen unter Berücksichtigung der individuellen Umstände ausführlich erörtert werden. Insbesondere wenn keine präventiven und therapeutischen Maßnahmen zur Verfügung stehen, wie etwa bei der Huntingtonschen Krankheit, bei der eine genetische Veranlagung durch einen Test mit großer Zuverlässigkeit ermittelt werden kann, muss auch für eine psychologische Betreuung Sorge getragen werden.

Fraglich ist allerdings, ob diese regulativen Maßgaben wirklich für alle Tests erforderlich sind. Während viele Tests auf krankheitsrelevante Merkmale abzielen und zum Teil erhöhte Risiken für sehr schwerwiegende Krankheiten wie etwa (erblichen) Brustkrebs erschließen können, haben andere Tests genetisch bedingte Merkmale zum Gegenstand, die keinerlei Krankheitsrelevanz besitzen. Das oben bereits erwähnte Testpaket der Firma 23andMe umfasst beispielsweise Testungen auf Bitter Taste Perception, Earwax Type und Eye Color. Es ist nicht ersichtlich, warum für solche Testarten besondere Regulierungen in Geltung gesetzt werden sollten. Zwar kann man die Frage auf werfen, ob es sinnvoll ist, einen kostspieligen Gentest durchführen zu lassen, um die eigene Augenfarbe zu testen, oder ob ein Blick in den Spiegel dafür nicht womöglich das angemessenere Verfahren darstellt. Diese Frage muss aber letztlich jeder für sich selbst beantworten. Eine Gefährdung, die eine Regulierung rechtfertigt, geht von solchen Tests wohl nicht aus.

Im Ergebnis bedeutet dies: Eine Regelung der Anwendung prädiktiver Gentests allein durch den freien Markt kann nicht überzeugen; ein Rahmen, der alle Testverfahren gleichermaßen restriktiven Vorgaben unterwirft, droht jedoch in eine unbegründete Überregulierung zu münden.

V. Was sollen wir über unsere Zukunft wissen wollen?

Im Vorangegangenen hat die Frage im Zentrum gestanden, welche regulativen Rahmenbedingungen gegeben sein müssen, damit prädiktive Gentests sinnvoll und ohne unverhältnismäßige Risiken und Nachteile für die individuelle Lebensplanung genutzt werden können. Dabei ist deutlich geworden, dass dazu sowohl Schutzmechanismen — etwa im Sinne von Verboten in bestimmten Bereichen — angezeigt erscheinen als auch unterstützende Maßnahmen — vor allem in Form kompetenter genetischer Beratung. Unbeleuchtet ist bislang die Frage geblieben, ob es Kriterien gibt, die aus ethischer Sicht für oder gegen die Anwendung von prädiktiven Gentests sprechen.

Diese Frage fällt im weitesten Sinne in einen Bereich, der in der Moralphilosophie traditionell mit dem Titel „das gute oder gelingende Leben” bezeichnet wird. War dies einstmals ein zentraler Gegenstand der Ethik — etwa bei Aristoteles —, so gibt es seit der Neuzeit Zweifel, ob die Frage nach dem guten Leben überhaupt noch in allgemeiner Weise beantwortet werden kann. In paradigmatischer Weise hat Jürgen Habermas dar-auf hingewiesen, dass die Philosophie in Zeiten des „nachmetaphysischen Denkens” nicht mehr in der Lage sei, allgemeinverbindliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben zu geben. Sie hat sich, Habermas zufolge, darauf zu beschränken, Regeln für die „gerechte Gesellschaft” zu formulieren, die es ihrerseits „allen Personen anheim [stellt], was sie ,mit der Zeit ihres Lebens anfangen‘ wollen. Sie garantiert jedem die gleiche Freiheit, ein ethisches Selbstverständnis zu entwickeln, um eine persönliche Konzeption vom ,guten Leben‘ nach eigenem Können und Gutdünken zu verwirklichen.” (Habermas 2002: 13) Für diese Form von „postmetaphysische[r] Enthaltsamkeit” (ebd.: 27) gibt es — gerade in pluralen Gesellschaften, die nicht mehr über umfassende und allgemein geteilte normative Hintergrundannahmen verfügen — gute Gründe.

Die Suche nach einem geeigneten regulativen Rahmen für die Anwendung prädiktiver Gentests, der es dem Einzelnen ermöglicht, frei zu entscheiden, ob er prädiktive Gentests als Hilfsmittel für eine aktive Lebensplanung nutzen möchte, steht daher zu Recht im Vordergrund der Debatte. Dessen ungeachtet erscheint es nicht aussichtslos, nach begründeten Kriterien für oder gegen bestimmte Praktiken zu suchen. Klar muss dabei allerdings sein, dass solche Kriterien nicht als verbindliche oder gar zwangsweise durchsetzbare Maßgaben verstanden werden können, sondern lediglich den Status von wohlerwogenen Empfehlungen haben, über deren Relevanz jeder persönlich befinden muss.

