Sein und (Heiligen-)Schein in Indonesien
Zur Lage der Religionsfreiheit in der größten islamischen Gesellschaft der Welt. In: vorgänge Nr. 217 (Heft 1/2017), S. 21-29
Indonesien galt lange Zeit als das Vorzeigebeispiel interreligiöser Harmonie und Beleg dafür, dass religiöse Toleranz auch in muslimisch geprägten Gesellschaften funktioniere. Diese Einschätzung ist nach Meinung von Alex Flor richtig und falsch zugleich. Er geht in seinem Beitrag auf die Eskalation interreligiöser Konflikte ein, die das Land seit dem Ende der Suharto-Diktatur prägte.
Indonesien ist ein Staat der Superlative: gemessen an der Bevölkerungszahl der viertgrößte Staat, die drittgrößte Demokratie und nicht zuletzt der Staat mit der größten muslimischen Bevölkerung weltweit. Fast 90% der 260 Mio. EinwohnerInnen bekennen sich offiziell zum Islam. Keine der in Europa als islamisch wahrgenommenen Gesellschaften der arabischen Staaten, des Iran oder der Türkei reicht auch nur annähernd an diese Zahlen heran. Andererseits übertrifft die kleine Minderheit von Katholiken, die in Indonesiens Hauptstadt Jakarta leben, zahlenmäßig die katholischen EinwohnerInnen der Domstadt Köln. In bestimmten Regionen Indonesiens stellen evangelische oder katholische Christen die Mehrheit, in Bali dominiert der Hinduismus. Indonesien ist ein Vielvölkerstaat mit einer Unzahl unterschiedlicher Ethnien, Kulturen, Sprachen und Religionen.
Erbe des Kolonialismus
Diese Vielfältigkeit ist ein Erbe des Kolonialismus. Die heutige Republik Indonesien ist Resultat einer Unabhängigkeitsbewegung, die sich zum Ziel gesetzt hatte, sämtliche von den Niederlanden beherrschten Gebiete vom Joch des Kolonialismus zu befreien und unter einem Dach zu vereinen. Sie bezog sich dabei auf den „Schwur der Jugend“, eine nationale Bewegung von 1928, deren Motto lautete: „Ein Land, eine Nation, eine Sprache“. Dass die einst als „Niederländisch Ostindien“ zusammengeraubten Gebiete des Inselreiches außer der gemeinsamen Kolonialmacht wenig bis keine verbindenden Elemente aufzuweisen hatten, nahmen die Gründer der Republik in Kauf.
Keine der heute anerkannten Religionen Indonesiens basiert auf einheimischen Wurzeln. Aus frühen Kontakten mit Indien wurden der Hinduismus und der Buddhismus übernommen. Als Mehrheitsreligion hat sich der Hinduismus nur auf Bali erhalten. Dennoch spielen die großen Epen des Mahabharata und des Ramayana, vor allem auch in der Kultur Javas, bis heute eine tragende Rolle. Handelsbeziehungen mit islamischen Partnern, etwa aus dem indischen Gujarat und aus China, sorgten für die Verbreitung des Islam.
Das Intermezzo der portugiesischen Herrschaft hinterließ seine Spuren vor allem auf der Insel Flores, die bis heute fest in katholischer Hand ist. Die niederländische Kolonialherrschaft schließlich gab in ausgewiesenen Regionen Raum für protestantische Missionsgesellschaften, deren Vertreter nicht zuletzt aus Deutschland stammten. Zwar scheiterten die ersten Missionsversuche in Nordsumatra kläglich. Das dort ansässige Volk der Batak wehrte sich gegenüber jedem Einfluss von außen. Es bedurfte eines zweiten Anlaufs durch den deutschen Missionar Ludwig Ingwer Nommensen, einen Pietisten, der wegen seiner konservativen Anschauungen schon damals nicht mehr ins Muster der evangelischen Kirchen in Deutschland zu passen schien. Bis zu seinem Tode 1918 bekannten sich rund 180.000 Menschen in der Region zum Christentum. Heute ist der protestantische Glaube die dominierende Religion unter den Batak. Nommensen wird von ihnen verehrt wie ein Prophet, eine große Universität trägt seinen Namen – während ihn in Deutschland kaum jemand mehr kennt.
Toleranz und Synkretismus
Der Erfolg aller ins heutige Indonesien vorgedrungenen Religionen lag in der Fähigkeit der Menschen, den neuen Glauben nicht in Widerspruch zur bisher gelebten Tradition und Weltanschauung zu stellen, sondern – die Harmonie suchend – das Alte mit dem Neuen zu verbinden. Wichtige Rituale des adat (traditionelle Gewohnheiten und Riten) mussten nicht komplett aufgegeben werden, sondern wurden soweit wie möglich in Einklang mit der neuen Religion gebracht. Das gelang nicht immer zur hundertprozentigen Zufriedenheit von Überbringern der reinen Lehre. Aber wo diese nicht in Form synkretistischer Kompromisse zufriedengestellt werden konnten, wurden bestimmte als wichtig erachtete Riten als „rein kulturelle“ Gebräuche außerhalb der Religion oder gar heimlich weiter gepflegt.
