Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 201/202: Verfassungsschutz in der Krise?

Editorial

aus: vorgänge Nr. 201/202 (1/2-2013), S. 2-3

Seit drei Monaten stehen Beate Zschäpe und mit ihr mehrere mutmaßliche Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in München vor Gericht. Mit den Mitteln des Rechtsstaates soll dort geklärt werden, wer für diese rassistische Mordserie verantwortlich war, die sich jahrelang unter den Augen der Sicherheitsbehörden abspielte. Als der Zusammenhang vor zwei Jahren hergestellt war, da hielten viele Beobachter für einen Moment die Luft an: Wie dicht waren die Sicherheitsbehörden dran, als sich drei einschlägig bekannte Neonazis zu radikalisieren begannen, mit Waffen versorgten, und schließlich untertauchten? Waren V-Leute im Umfeld des Trios im Einsatz? Wie und warum hatte der Verfassungsschutz in die Bemühungen der Strafverfolger interveniert? Worin besteht der Aufklärungsgewinn des Verfassungsschutzes, wenn er Derartiges zulässt?

Mit diesen Fragen haben sich mittlerweile vier Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern beschäftigt. Ihre Bemühungen um Aufklärung sind noch nicht abgeschlossen, doch schon jetzt wird eine Vielzahl falsch oder gar nicht ausgewerteter Informationen, eklatanter Fehleinschätzungen und gezielter Verharmlosungen deutlich. Der unprofessionelle Umgang mit Informationen reißt nicht ab – und selbst bei der Aufarbeitung ihrer Archive versagen die Verfassungsschützer immer wieder. Doch die Aufarbeitung des NSU-Skandals hakt auch auf anderen Ebenen: bei den politisch Verantwortlichen und in den Parlamenten. Grund genug für die vorgänge, sich noch einmal grundsätzlich mit dem Verfassungsschutz (VS) zu befassen.

Dessen problematischen Seiten zeigen sich nicht nur dort, wo er im Verborgenen tätig wird – sondern auch in aller Öffentlichkeit, wenn er mit seinen „Erkenntnissen“ Politik macht. Welche Rolle die Verfassungsschutzberichte dabei spielen, analysierte bereits 1982 Jürgen Seifert in den vorgängen. Wir drucken seine damalige Untersuchung erneut ab. Wie aktuell die Kritik am öffentlichen Wirken des VS ist, zeigt auch Melanie Pohner, die sich kritisch mit der zunehmenden „Bildungsarbeit“ der Verfassungsschützer beschäftigt.

Die sicherheitspolitischen Reaktionen auf den NSU-Skandal fasst Eric Töpfer zusammen. Er listet auf, was die Innenminister in den letzten beiden Jahren an Maßnahmen und Reformen beschlossen, ja größtenteils schon umgesetzt haben: neue Einrichtungen zum informellen Austausch; Verpflichtungen zur engeren Kooperation; noch mehr Datensammlungen und eine stärkere Zentralisierung. Das voraussichtliche Ergebnis – eine Stärkung des Bundesamtes für Verfassungsschutz – wirkt nicht nur paradox, sondern einmal mehr als vor allem von den Sicherheitsbehörden selbst vorangetriebene Entwicklung. Von politischem Steuerungs- und Gestaltungswillen keine Spur. Das wird umso deutlicher, wenn man die Reformvorschläge der Parteien daneben hält. Wir haben Vertreter aller Bundestagsfraktionen zu ihren Reformvorstellungen befragt. Ihre Antworten sind ab Seite 12 nachzulesen. Während Grüne und Linke derzeit über Alternativen zum Verfassungsschutz nachdenken, sind CDU/CSU und SPD erkennbar darum bemüht, keine weiteren Reformerwartungen aufkommen zu lassen.

Über dem „Betriebsunfall“ NSU sollten die grundsätzlichen Probleme des Verfassungsschutzes nicht in Vergessenheit geraten. Daran erinnert ein gemeinsames Memorandum zur Abschaffung des Verfassungsschutzes, das Vertreter von Bürgerrechtsorganisationen erarbeitet haben. Wir drucken Auszüge aus dem Text, der die zentrale Aufgabe des Verfassungsschutzes – als Frühwarnsystem vor gefährlichen Aktivitäten – kritisch hinterfragt. Ist solch ein Frühwarnsystem überhaupt wünschenswert für eine Demokratie? Welche Gefahren lauern in der geheimdienstlichen Beobachtung der gewissen „Bestrebungen“, die der Verfassungsschutz im Blick haben soll. Und was ist mit den anderen Aufgaben, die der VS noch erfüllen soll? Die Autoren befassen sich mit den Schwierigkeiten einer Kontrolle des Verfassungsschutzes, aber auch mit den permanenten Rechtsbrüchen, Skandalen und Verfehlungen, die die Geschichte des Dienstes durchziehen. Ihre Antwort ist eindeutig: der VS gehört abgeschafft, und zwar ersatzlos. Wie das auf Landesebene vollzogen werden könnte, und welche rechtlichen Fallstricke dabei zu beachten sind, zeigt Sven Lüders am Beispiel eines Gesetzentwurfs der hessischen Linken.

Dass die Kritiker an den Geheimdiensten nicht nur aus der Zivilgesellschaft, quasi von Außen kommen, hat der frühere Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hansjörg Geiger, bereits vor Jahren deutlich gemacht. Im Gespräch erläutert er, warum er von der Notwendigkeit eines geheimdienstlichen Verfassungsschutzes nach wie vor überzeugt ist – und dennoch kein Weg an grundlegenden Reformen vorbei führt. Ganz andere Erfahrungen machte dagegen Klaus Hahnzog mit dem Verfassungsschutz. Er engagierte sich in einem Bündnis gegen ein restriktives Versammlungsgesetz – und wurde dort von einem V-Mann des bayerischen Landesamtes bespitzelt; im Auftrag jenes Ministeriums, gegen dessen Gesetz er klagen wollte. Er fordert, die V-Leute abzuschalten.

Mit einem weiteren zentralen Instrument der Geheimdienstarbeit setzt sich schließlich Rosemarie Will auseinander: Sie kommentiert die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten Anti-Terror-Datei. Jene steht für die uferlose Speicherung von allem und jedem, aber auch für den zunehmenden Informationsaustausch zwischen Geheimdiensten und Polizei. In ihrem Kommentar vermisst Will eine klare Position der Karlsruher Richter zur Ausgestaltung des sogenannten Trennungsgebots im Informationszeitalter.

Wir hoffen, dass neben den genannten Beiträgen zum Schwerpunkt auch die anderen Themen im Heft Ihr Interesse finden. Wir wünschen Ihnen jedenfalls interessante Einblicke und eine anregende Lektüre mit den neuen vorgängen.

Claudia Krieg & Sven Lüders
 

Dateien

nach oben