Wie könnten solche Kriterien für die Anwendung prädiktiver Gentests aussehen? Zwei Kriterien, die mit Blick auf diese Frage gute Kandidaten für eine Orientierung sind, lassen sich der Ethik Immanuel Kants entnehmen (Heinrichs 2005). In den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre identifiziert Kant nämlich zwei „Zwecke, die zugleich Pflicht sind”, Handlungsziele also, die man sich aus moralischen Gründen zur Verwirklichung im eigenen Leben vornehmen soll; es sind dies die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit (Kant 1990: AA VI 385 ff.). Ohne hier im Einzelnen erörtern zu können, wie und warum Kant zu diesen Zwecken kommt und welche Probleme sie aufwerfen, kann man zumindest einräumen, dass sie eine hohe Plausibilität mit sich führen und zu Orientierungszwecken auch dann geeignet sein können, wenn man der Kantischen Theorie insgesamt skeptisch gegenübersteht.

Wenn nun also die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit normative Zielvorgaben für das menschliche Handeln abgeben und prädiktive Gentests als Mittel für eine aktive Lebensplanung prinzipiell zur Verfügung stehen, dann ist die entscheidende Frage, ob Gentests die Realisierung dieser beiden Zielvorgaben unterstützen, sie behindern oder in dieser Hinsicht neutral sind. Von der Antwort auf diese Frage wird man es abhängig machen müssen, was man über die eigene Zukunft wissen wollen soll. Konkret bedeutet dies etwa, dass man sich fragen muss, welche Handlungsoptionen ein etwaiges Testergebnis eröffnet. Wird ein positiver Testbefund eher befreien, indem er eine latente Angst zwar womöglich bestätigt, ihr aber die lähmende Wirkung nimmt? Oder wird ein positiver Befund im Gegenteil zu schweren psychischen Belastungen führen, die einer aktiven Lebensführung entgegenstehen? Welche Auswirkungen wird ein Test auf andere, ebenfalls betroffene Familienmitglieder haben? Gibt es einen Konsens bezüglich der Testanwendung oder führt eine Anwendung eher zu intrafamiliären Konflikten? Klar ist dabei, dass im Modus der hypothetischen Antizipation die tatsächlichen Auswirkungen einer Testung nicht mit letzter Sicherheit prognostiziert werden können. Sowohl die eigene, als auch die Reaktion anderer beteiligter Personen können unvorhersehbar und überraschend sein. Die beiden von Kant benannten Handlungsziele eröffnen aber zumindest einen Rahmen, in dem man die eigenen Handlungsoptionen reflektieren kann.

Wenn Plessner feststellt, dass der Mensch nur lebt, indem er sein Leben führt, dann ist dem aus ethischer Sicht hinzuzufügen, dass er für diese seine Lebensführung verantwortlich ist und daher seine Handlungsoptionen unter moralischen Gesichtspunkten betrachten und unter Umständen modifizieren muss. Eine verantwortliche Lebensplanung kann sich (auch) an den Kantischen Kategorien der eigenen Vollkommenheit und der fremden Glückseligkeit orientieren. Wissen oder Nichtwissen – mit Blick auf das „gute Leben” gibt es auf diese Frage sicher keine allgemeinverbindlichen Antworten. Die Anwendung von Gentests kann im Einzelfall falsch, richtig oder unbestimmt sein. In jedem Fall richtig und sogar geboten ist es, dass jeder vor einer Testung das Für und Wi-der sorgfältig erwägt und eine für sich selbst und mit Blick auf andere rechtfertigungsfähige Entscheidung trifft.

Konkret bedeutet dies: Es gilt zu erwägen, ob die Informationen, die durch einen Gentest verfügbar werden, zum einen die persönliche aktive Lebensführung unterstützen (etwa weil durch sie lähmende Ungewissheit überwunden werden kann) und zum anderen der Lebensführung anderer nicht schaden (etwa weil durch sie Familienkonflikte aufbrechen). Eine unüberlegte und uninformierte Nutzung von Gentests erscheint aus dieser Perspektive hingegen als unverantwortliche Handlungsweise.

VI. Fazit

Prädiktive Gentests stellen eine Technologie dar, die als Hilfsmittel für eine aktive Lebensplanung fruchtbar gemacht werden kann. Zugleich kann ihre Anwendung eine Reihe von Risiken für den Einzelnen bergen, zumindest dann, wenn die Nutzung von Gentests ungeregelt ist. Es ist daher längst überfällig, dass die Politik einen regulativen Rahmen schafft, der diese Risiken minimiert Im Zentrum muss dabei das Recht auf informationelle Selbstbestimmung stehen, wobei sowohl ein negativ-schützender als auch ein positiv-ermöglichender Aspekt dieses Rechts beachtet werden muss. Allerdings darf eine gesetzliche Regulierung auch nicht über das Ziel hinaus schießen: Regulierungen sind nur dann angemessen und begründet, wenn tatsächliche Gefahren für den Einzelnen oder die Gesellschaft insgesamt bestehen. Dass dies bei allen verfügbaren Gentests der Fall ist, muss bezweifelt werden.

