Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 217: Der Islam als Bewährungsprobe fürs Religionsverfassungsrecht

Distan­zie­rung vom gewal­to­ri­en­tierten Islamismus – Ansätze und Erfahrungen etablierter pädago­gi­scher Praxis*

In: vorgänge Nr. 217 (Heft 1/2017), S. 63-78

Der islamistische Extremismus rekrutiert und findet seine Anhänger/innen in Deutschland vor allem unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen. In Reaktion darauf wurden in den letzten Jahren pädagogische Spezialangebote entwickelt, die junge Menschen bei einer Distanzierung von dieser Ideologie und ihren Strukturen unterstützen sollen. Basierend auf einer Befragung von Praxisakteuren werden im Beitrag zentrale Ansätze vorgestellt, dahinterstehende Präventionslogiken analysiert und die jeweiligen Potenziale verschiedener Vorgehensweisen diskutiert. Es zeigt sich, dass mit dem etablierten Angebotsspektrum junge Menschen in unterschiedlichen Phasen der Hinwendung bzw. Einbindung in islamistische Szenen erreicht und unterstützt werden können – wobei die unterschiedlichen Ansätze hier je spezifische Stärken und Begrenzungen aufweisen. Als eine Herausforderung wird erkennbar, das Spektrum bisher erreichter Zielgruppen zu verbreitern. Dazu gilt es unter anderem, die direkte Arbeit mit jungen Menschen, etwa durch den Ausbau sozialraum- und lebensweltorientierter Zugänge, zu stärken.

Extremistische, gewaltorientierte politische Bewegungen, die sich auf den Islam bzw. eine bestimmte Islamauslegung berufen (1), verzeichnen in Deutschland seit einigen Jahren wachsenden Zulauf. Spätestens mit dem Aufkommen des sog. „Islamischen Staates“ (IS) und den Ausreisewellen in die syrischen und irakischen Kampfgebiete wurde deutlich, dass diese Bewegungen und ihre Botschaften vor allem unter Jugendlichen und jungen Menschen ihre Anhänger/innen finden. Vor allem der IS setzt in Europa auch sehr gezielt auf Jugendliche als Zielgruppe seiner Propaganda: mit professionellen, jugendgemäß aufgemachten Videobotschaften, mit eigenen Modeaccessoires und Musikproduktionen sowie der individuellen Ansprache über Facebook und Youtube werden bewusst jugendspezifische Formen der Werbung und Rekrutierung gewählt.

In Reaktion auf diese Entwicklungen sind in den letzten Jahren zum einen pädagogische Angebote entstanden, die mit vorbeugender Zielstellung, d.h. bevor sich junge Menschen diesen Gruppen zuwenden, mit Jugendlichen und Erwachsenen zu diesen Themen arbeiten; zum anderen wurden verschiedene Spezialangebote aufgelegt, um junge Menschen, die bereits (unterschiedlich ausgeprägte) Affinitäten zum gewaltorientierten Islamismus zeigen, in einer Distanzierung von diesen Gruppierungen und ideologischen Positionen zu unterstützen. Übergeordnete Zielstellung dieser Angebote ist es, eine (weitere) Hinwendung (2) Jugendlicher und junger Menschen zu extremistischen islamistischen Strömungen und insbesondere ihre Ausreise in die IS-Kampfgebiete zu verhindern; vereinzelt betreuen Angebote auch Fälle, in denen es um das Zurückholen ausgereister Jugendlicher geht, bei einzelnen Angeboten umfassen die Ziele der Arbeit auch die ideologische Deradikalisierung und gesellschaftliche Re-Integration von Rückkehrenden.

Diese Spezialangebote, ihre pädagogischen Antworten auf die Gefährdung durch den gewaltorientierten Islamismus sowie die mit dieser Arbeit gewonnenen Erfahrungen sind das Thema des folgenden Beitrags. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich hierbei auf eine „erste Generation“ von Angeboten, die inzwischen einen gewissen Erfahrungsschatz zu dieser Arbeit aufweisen kann. (3)

Um diese pädagogische Arbeit fachlich einordnen zu können, wird zunächst ein kurzer Überblick über den Forschungsstand zum Phänomen gegeben. Daran anschließend werden in den letzten Jahren erprobte Ansätze in ihren Grundzügen skizziert, dazu vorliegende Erfahrungen diskutiert sowie erste Einschätzungen zu Entwicklungsperspektiven und -bedarfen formuliert.

I. Stand der Forschung

Für die pädagogische Arbeit in diesem Handlungsfeld sind vor allem Studien von Interesse, die sich auf der sog. Mikro- und Mesoebene bewegen: Ansatzpunkte für pädagogische, d.h. auf individuelle Lern- und Veränderungsprozesse ausgerichtete Interventionen lassen sich insbesondere aus Erkenntnissen zu Erfahrungshintergründen und Motivationen derjenigen ableiten, die sich gewaltorientierten islamistischen Gruppierungen anschließen bzw. wieder von ihnen distanzieren. Der Forschungsstand zu diesen Dimensionen des Phänomens „gewaltorientierter Islamismus“ ist allerdings noch sehr begrenzt. Das gilt in besonderem Maße für den deutschsprachigen Raum. Zu manchen relevanten Bereichen (wie z.B. zur Rolle früher familialer Erfahrungen) liegen bisher auch aus internationalen Studien keine eindeutigen empirischen Befunde vor; zu anderen Dimensionen, etwa dem Stellenwert sozio-ökonomischer Marginalisierung oder der Bedeutung von Diskriminierungserfahrungen finden sich zwar in der internationalen wie in der deutschen Forschung eine Reihe von Hinweisen; doch ist die Forschungslage hier insgesamt nicht einheitlich bzw. die heterogenen Befunde verweisen darauf, dass entsprechende Belastungen nicht immer ursächlich sein müssen, wenn sich junge Menschen extremistischen islamistischen Strömungen anschließen. (4)
Erkennbar wird in der Gesamtschau (5) allerdings, dass Erfahrungen der Nichtanerkennung und der Nichtzugehörigkeit, die aus unterschiedlichen Bereichen resultieren können, in vielen Fällen eine Rolle spielen. Entsprechend lassen sich das Gemeinschaftsversprechen und die sozialen Gratifikationen, die extremistische Gruppierungen ihren Mitgliedern bieten, als ein zentrales Hinwendungsmotiv und Attraktivitätsmoment identifizieren. (6) Relativ gut belegt ist zudem, dass biografische Krisenerfahrungen eine Hinwendung zu diesen Ideologien und Szenen auslösen können.

