Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 184: Der gläserne Mensch

Editorial

aus: Vorgänge 184 ( Heft 4 /2008), S.1

Als vor 25 Jahren das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus der Taufe gehoben wurde, war sein Anliegen, die Privatsphäre vor Einblicken und Eingriffen des Staates zu schützen. Der Einzelne müsse, so formulieren die Bundesverfassungsrichter damals, „grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten bestimmen.”

Inzwischen hat der Fortschritt der Kommunikationstechnologien zu einem rasanten Wandel der Datenerfassung und -verarbeitung geführt. Zudem ist neben das durch die Terrorismusbekämpfung gesteigerte Interesse des Staates an der Privatsphäre seiner Bürger die Wirtschaft als Lieferant und Abnehmer personenbezogener Daten getreten. Eine Vielzahl von Baten-technologischen Innovationen will dem Einzelnen das Leben erleichtern — um den Preis eines permanenten Datenflusses. Datenverarbeitung ist allgegenwärtig geworden. Sie läuft geräuschlos im Hintergrund und verändert doch die ganze Gesellschaft. Während das Bundesverfassungsgericht im Februar die Schutzgarantie der Verfassung auf die „Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme” ausgeweitet hat, zeichnen sich mit ubiquitous computing, cloud computing und RFID bereits die Tendenzen zu einer Datenpreisgabe und -nutzung ab, die mit den Verfassungsnormen nur noch schwer zu fassen sind. Zugleich wird das Internet zum virtuellen Tummelplatz freiwilliger Selbstpreisgabe. Der Sozialwissenschaftler Roger Clarke definierte das Recht auf Privatsphäre als „die Freiheit von übermäßiger Einschränkung bei der Konstruktion der eigenen Identität”. Diese Freiheit ist zweischneidig, denn sie ist nicht allein von Seiten des Staates bedroht, die Konstruktion der eigenen Identität ist auch mit der freiwilligen Offenbarung sensibler Daten verbunden. Im World Wide Web verschwimmen die Grenzen zwischen Privatheft und Öffentlichkeit und einmal offen gelegt, lassen sich Daten nicht wieder einfangen. Die vorliegende Ausgabe der vorgänge reflektiert die neuen Entwicklungen der Datennutzung und des Datenschutzes.

Peter Schaar resümiert die Entwicklungen der letzten Jahre und plädiert für eine Ethik der informationellen Selbstbegrenzung: Nicht alles, was möglich ist, darf auch gemacht werden. Die Entscheidung, was möglich sein soll, muss aber von jedem einzelnen selbst getroffen werden.

Hans Peter Bull kritisiert anlässlich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum „Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme” die simple Dichotomie von Freiheit versus Sicherheit, welche die Debatten um den Datenschutz in Deutschland prägt. Diese werde weder der rechtlichen Lage noch der realen Entwicklung gerecht.

Dirk Heckmann erkennt in dem gleichen Urteil eine verfassungsrechtliche Reaktion auf die technologischen Entwicklungen, deren wachsende Komplexität jedoch allein mit juristischen Mitteln nicht mehr beizukommen ist. Wo zudem Freiheit der Persönlichkeit auch deren Entfaltung im Internet bedeutet, erwachsen Persönlichkeitsrechtsgefährdungen, die weder vom Staat ausgehen, noch von diesem alleine abgewendet werden können. Gefordert ist vielmehr ein mündiger User, mehr Transparenz der Datenflüsse und deren Trockenlegung, wo sie nicht mehr erforderlich sind.

Der sechzigste Geburtstag des Grundgesetzes ist für Jürgen Roth Anlass, die Aufnahme des Datenschutzes in den Katalog der Grundrechte zu fordern.

Sarah Spiekermann führt in die digitale Welt von Morgen, in der der Computer kein spezifisches Gerät mehr ist, sondern sich in Technologien und Gerätschaften des täglichen Lebens integriert hat und fragt, wie der Mensch in diesem Internet der Dinge die Grenzen seiner Privatheft ziehen wird.

Martin Rost sieht die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft durch die informationelle Verkopplung ehedem getrennter Identitäten aufgehoben. Datenschutz kann sich nicht mehr darin erschöpfen, diese Differenzierung wiederherzustellen. Gefragt sind vielmehr Anonymisierung und ein nutzerkontrolliertes Identitätsmanagement, letztlich eine Ausweitung der Funktionstrennung bis in die datenerhebenden Organisationen hinein.
Regine Kollek stellt den Fortschritt der Biobanken vor und analysiert die Unmöglichkeit, bei ihnen die gängigen Kriterien des Datenschutzes anzuwenden.

Bert Heinrich geht der Frage nach, ob bei prädikativen Gentests das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch das Recht einschließt, zu wissen, was gewusst werden kann und entwickelt Kriterien, an denen sich eine ethisch verantwortungsvolle Antwort darauf zu orientieren hat.

Christian Rath geht mit der Politik der Bürgerrechtsgruppen ins Gericht. Deren Alarmismus stehe häufig in keinem Verhältnis zum Anlass und trage zu den gesellschaftlichen Ängsten bei, gegen die sie sich eigentlich wenden wollen.

Sebastian Buckow analysiert BKA-Gesetz und Online-Durchsuchung als Elemente einer neuen Architektur der Sicherheitsapparate.

In den Essays lotet Marcus Hawel das rechte Verhältnis von Politik und Moral aus. Verselbstständigt sich letztere, zerstört sie erstere, reduziert sich diese jedoch auf pure Sachzwanglogik, neutralisiert sie moralische Sensibilität.

Karin Priester analysiert die Sozialstruktur der NPD-Führungskader. Es sind keine prekären Existenzen, wie häufig gemutmaßt, sondern Extremisten der Mitte.

Florian Hartleb lotet die Potenziale des Rechtspopulismus in Österreich nach Haider aus.

Eckard Jesse wendet sich gegen ein NPD-Verbot. Dazu bewegen ihn jedoch nicht Zweifel an der verfassungsgerichtlichen Durchsetzbarkeit, er vertraut vielmehr auf die Stabilität der Demokratie als der besseren Waffe im Kampf gegen Rechtsextremismus.

Die Rezensionen des Buches von Heribert Prantl zur Terrorismusbekämpfung von Christopher Pollmann runden diese Ausgabe der vorgänge ab, zu der ich Ihnen wie immer eine anregende Lektüre wünsche.

Ihr Dieter Rulff

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