Zugleich stellt sich aus ethischer Perspektive die Frage, auf welche Kriterien der Einzelne bei der Frage, ob er prädiktive Gentests nutzen sollte oder nicht, zurückgreifen kann. Die Vorhersagen, die sie über Krankheitsveranlagungen ermöglichen, können als Mittel für eine aktive Lebensführung – die den Mensch wesentlich auszeichnet – fruchtbar gemacht werden; krankheitsrelevante Prädiktionen können der individuellen Lebensplanung aber auch hinderlich sein. Zusätzlich gilt es zu bedenken, dass der Mensch als moralisches Wesen Verantwortung für seine Handlungen trägt und seine Lebensführung daher unter moralischen Gesichtspunkten reflektieren muss. Orientierung bei dieser moralischen Reflexion der eigenen Lebensplanung bieten – ganz allgemein, aber speziell auch mit Blick auf die Anwendung prädiktiver Gentest – die Zielsetzungen, die Kant im Rahmen seiner Tugendlehre entwickelt: eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit. Ob ein Gentest im individuellen Fall dazu geeignet ist, die Verwirklichung dieser Ziele zu unterstützen, muss wiederum jeder selbst entscheiden.
Wissen oder Nichtwissen? – Aus der „objektiven” Perspektive des Staates, der für die Formulierung eines regulativen Rahmens verantwortlich ist, sind beides gleicher-maßen gültige Handlungsoptionen, die es zu wahren gilt. Und auch aus der „subjektiven” Perspektive des einzelnen potentiellen Testanwenders lässt sich keine allgemein-gültige Empfehlung aussprechen, wohl lassen sich aber Kriterien angeben, die bei der persönlichen Entscheidungsfindung helfen können.

[1]Auch die – in Deutschland nach herrschender Meinung verbotene – Präimplantationsdiagnostik (PID) ist in gewisser Weise eine Form der prädiktiven Diagnostik. Allerdings wirft sie ethische Probleme ganz eigener Art auf. Ihre systematischen Besonderheiten werden schon dadurch greif-bar, dass es verfehlt wäre zu sagen, sie ginge – wie die „gewöhnliche” Prädiktion – vom Gesunden aus. Sie wird daher im Folgenden nicht berücksichtigt.

Literatur

Plessner, Helmut 1975: Die Stufen des Organischen und der Menschen, 3. Aufl., Berlin-New-York. Propping, Peter et al. 2006: Prädiktive genetische Testverfahren. Naturwissenschaftliche, rechtliche
und ethische Aspekte, Freiburg/Br. (Ethik in den Biowissenschaften – Sachstandsberichte des
DRZE; Bd. 2).
Jaroff, Leon 1989: The Gene Hunt. Scientists launch a $3 billion project to map the chromosomes and decipher the complete instructions for making a human being, in: Time, Jg. 133 H. 12 (20. 03. 1989), S. 58-65.
Bundesverfassungsgericht, 1. Senat 1983: Urteil vom 15. Dezember 1983. Az: 1 BvR 209/83, 1 BvR 269/83, 1 BvR 362/83, 1 BvR 420/83, 1 BvR 440/83, 1 BvR 484/83. In: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 65, S. 1–71.
Nationale Ethikrat 2007: Prädiktive Gesundheitsinformationen beim Abschluss von Versicherungen, Berlin.
Nationaler Ethikrat 2005: Prädiktive Gesundheitsinformationen bei Einstellungsuntersuchungen, Berlin.
Bundesregierung 2008: Entwurf eines Gesetzes über genetische Untersuchungen beim Menschen (Gendiagnostikgesetz – GenDG).
Habermas, Jürgen 2002: Die Zukunft der menschlichen Natur: auf dem Weg zur liberalen Eugenik?, 4., erweiterte Aufl., Franfurt/M..
Damm, Reinhard 2008: Eckpunkte der Bundesregierung zu einem Gendiagnostikgesetz, in: Medizin-recht, Jg. 26, H. 9, S. 535–538.
Di Fabio, Udo 2001: Kommentar zu Artikel 2, in: Maunz, T.; Dürig, G.: Grundgesetz. Kommentar. München: Loseblattsarrunlung. Stand: 52. Ergänzungslieferung (Mai 2008).
Heinrichs, Bert 2005: What should we want to know about our future? A Kantian view on predictive genetic testing, in: Medicine, Health Care andPhilosophy Jg. 8, H. 1, S. 29-37.
Kant, Immanuel 1990 [1797]: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Neu herausgegeben und
eingeleitet von Bernd Ludwig, Hamburg [Seitenangaben nach Band VI der Akademie-Ausgabe]. Schmidtke, Jörg et al. (Hg.) 2007: Gendiagnostik in Deutschland. Status quo und Problemerkennung.
Supplement zum Gentechnologiebericht. Limburg (Interdisziplinäre Arbeitsgruppen. Forschungs-
berichte. Herausgegeben von der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bd.
18).

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