Die bisherige Befundlage legt außerdem nahe, dass eine Hinwendung zum gewaltorientierten Islamismus nicht als lineare Folge einer besonders intensiv praktizierten Religiosität gedeutet werden kann: diejenigen, die sich diesen Strömungen zuwenden, stammen häufig aus eher säkularisierten Elternhäusern, waren selbst zuvor kaum oder nicht religiös (oder sind Konvertiten) und verfügen oft nur über begrenztes religiöses Wissen. (7)

Deutlich wird zudem eine spezifische Bedeutung der Jugendphase für diese Prozesse, sowohl das Alter als auch die Motivlagen betreffend. So wird das Einstiegsalter in diese Szenen von Sicherheitsbehörden und feldkundigen Expert/innen auf 16-19 Jahre (mit sich verjüngender Tendenz) geschätzt. (8) Aber auch unter denjenigen, die sich tatsächlich zur Ausreise in den „Dschihad“ entschließen, ist ein deutliche Mehrheit im Jugend- oder Jungerwachsenenalter; die jüngsten aus Deutschland Ausgereisten waren sicherheitsbehördlichen Erkenntnissen zufolge erst 13 und 14 Jahre alt.

Darüber hinaus zeigt sich auch eine Relevanz von Motiven und Faktoren, die in der Jugendphase einen besonderen Stellenwert haben. Zu nennen ist hier zum einen eine bewusst provokative Abgrenzung von der Elterngeneration und der Mehrheitsgesellschaft sowie eine Suche nach Grenzerfahrungen und Abenteuer (vor allem bei jungen Männern auch die Faszination des Kämpfens selbst); zum anderen wird erkennbar, dass die islamistische Ideologie mit ihren strikten Vorgaben und klaren Gut-Böse-Dichotomien sowie ihren vermeintlich höheren Zielen bei manchen Jugendlichen aus einer adoleszenzspezifischen Orientierungs- und Sinnsuche heraus ihre spezifische Attraktivität zu entfalten vermag. (9) Neben idealistischen Motiven wie der Unterstützung der syrischen Zivilbevölkerung erweist sich hier v.a. bei jungen Männern das Bild des heroischen Kämpfers für eine edle Sache als bedeutsam.

Nicht zuletzt verweisen die vorliegenden, unterschiedliche Aspekte und Ursachenkonstellationen beleuchtenden Studien auf die Vielschichtigkeit und individuelle Spezifik von Hinwendungs- und Radikalisierungsverläufen.

Prozesse der Lösung von extremistisch-islamistischen Ideologien, Gruppierungen und Verhaltensweisen (sog. kognitive und habituelle Deradikalisierung (10)) sind bisher noch deutlich weniger erforscht. Die Forschung zu Rechtsextremismus liefert jedoch Hinweise, dass für Loslösungsprozesse das zunehmende Alter der Akteure, Erschöpfung und der Wunsch nach Normalität eine Rolle spielen können; als bedeutsam erweisen sich hier auch berufliche Perspektiven, familiäre Gründe oder auch die Wahrnehmung von Widersprüchen zwischen den propagierten Zielen der Bewegung und dem Verhalten ihrer Protagonisten bzw. den Mitteln, die zum Verfolgen dieser Ziele eingesetzt werden. Die vorliegende Forschung zu Ausstiegen aus extremistischen Szenen verweist außerdem darauf, dass der Aufbau bzw. die Reaktivierung alternativer Sozialbezüge, Anerkennungserfahrungen in anderen Kontexten, aber auch der konsequente Abbruch von Szenekontakten sowie habituelle Veränderungen (z.B. das Ablegen von szenetypischer Kleidung) Distanzierungsprozesse befördern können. (11) Vereinzelt finden sich Hinweise, dass das religiöse Moment im Islamismus, insbesondere die Jenseitsorientierung und die damit verknüpften Versprechungen bzw. Drohungen, eine Loslösung zu erschweren vermag und insofern ein – im Vergleich mit anderen Extremismen – spezifisches Distanzierungshindernis sein könnte. (12)

II. Pädago­gi­sche Antworten der Distan­zie­rungs­a­r­beit

Dieser Komplexität und individuellen Unterschiedlichkeit von Hinwendungs- und Distanzierungsdynamiken begegnen Angebote, die junge Menschen bei einer Distanzierung vom gewaltorientierten Islamismus unterstützen wollen, mit Ansätzen und Methoden, die an den je spezifischen Fallkonstellationen ansetzen. Dabei lassen sich in der bisher etablierten Angebotslandschaft im Wesentlichen zwei Typen von Angeboten unterscheiden, die mit unterschiedlichen Hauptzielgruppen arbeiten:

a)  die Arbeit mit dem sozialen Nahfeld (potenziell) gefährdeter Personen und

b)  die direkte Arbeit mit Jugendlichen und jungen Menschen.

In der Praxis vermischen sich diese beiden Angebotstypen insofern, als einige Angebote beide Ansätze verfolgen. Darüber hinaus bieten viele Angebote zusätzlich zu ihren Kernaufgaben Fortbildungen für Multiplikator/innen und Informationsveranstaltungen an, die der Bekanntmachung der Angebote dienen, mit denen sie de facto aber auch generelle Aufklärungs- und Sensibilisierungsfunktionen im Themenfeld übernehmen (sog. „Universalprävention“).
Dennoch zeigt sich in den einzelnen Angeboten meist eine deutliche Schwerpunktsetzung in der Arbeit entweder mit dem sozialen Nahfeld oder mit den Jugendlichen (13) selbst. Diese beiden Angebotstypen sollen im Folgenden in ihren wesentlichen Handlungslogiken und Vorgehensweisen skizziert werden.

Präventionslogiken

Bei Angeboten, die mit dem sozialen Nahfeld arbeiten, bilden die sozialen und hier insbesondere die familiären Beziehungen der Jugendlichen den zentralen Ansatzpunkt der Arbeit. Zum einen gelten sie als Ressource im Distanzierungsprozess: Sie werden als bedeutsames „emotionales Band“ erachtet, das genutzt werden kann, um Jugendliche vor einer stärkeren Verstrickung in diese Szenen oder gar vor einer Ausreise zu bewahren (bzw. bei Jugendlichen, die bereits ausgereist sind, Rückkehrimpulse zu setzen). Zum anderen werden sie aber auch als potenzieller Bestandteil des Ursachengeflechts gesehen, aus dem heraus eine Anfälligkeit für islamistischen Extremismus erwachsen kann. Interpersonale, speziell familiäre Konflikte und hinwendungsfördernde Beziehungsdynamiken werden deshalb, sofern sie in der Begleitung erkennbar werden, selbst zum Gegenstand der Beratungsarbeit.

Die Arbeit beinhaltet deshalb zum einen ganz konkrete Verhaltenstipps, wie – in welcher Weise und mit welchen Inhalten – das Gespräch mit den betroffenen Jugendlichen aufrechterhalten bzw. wieder aufgenommen werden kann (diese Fragen sind vor allem bei ausgereisten Jugendlichen sowie bei Jugendlichen, die als konkret ausreisegefährdet gelten, von großer Bedeutung). Ein Schwerpunkt liegt aber auch darauf, gemeinsam mit den Beratungssuchenden bestehende Konflikte und problematische Beziehungsdynamiken herauszuarbeiten, Lösungen für einen alternativen Umgang zu entwickeln und die Kommunikation zwischen den Beteiligten wieder zu verbessern – und auf diese Weise das emotionale Band zwischen den Akteuren zu stärken. Dies kann auch bedeuten, dass Angehörige lernen, streng religiöse (aber nicht extremistische) Orientierungen und Praxen von Jugendlichen zu akzeptieren und einen konstruktiven Umgang damit zu finden.

Zum Teil fungieren Beratungssuchende aus dem sozialen Nahfeld zudem als „Mittelspersonen“, mit deren Hilfe tragfähige Alternativen (Freizeitangebote, Hilfen beim Einstieg in Ausbildung und Beruf etc.) für die Jugendlichen identifiziert und – unter Einbindung entsprechender Kooperationspartner – erschlossen werden. Anders als in der direkten Arbeit mit den Jugendlichen (s.u.) stehen derartige Unterstützungsaktivitäten jedoch nicht im Vordergrund der Arbeit.
Gearbeitet wird hier vor allem mit Eltern (insbesondere Müttern) und anderen Familienangehörigen, aber auch mit Freunden und in Einzelfällen – wenn eine enge Beziehung zu den Jugendlichen besteht – auch mit professionellen Akteurinnen/Akteuren (v.a. Lehrer/innen, Schulsozialarbeiter/innen) aus dem Umfeld der Jugendlichen.

In der direkten Arbeit mit Jugendlichen bildet die Annahme, dass jugendliche Hinwendungen zum gewaltorientierten Islamismus spezifische Bedürfnisse erfüllen und aus je spezifischen biografischen Erfahrungen und Konstellationen heraus erklärt werden müssen, einen wesentlichen Ausgangspunkt der Arbeit. Als relevante Einflüsse werden hier neben familiären Belastungen vor allem gesellschaftliche Marginalisierung und Diskriminierungserfahrungen, aber auch adoleszente Sinnsuche erachtet. Dementsprechend wird es als wesentlich angesehen, diese Bedürfnisse und Erfahrungen den Jugendlichen bewusst zu machen bzw. sie im gemeinsamen Gespräch zu bearbeiten. Davon ausgehend sollen Veränderungen angeregt und – auch unter Einbindung anderer professioneller Akteure – unterstützt werden. Maßnahmen können hier – je nach konkreter Fallkonstellation – die Erarbeitung sozialer Alternativen (z.B. Aufbau bzw. Reaktivierung von Beziehungen jenseits der Szene), das Erschließen von Zukunftsperspektiven (Unterstützung beim Übergang in Ausbildung und Beruf) sowie die Aufarbeitung biografischer Belastungen und erlebter Diskriminierungen umfassen. Weiteres Ziel und Bestandteil der Arbeit ist die Schwächung der ideologischen Bindung der Jugendlichen. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist hier die Beobachtung, dass die Jugendlichen in religiösen Fragen häufig unwissend sind. Durch Informationen über den Islam, Aufzeigen von verkürzten Auslegungen, Konfrontation mit Widersprüchen im eigenen Verhalten („Einpflanzen von Paradoxen“) sollen Unsicherheit und Zweifel ausgelöst und so Distanzierungsimpulse gesetzt bzw. verstärkt werden.

Zielgruppen sind junge Menschen, die sich in unterschiedlichsten Phasen der Hinwendung zu bzw. Involviertheit in gewaltorientierte, islamistische Strömungen befinden bzw. die von ihrer Umwelt entsprechend wahrgenommen werden (es deshalb aber nicht zwangsläufig auch sind!). Relevante Bezugspersonen und Akteure aus dem sozialen Umfeld in die Arbeit einzubeziehen, ist häufig auch (angestrebter) Bestandteil der Arbeit, aber im Zentrum steht die Arbeit mit den Jugendlichen selbst.

Gemeinsame Grund­prin­zi­pien und Kernele­mente der Arbeit

Trotz verschiedener Zielgruppen und damit verbundener unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen in Ursachenannahmen und Vorgehensweisen sind für die bisher etablierten Angebote eine Reihe gemeinsamer Kernelemente und Grundprinzipien kennzeichnend.

So sehen sich alle Angebote vor der Aufgabe zu entscheiden, ob in einem Fall, der ihnen zur Kenntnis gelangt, tatsächlich eine Hinwendung- und Radikalisierungsgefahr besteht, die eine längerfristige Begleitung durch ein entsprechendes Spezialangebot erforderlich macht. Bei dieser Falleinschätzung stützen sich die Akteure auf im Projekt vorhandenes (z.T. schriftlich fixiertes) Erfahrungswissen zu Gefährdungs- und Radikalisierungshinweisen, wobei die Einschätzung jeweils unter Einbeziehung der aktuellen Lebensumstände wie auch der biografischen Hintergründe erfolgt. Standardisierte Verfahren wie Checklisten kommen nicht zum Einsatz; in den etablierten Angeboten besteht Konsens darüber, dass keine eindeutigen Indikatoren bestimmbar seien und es stets der vertieften Betrachtung der konkreten Einzelfallkonstellation bedarf, um mögliche Hinweise einordnen zu können.

Damit Beratungswillige in eine Fallbetreuung aufgenommen werden, müssen allerdings nicht in allen Angeboten bereits inhaltliche Affinitäten oder soziale Bezüge der Jugendlichen zu problematischen Szenen erkennbar sein. In einigen Angeboten, die mit dem sozialen Nahfeld arbeiten, gilt eine für eine Betreuung relevante Gefährdungskonstellation auch dann als gegeben, wenn Jugendliche sich (nicht extremistischen) islamischen Überzeugungen und Glaubenspraxen zuwenden und ihr Umfeld, vor allem die Eltern, mit Ablehnung reagieren.

In der Fallbetreuung selbst haben in beiden Arbeitsfeldern biografisch orientierte Arbeitsweisen einen hohen Stellenwert. Die Auseinandersetzung mit den individuellen bzw. familiären Biografien der Beratungsnehmenden dient dabei zum einen der Analyse von Erfahrungshintergründen und Problemkonstellationen, die im konkreten Fall die Hinwendung zum gewaltorientierten Islamismus begünstigt und befördert haben (bzw. befördern könnten). Darauf aufbauend werden, ausgerichtet auf den jeweiligen Einzelfall, die Schwerpunkte der Betreuung einschließlich der evtl. Einbindung externer Hilfen (s.u.) bestimmt. Zum anderen ist die gemeinsame Thematisierung und Reflexion biografischer Erfahrungen ein zentraler Aspekt der Distanzierungsarbeit selbst: Durch das Bewusstmachen problematischer Erfahrungen und ihrer Zusammenhänge mit aktuellen Hinwendungsprozessen soll der Weg zu alternativen Umgangsweisen miteinander (Arbeit mit dem sozialen Nahfeld) bzw. zu weniger selbst- und fremdschädigenden Anerkennungsquellen und Zugehörigkeitsoptionen (direkte Arbeit mit jungen Menschen) freigelegt werden.

Die Einbindung externer Akteure in die Fallbetreuung sowie die damit verbundene Netzwerkpflege ist ein weiteres zentrales Element beider Ansätze. Bedeutsamen Stellenwert hat in beiden Angebotstypen die Zusammenarbeit mit therapeutischen Akteuren und Jugendämtern; vor allem dort, wo mit Jugendlichen gearbeitet wird, sind zudem Kooperationen mit Schulen, Berufsberatungsstellen und Sportvereinen sowie mit religiösen Autoritäten (Imamen, Moscheegemeinden) von hoher Relevanz. Sofern möglich und verfügbar werden außerdem (ideologisch nicht belastete) Freunde und andere Vertrauenspersonen involviert.

Zielgruppengewinnung

Deutliche Unterschiede zeigen sich dagegen in den angewandten Strategien der Zielgruppenansprache.

Ansätze, die mit dem sozialen Nahfeld arbeiten, sind darauf angewiesen, dass sich die Beratungssuchenden selbst – per Telefon oder E-Mail – bei ihnen melden, teilweise existieren Hotlines, die für mehrere Angebote eine Anlauf- und Weitervermittlungsfunktion übernehmen. Um das Angebot bekannt zu machen, ist Öffentlichkeitsarbeit in Form von Internetauftritten, Flyern und gezielter Medienarbeit, aber auch durch Vernetzung mit lokalen Akteuren des Bildungs- Jugendhilfe und Sozialsystems und mit Sicherheitsbehörden ein wichtiger Bestandteil dieser Arbeit. 

Auch in der direkten Arbeit mit jungen Menschen ist die Kontaktaufnahme durch die Ratsuchenden selbst ein möglicher Weg der Zielgruppengewinnung. Angebote, die auf diesen Zugang setzen, bieten in der Regel ein breiteres Beratungs- und Hilfespektrum jenseits der Extremismusproblematik (z.B. Beratung zu Diskriminierungserfahrungen oder zu Religion allgemein) an, um für junge Menschen als Ansprechpartner attraktiv zu sein. Außerdem sind sie bestrebt, das Angebot über eine Präsenz im Sozialraum potenzieller Zielgruppen, etwa über Aktivitäten der Jugendsozialarbeit (durch das Angebot selbst oder durch seinen Träger) bekannt zu machen. Eine weitere praktizierte Strategie ist eine pro-aktive Ansprache von Jugendlichen durch die Angebote. In diesen Fällen treten die Mitarbeitenden eines Beratungsangebots an Jugendliche heran, die ihnen – seitens des sozialen Umfelds, aber auch von Sicherheitsbehörden – als „problematisch“ gemeldet werden und versuchen, diese für eine Zusammenarbeit zu gewinnen.

III. Erfahrungen

Aufgrund der Erfahrungen, die mit den skizzierten Ansätzen gesammelt wurden, lassen sich erste Schlussfolgerungen in Bezug auf gelingende Aspekte dieser Arbeit wie auch auf ungelöste Herausforderungen bzw. Begrenzungen aktueller Vorgehensweisen ziehen.

Zielgruppenerreichung

Die in den Interviews gemachten Angaben und geschilderten Fälle verweisen darauf, dass mit den aktuell praktizierten Zugängen Jugendliche in unterschiedlichen Phasen der Affinisierung und Einbindung in islamistische Szenen sowohl indirekt – über die Arbeit mit dem sozialen Nahfeld – als auch direkt erreicht werden. (14)

So verzeichnen Angebote, die mit dem sozialen Nahfeld arbeiten, inzwischen ein sehr hohes Meldeaufkommen. Meldungen erfolgen zudem frühzeitiger bzw. aufgrund weniger spezifischer Hinweise als in der Anfangszeit der Arbeit, als Fälle häufig erst gemeldet wurden, wenn Ausreisen kurz bevorstanden oder bereits stattgefunden hatten.
Zugänge gelingen aber auch über beide praktizierten Wege in der direkten Arbeit mit Jugendlichen. Dabei hat es sich in verschiedener Hinsicht als bedeutsam erwiesen, dass die Angebote bzw. die Mitarbeitenden bei der Ansprache der Jugendlichen Bezüge zu deren Lebenswelten aufweisen oder herzustellen vermögen.

So ist es für einen gelingenden Erstkontakt und für den Vertrauensaufbau förderlich, wenn Jugendliche bei Projektmitarbeitenden einen gemeinsamen Erfahrungshorizont wahrnehmen bzw. voraussetzen können. Besonders betonen die Befragten in diesem Zusammenhang die Bedeutung eines Migrationshintergrundes oder muslimischen Hintergrundes von Fachkräften; einzelnen Akteuren zufolge vermag aber auch eine lebensweltliche Nähe aufgrund von Alter und (jugendkulturellem) Habitus entsprechende Brücken zu schlagen. Das Geschlecht der Mitarbeitenden ist erfahrungsgemäß im Zugang zu männlichen Jugendlichen nicht entscheidend; als hoch relevant erweist sich jedoch für die Erreichung von (und Arbeit mit) Mädchen und jungen Frauen, dass es weibliche Ansprechpartnerinnen in den Angeboten gibt.

Zudem gelingt es mit der Strategie einer bedürfnis- und lebensweltorientierten Ansprache (breiteres Beratungsspektrum, Präsenz im Sozialraum) dass sich Jugendliche auch aus eigener Initiative an die Angebote wenden. D.h. mit entsprechend ausgerichteten Angeboten können Jugendliche auch ohne Vermittlung über hinweisgebende Dritte erreicht werden. (15) Im Gesamtfeld der etablierten Angebotspraxis wird dieser Zugang allerdings nur von einer Minderheit von Angeboten praktiziert; der Großteil der – direkt oder indirekt – betreuten Fälle kommt über Fallmeldungen von Dritten zustande.

Insgesamt wird im Rahmen der etablierten Ansätze den Interviewangaben zufolge ein Spektrum von (potenziell) Einstiegsgefährdeten über stärker Involvierte und Ausreisewillige bis hin zu Rückkehrern erreicht. Zu den jeweiligen Anteilen dieser Gruppen sind für die Arbeit mit dem sozialen Nahfeld keine Angaben verfügbar; in der direkten Arbeit mit Jugendlichen zeigt sich ein stärkerer Schwerpunkt auf Jugendlichen im Annäherungsprozess (u.a. auch deshalb, weil ein Teil der Angebote nicht mit Rückkehrern, z.T. auch nicht mit stark Involvierten arbeitet).

Distan­zie­rungs­er­folge

Nicht immer gelingt es allerdings, nach einer Kontaktaufnahme auch produktive Arbeitsbeziehungen aufzubauen. So sind einige Eltern nicht bereit, sich auf eine (kritische) Thematisierung der eigenen Familienstrukturen einzulassen und brechen die Beratung ab; umgekehrt beenden in manchen Fällen auch Berater/innen eine Fallbetreuung, wenn aus ihrer Sicht keine ausreichende Mitwirkungs- und Veränderungsbereitschaft bei den Angehörigen besteht. Auch können dort, wo Arbeitsbeziehungen etabliert wurden, nicht immer Ausreisen verhindert oder sonstige Stabilisierungs- und Distanzierungsprozesse erreicht werden.

Doch können alle Befragten von positiven Entwicklungen und Erfolgen berichten, zu denen es im Rahmen von Fallbetreuungen kam. Genannt werden Annäherungen an problematische Gruppierungen und Personen, die unterbrochen wurden sowie Ausreiseabsichten, die (bisher) nicht realisiert wurden, aber auch die Verbesserung potenziell hinwendungsfördernder Konfliktsituationen. In Einzelfällen konnte auch das Zurückholen ausgereister Jugendlicher erfolgreich unterstützt werden.

Hinsichtlich der Stabilität der erreichten Distanzierungserfolge sind die Aussagen allerdings insgesamt eher zurückhaltend. So wird in der Regel nicht von „abgeschlossenen“, sondern nur von „ruhenden“ Fällen gesprochen, in denen für den gegenwärtigen Zeitpunkt nicht von einer Selbst- und Fremdgefährdung ausgegangen werden muss.

Familien als Ressource

Als bedeutsame Ressource für die Arbeit in diesem Handlungsfeld haben sich die Familien, vor allem Eltern (und hier insbesondere Mütter) erwiesen. Sie sind zum einen die größte fallmeldende Gruppe und damit sowohl in der Arbeit mit dem sozialen Nahfeld wie auch in Angeboten, die Jugendliche aufgrund von Fallmeldungen kontaktieren, von entscheidender Bedeutung für den Zielgruppenzugang. Zum anderen zeigen Familienangehörige in diesem Arbeitsfeld – anders als etwa in der Arbeit zu Rechtsextremismus, wo die Familie häufig als nicht verfügbare Ressource geschildert wird – eine relativ hohe Mitwirkungsbereitschaft. Sie sind deshalb auch ein wichtiger Ansatzpunkt und Partner in der Fallbetreuung selbst. Als besonders bedeutsam erweisen sich der Zugang über die Familie und die Arbeit über die familiäre Bindung bei ausgereisten Jugendlichen, die über andere Wege nicht mehr erreichbar sind.

Begren­zungen und Schwie­rig­keiten

Die zentrale Rolle, die Familien im Zugang spielen, verweist zugleich auf Zielgruppen, die durch das etablierte Angebotsspektrum bisher weniger gut erreicht werden. Dazu gehören Jugendliche, deren Familien kein Problem mit ihren Orientierungen haben (diese ggf. sogar teilen) oder – wie etwa im Fall unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge – in ihrem Leben nicht (mehr) präsent sind. Der Ansatz, über die Familien indirekt jugendliche Distanzierungsprozesse zu unterstützen, stößt darüber hinaus dort an Grenzen, wo Familien nicht bereit oder (z.B. aufgrund kultureller, sprachlicher, schichtbedingter Barrieren) nicht in der Lage sind, sich auf den – für die Arbeit mit dem sozialen Nahfeld zentralen – Ansatz der (kritischen) Reflexion eigener familiärer Verhältnisse einzulassen.

Zudem gilt die gute Erreichbarkeit von Angehörigen nicht für alle Bevölkerungsgruppen. So sind unter den Meldenden Eltern von Konvertiten stark überproportional vertreten, d.h. Jugendliche aus muslimischen Familien werden über diesen Zugang deutlich weniger erreicht. Mögliche Gründe hierfür könnten sprachliche Zugangsbarrieren sein, aber auch höhere Hemmschwellen seitens muslimischer Familien, Hilfsangebote zu diesem Thema zu nutzen – zumal, wenn diese durch die Mehrheitsgesellschaft offeriert werden. (16)

Aber auch in der Fallbetreuung weist die Arbeit über Familien – neben den genannten Stärken des Ansatzes – spezifische Begrenzungen auf. So beinhaltet die über die Elternperspektive vermittelte Sicht auf den Jugendlichen bzw. auf die Fallkonstellation eben auch, dass andersgelagerte Problematiken jenseits des familiären Rahmens, ebenso wie andere Perspektiven und Relevanzsetzungen der Jugendlichen, weniger gut in den Blick geraten.

Außerdem erscheint der Ansatz, Distanzierungen von extremistischen Milieus über eine Stärkung familiärer Bindungen und die Re-Integration in familiäre Systeme zu erreichen, zwar in akuten Gefährdungssituationen plausibel; doch steht diese Zielstellung auch in einem Spannungsverhältnis zu adoleszenten Ablösungsdynamiken und -notwendigkeiten, weshalb sie möglicherweise nicht in allen Fällen die geeignetste Antwort darstellt.

Diese Schwierigkeiten stellen sich in Ansätzen, die direkt mit Jugendlichen arbeiten, so nicht. Diese Ansätze können zudem, sofern sie Wege der Ansprache jenseits des Elternhauses nutzen, Zugänge auch zu anderen, über den elternzentrierten Ansatz bisher weniger gut erreichten Zielgruppen eröffnen. Das gilt insbesondere dann, wenn sie in Sozialräumen mit entsprechenden Bevölkerungsgruppen angesiedelt sind. Allerdings ist anzunehmen, dass diese Ansätze eine vergleichsweise kleinere betreuungsrelevante Zielgruppe erreichen bzw. diese zu erreichen im Rahmen dieser Ansätze vergleichsweise zeit- und ressourcenintensiver ist. (17) Die bisher in der Arbeit mit jugendlichen Zielgruppen praktizierten Ansätze geraten außerdem dort an Grenzen, wo Jugendliche nicht im lokalen Sozialraum erreichbar sind – entweder weil sie öffentliche Räume und öffentlich zugängliche Angebote (noch) nicht nutzen oder nur wenig nutzen (Mädchen aus traditionellen, streng religiösen Familien, jugendliche Flüchtlinge), oder weil sie in diesen Räumen nicht mehr erreichbar sind (Ausgereiste).

Spezifische Heraus­for­de­rungen des Handlungs­feldes

Vergleicht man die bisher entwickelten Ansätze in diesem Handlungsfeld mit der seit vielen Jahren praktizierten Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit im Feld des Rechtsextremismus, dann zeigen sich deutliche Parallelen hinsichtlich Präventionslogiken und zu bearbeitender Herausforderungen. (18) Die Arbeit kann deshalb in verschiedener Hinsicht von den Erfahrungen profitieren, die in der Arbeit mit rechtsextrem orientierten bzw. gefährdeten Jugendlichen gesammelt wurden. (19) Allerdings ist dieses Handlungsfeld auch durch Spezifika geprägt, die Praktiker/innen vor eigene Herausforderungen stellen.

Zu nennen ist hier zunächst die territoriale Distanz der IS-Kampfgebiete, die Praxisakteure nicht nur mit spezifischen Schwierigkeiten konfrontiert, wenn Jugendliche ausgereist und somit nicht mehr direkt erreichbar sind (s.o.). Die räumliche Entfernung, verbunden mit der starken Abschottung und Kontrolle dorthin Ausgereister, stellt auch eine besondere Schwierigkeit in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit gefährdeten Jugendlichen dar, da sie den Wahrheitsgehalt der IS-Propaganda über die dortigen Lebensbedingungen nur schwer überprüfbar macht. In den sozialen Medien verbreitete positive Berichte über das Leben unter IS-Herrschaft genießen unter den Jugendlichen häufig hohe Glaubwürdigkeit, zumal wenn sie von gleichaltrigen Ausreisenden verfasst wurden. Praktiker/innen fällt es demgegenüber schwer, diese Aussagen zu entkräften, da ihnen keine vergleichbare Authentizität zugebilligt wird.

Als besondere Herausforderung und Distanzierungshemmnis erweist sich zudem der Jenseitsbezug der Ideologie, da sich die in Aussicht gestellten Belohnungen bzw. Bestrafungen in einem „Leben nach dem Tod“ ebenfalls einer Überprüfung und damit möglichen Widerlegung entziehen. Insbesondere zu diesen Themen hat es sich als hilfreich erwiesen, wenn Fachkräfte entweder selbst über fundiertes religiöses Wissen verfügen oder aber dieses Wissen durch Externe einbinden, um die Legitimität islamistischer Islamauslegungen glaubhaft hinterfragen zu können.

Nicht zuletzt ist als ein Spezifikum eine im Vergleich zum Rechtsextremismus erhöhte Gefährdungswahrnehmung zu nennen, die dieses Handlungsfeld prägt. Diese speist sich aus der Ausreiseoption und den damit verbundenen Gefahren für die Jugendlichen, aus einer erhöhten (auch medial vermittelten) gesellschaftlichen Bedrohungswahrnehmung infolge der jüngsten Terroranschläge, aber auch aus aktuell stark polarisierten Debatten um „Einwanderung“ und „Islam“, die dieses Wahrnehmung mit befeuern und denen viele Fachkräfte im Hinblick auf Hinwendungs- und Radikalisierungsprozesse zugleich selbst ein hohes Gefährdungspotenzial zuweisen. Diese hohe Gefährdungswahrnehmung schlägt sich einerseits in einem erhöhten Meldeverhalten und einer vergleichsweise größeren Mitwirkungsbereitschaft bestimmter Akteure nieder; sie erzeugt andererseits aber auch einen erhöhten Verantwortungs- und Handlungsdruck gegenüber den Angeboten bzw. ihren Mitarbeitenden.(20)

IV. Fazit und Ausblick

In relativ kurzer Zeit haben sich in diesem hoch komplexen Handlungsfeld Angebotsstrukturen entwickelt, in denen mit oft begrenzten Ressourcen ein insgesamt beachtliches Aufgabenspektrum bewältigt wird. Angebote der Distanzierungsarbeit leisten De-Eskalationsarbeit in familiären Situationen, die problematische Entwicklungen vorantreiben könnten, setzen sich mit Jugendlichen selbst, ihren Überzeugungen und Erfahrungen auseinander, unterstützen bei sozialer und beruflicher Integration, leisten akute Krisenintervention bei Ausreisegefährdeten, begleiten Bemühungen, Ausgereiste zurückzuholen und betreuen Familien, deren ausgereiste Kinder umgekommen sind. Darüber hinaus leisten sie durch Aufklärungs- und Informationsarbeit einen Beitrag zu Bestrebungen, für problematische Entwicklungen zu sensibilisieren, aber auch unbegründete Befürchtungen sowie Vorbehalte gegenüber dem Islam abzubauen. 

Die mit dieser Arbeit gewonnenen Erfahrungen zeigen, dass es unterschiedlicher Ansätze und Zugänge bedarf, um die verschiedenen in diesem Handlungsfeld relevanten Zielgruppen zu erreichen und den divergierenden Anforderungen in der Arbeit mit diesen Rechnung zu tragen. Die in den letzten Jahren etablierten Ansätze der Arbeit mit dem sozialen Nahfeld und der direkten Arbeit mit Jugendlichen besitzen hier je spezifische Stärken und können jeweils mit Blick auf ihre Zielstellungen Erfolge aufweisen.

Als Herausforderung für die zukünftige Arbeit kristallisiert sich vor allem heraus, Zugänge zu bestimmten, bisher weniger gut erreichten Zielgruppen zu verbessern. In der Arbeit mit dem sozialen Nahfeld gilt es zu diesem Zweck, Zugangsbarrieren und bestehende Hemmschwellen muslimischer Familien bzw. von Familien mit Migrationshintergrund gegenüber den Angeboten weiter abzubauen. Mögliche Ansatzpunkte könnten eine verstärkte Vernetzung mit religiösen und ethnischen Communities und die Einbindung sogenannter „Brückenpersonen“ in der Ansprache sein oder auch die Realisierung von Tandemprojekten mit Akteuren aus diesen Communities. Auch wäre zu prüfen, ob die Auffindbarkeit von Angeboten im Internet bei Suchen in nichtdeutscher Sprache ggf. noch verbessert werden könnte. In der direkten Arbeit mit Jugendlichen wären zum einen solche Ansätze breiter auszubauen und längerfristiger zu verankern, die (potenziell) gefährdete Zielgruppen über andere jugendliche Sozialisationsräume jenseits des Elternhauses (Freizeit- und peer-Kontexte; Moscheegemeinden) zu erreichen suchen. (21) Um Zielgruppen zu erreichen, die über diese Ansätze nicht ansprechbar sind, erscheint es zudem lohnend, Ansätze zu erproben, die aufsuchende Zugänge über das Internet ausloten und diese mit Betreuungsformaten im nicht-virtuellen Raum verknüpfen (22). Gefragt sind außerdem Ansätze, mit denen jugendliche Flüchtlinge erreicht werden können und die einerseits den spezifischen Anforderungen dieser Zielgruppe Rechnung tragen, andererseits der Stigmatisierungsgefahr, die mit einer gezielten Adressierung verbunden sein kann, konzeptionell Rechnung tragen.

Derartige Ansätze der direkten Arbeit mit jungen Menschen stärker auszubauen, könnte nicht nur ein Beitrag sein, um Zugang zu bisher weniger gut erreichten Zielgruppen zu erhalten; es erscheint auch deshalb lohnenswert, weil diese Arbeit andere Handlungsoptionen im Umgang mit adoleszenzspezifischen Dynamiken birgt.
Um den medialen Versprechungen der IS-Propaganda glaubwürdig entgegentreten zu können, könnten außerdem die Erfahrungen von Rückkehrenden eine mögliche Ressource sein. Angesichts widersprüchlicher Erfahrungen mit der Einbindung rechtsextremer Aussteiger in die Distanzierungsarbeit (23) wäre allerdings zu prüfen, ob und wie solche Erfahrungsberichte in die pädagogische Arbeit mit gefährdeten Jugendlichen eingebunden werden können.

MICHAELA GLASER   Jahrgang 1966, studierte Soziologie und Politik in Freiburg. Nach ihrem Studium war sie freie Mitarbeiterin u.a. beim SPD-Landesverband Berlin und der Heinrich-Böll-Stiftung, von 2000 bis 2003 Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Institut für Stadtplanung und Sozialforschung Weeber+Partner in Berlin. Seit 12/2003 ist sie wissenschaftl. Referentin im Deutschen Jugendinstitut, Außenstelle Halle, wo sie seit Januar 2011 die Projektleitung der Arbeits- und Forschungsstelle Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit inne hat.

CARMEN FIGLESTAHLER   studierte Soziologie, Ethnologie und VWL an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Von 2010 bis 2015 hielt sie ein Promotionsstipendium an der Universität Kassel. Seit 2015 ist sie wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut in Halle.

Literaturverzeichnis

Arbeits- und Forschungsstelle Rechtsextremismus und Radikalisierungsprävention (2015): Expertenfachgespräch ‚Politische Extremismen im Netz – Herausforderungen für die Jugendhilfe‘ – erste Ergebnisse, abrufbar unter http://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2016/Fachgespr%C3A4ch_Politische_Extremismen_im_Netz_Erste _Thesen.pdf.

Bundesamt für Verfassungsschutz/Bundeskriminalamt/Hessisches Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus (2014): Analyse der den deutschen Sicherheitsbehörden vorliegenden Informationen über die Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien ausgereist sind, abrufbar unter www.innenministerkonferenz.de/IMK/DE/termine/to-beschluesse/14-12-11_12/anlage-analyse.pdf?__blob=publica tionFile&v=2 (04.08.2016).

De Koning, M. (2009): Changing Worldviews and Friendship. An exploration of the life stories oft two female salafists in the Netherlands. In: Meijer, R. (Hrsg.), Global salafism. Islam’s new religious movement. London: Hurst & Co, S. 372-392.

Glaser, M. (2016a): Gewaltorientierter Islamismus im Jugendalter. Eine Diskussion vorliegender Erkenntnisse zu Hinwendungsmotiven und Attraktivitätsmomenten für junge Menschen. In: Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis (KJug), 61. Jg., H. 1, S. 3-7.

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Horgan, J. (2008): Deradicalization or disengagement? A process in need of clarity and a counterterrorism initiative in need of evaluation, in: Perspectives on Terrorism II, S. 3–8.

Langner, J. (2016): Hinwendung und Radikalisierung junger Menschen zum gewaltorientierten Islamismus. Aufarbeitung des Forschungsstandes, Halle: DJI. (unveröff. Manuskript).

Neumann, P. (2013): Radikalisierung, Deradikalisierung und Extremismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Heft 29–31/2013, S. 4 ff.

Pisoiu, D., Koehler, D. (2013). Individuelle Loslösung von Radikalisierungsprozessen. Stand der Forschung und eine Überprüfung bestehender Theorien anhand eines Ausstiegsfalls aus dem militanten Salafismus. In: Journal Exit-Deutschland. Zeitschrift für Deradikalisierung und demokratische Kultur, S. 241–274.

Schmid, A.P. (2013). Radicalisation, De-Radicalisation, Counter-Radicalisation: A conceptual discussion and literature review. International Center for Counter-Terrorism. Den Haag.

Sinclair, K. (2010): The Caliphate as Homeland: Hizb ut-Tahrir in Denmark and Britain. University of South Denmark, abrufbar unter http://static.sdu.dk (29. 04.2015)

Wiktorowicz, Q. (2005): Radical Islam Rising: Muslim extremism in the West. Lanham: Rowman & Littlefield.

Anmerkungen

1 Bisher besteht kein Konsens, wie extremistische, gewaltbefürwortende Strömungen, die sich über eine bestimmte Auslegung des Islams legitimieren, angemessen zu bezeichnen sind. In der Diskussion sind u. a. Begriffe wie (Neo)Salafismus, Dschihadismus, religiös begründeter Extremismus, die allerdings mit je spezifischen Engführungen und Ungenauigkeiten verbunden sind. Mangels überzeugender Alternativen wird hier der Begriff „gewaltorientierter Islamismus“ verwendet – auch wenn die Nähe zum „Islam“-Begriff ebenfalls Schwierigkeiten birgt (zu den unterschiedlichen Begriffen siehe auch Glaser et al. (2015).

2 Im Folgenden verwenden wir den Begriff »Radikalisierung« – in Orientierung an etablierten Definitionen (vgl. Schmid 2013) – für jene Prozesse der Annäherung an radikale und extremistische Strömungen, die bei Individuen mit einer Ausbildung beziehungsweise Übernahme polarisierter Einstellungen und/oder gewalthaltiger Handlungsweisen einhergehen. Davon unterscheiden wir Annäherungen an entsprechende Gruppierungen, die aus anderen (etwa sozialen) Motiven und Intentionen heraus erfolgen und (noch) nicht ideologisch-weltanschaulich begründet sind bzw. mit erhöhter Gewaltbereitschaft einhergehen. Um diese Dimensionen mit zu erfassen, wird im Folgenden für die Gesamtheit der diskutierten Annäherungsbewegungen der – hinsichtlich der Motive offenere – Begriff »Hinwendungsprozesse« verwendet.

3 Dieser Beitrag stützt sich auf Interviews, die in 2015 und 2016 mit Praxisakteuren im Handlungsfeld geführt wurden. Befragt wurden Akteure, die zum Interviewzeitpunkt bereits mindestens zwei Jahre in diesem Arbeitsfeld aktiv waren. An der Erhebung wirkte außer den Autorinnen Maruta Herding mit, Alexander Leistner steuerte Interviews bei. Die folgende Darstellung des Forschungsstandes zum Phänomen stützt sich in relevanten Teilen auf eine Aufarbeitung desselben, die von Joachim Langner geleistet wurde (vgl. Langner 2016).

4 Vgl. auch Glaser 2016a.

5 Eine Darstellung der hier relevanten Studien würde den Umfang dieses Beitrags sprengen. Die folgenden Autorenangaben sind deshalb sehr selektiv, für einen etwas ausführlicheren Überblick vgl. Herding/Langner/Glaser 2015 sowie Glaser 2016.

6 Vgl. z.B. De Koning 2009

7 Vgl. z.B. Wictorowicz 2005

8 Bundesamt für Verfassungsschutz u.a. 2014

9 Vgl. De Koning 2009; Sinclair 2010; Hemmingsen 2010

10 Vgl. Horgan 2008, Neumann 2013

11 Vgl. Schmid 2013; Pisoiu/Köhler 2013

12 Vgl. Sinclair 2010

13 Das Altersspektrum der direkt oder indirekt durch die Arbeit erreichten (potenziell) gefährdeten Personen umfasst in beiden Angebotstypen eine Spanne von ca. 12 bis 30 Jahren, d.h. es reicht von Kindern bis zu jungen Erwachsenen. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf Jugendlichen, die zwischen 15 und 19 Jahren alt sind. Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden deshalb für die adressierten bzw. erreichten Zielgruppen der Begriff „Jugendliche“ verwendet.

14 Konkrete Fallzahlen lassen sich auf der Datengrundlage nicht benennen. Das liegt zum Teil an unterschiedlichen Zählweisen der Angebote (die Differenzierung zwischen Fallmeldungen bzw. Beratungsanfragen und längerfristigen Fallbetreuungen betreffend); zum Teil waren Angaben über Fallzahlen auch nicht verfügbar.

15 Bei Angeboten, die in ihrem Beratungsfokus enger auf die Problematik ausgerichtet sind und vor allem auf klassische Formen der Öffentlichkeitsarbeit setzen, melden sich Jugendliche dagegen kaum oder gar nicht.

16 Der hohe Anteil von Meldungen aus Familien von Konvertiten dürfte allerdings auch durch eine erhöhte Meldebereitschaft nicht-muslimischer Eltern zumindest mit bedingt sein. So finden sich in dieser Meldegruppe auch Eltern, die sich an die Beratungsstellen wenden, weil ihr Kind Interesse an (nicht extremistischer) muslimischer Religiosität zeigt.

17 Diese Einschätzung stützt sich auf Erfahrungswerte aus dem Handlungsfeld „Rechtsextremismus“ zur Kooperationsbereitschaft von Jugendlichen in der Hinwendungsphase, aber auch auf den Umstand, dass die erfolgversprechenden Wege der Ansprache in diesem Handlungsfeld sehr viel aufwendiger sind.

18 Vgl. Glaser 2016b.

19 Vgl. zu dieser Arbeit Glaser/Greuel/Hohnstein 2014 sowie Hohnstein/Greuel 2015.

20 Dies dürfte auch mit ein Grund dafür sein, dass viele Akteure in diesem Handlungsfeld große Zurückhaltung zeigen, wenn es darum geht, Personen als „nicht gefährdet“ oder Fälle als „nicht mehr betreuungsrelevant“ einzustufen.

21 Vereinzelt werden entsprechende Ansätze im 2015 neu aufgelegten Bundesprogramm „Demokratie Leben!“ realisiert: einige Modellprojekte, die mit (potenziell) gefährdeten bzw. bereits affinen Jugendlichen arbeiten, versuchen dort gezielt, Zugänge zu diesen Jugendlichen beispielsweise über Moscheegemeinden oder jugendhilfliche Kontexte aufzubauen.

22 Vgl. Arbeits- und Forschungsstelle Rechtsextremismus und Radikalisierungsprävention 2015

23 Vgl. Glaser/Hohnstein/Greuel 2014

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