So gedieh in Java (in etwa die heutigen Provinzen Zentral- und Ostjava sowie DKI Yogyakarta umfassend) über hunderte von Jahren eine Glaubensrichtung, die als abangan bezeichnet wird. Abangan bedeutet grob dargestellt: die Leute bekennen sich eindeutig zum Islam, bewahren sich aber andererseits den Glauben an bestimmte, die javanische Kultur prägende Mystizismen, die sich wiederum zum Teil auf alte animistische oder hindu-buddhistische Ursprünge beziehen.
Obgleich auch andere Völker und Religionen Indonesiens ähnliche Merkmale aufzeigen, so war und ist es vor allem die zahlenmäßig dominante Kultur der abangan in Java, die bis heute das Bild der „religiösen Toleranz“ Indonesiens prägt. Als Beleg muss häufig genug die Nahdlatul Ulama (NU) herhalten, die mit rund 40 Mio. Mitgliedern größte muslimische Organisation der Welt. Häufig mit NU in einem Atemzug genannt wird die Muhammadiyah, eine „modernistische“ (sprich: außerhalb des Islam als eher konservativ zu verstehende) islamische Massenorganisation mit fast ebenso vielen Mitgliedern. Die Muhammadiyah gibt sich staatstragend und steht damit gegen jegliche religiöse Radikalisierung. Äußerungen einzelner prominenter Mitglieder gehen nicht immer mit diesem Bild konform. Mitunter scheint es schwer zu fallen, sich von bestimmten Strömungen und Einzelpersonen zu distanzieren. Eine solche Distanzierung würde – so die Befürchtung – die Einigkeit der Umma, der weltweiten Glaubensgemeinde aller Brüder und Schwestern im Islam, infrage stellen. Beiden Organisationen gemeinsam ist, dass sie überwiegend auf der Insel Java verankert sind.
Keine Toleranz
Ähnlich wie bei den Batak in Nordsumatra werden auch in Westpapua zwei deutsche Missionare, Carl Wilhelm Ottow und Johann Gottlob Geißler, wie Propheten verehrt. Die beiden landeten 1855 auf Mansinam, einer Insel nahe der heutigen Provinzhauptstadt Manokwari. Nach Ansicht vieler indigener Papua brachten sie Licht ins Dunkel einer finsteren Vergangenheit. Tatsächlich gelang es der Mission über mehr als hundert Jahre hinweg, nicht nur das Evangelium zu verbreiten, sondern auch blutige Stammeskriege zu beenden und ein Mindestmaß an Bildung und Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Erst in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts konnte Indonesien seine Gebietsansprüche auf Westpapua in die Tat umsetzen, welches sich bis dahin noch unter niederländischer bzw. internationaler Kontrolle befand.
Seither heißt der Feind vieler Papua Indonesien. Der Staat beansprucht zwar das ressourcenreiche Territorium Westpapuas, zeigte sich bislang aber nicht in der Lage, den dort lebenden Menschen zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu verhelfen. Im Gegenteil kommen immer mehr Menschen aus anderen Landesteilen Indonesiens nach Westpapua. Sie drängen die ursprünglichen BewohnerInnen des Gebiets ökonomisch und zunehmend auch zahlenmäßig an den Rand. Der Mehrheit der ersten Migrationswelle entsprechend nehmen die Papua sämtliche Migranten als „Javaner“ und „Muslime“ wahr, obgleich viele Zuwanderer längst nicht mehr diesen Zuordnungen entsprechen.
Eine Neigung zum Synkretismus im Glauben mag auch in Westpapua vorhanden sein, insoweit alte adat-Riten nicht völlig vom Christentum verdrängt wurden. Hieraus allerdings eine Bereitschaft zur Toleranz ableiten zu wollen, wäre vermessen. In den Augen vieler Papua sind die „javanischen Muslime“ gleichbedeutend mit neuen Kolonialherren. Die ablehnende Haltung hat alles andere als religiöse Ursachen. Aber im Zweifelsfall stellen ethnische und religiöse Abstammung, stellvertretend für viel komplexere Probleme, die einfachsten Identifikationsmuster dar.
Endlich unabhängig: die Republik Indonesien
Wie auch vielen anderen Staaten verhalfen die Wirren des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen Indonesien letztlich zur lange ersehnten Unabhängigkeit. Sukarno, zusammen mit Mohammad Hatta einer der Staatsgründer und erster Präsident der neuen Republik, war die Problematik des Vielvölkerstaates von Anfang an bewusst. Als eine seiner wichtigsten Aufgaben verstand er das nation building – den Aufbau eines Bewusstseins für die gemeinsame Nation jenseits aller ethnischen, religiösen, kulturellen, sprachlichen und sonstigen Unterschiede.
In die Zeit der Staatsgründung fallen das Grundgesetz (UUD 45), das Staatsmotto Bhinneka Tunggal Ika (Einheit in Vielfalt) und die Staatsphilosophie Pancasila (die fünf Säulen). Die erste Säule der Pancasila lautet: Ketuhanan Yang Maha Esa – wörtlich übersetzt: „der Glaube an eine allmächtige Gottheit“. Von offizieller Seite wird dies als verpflichtender Glaube an den „einen und einzigen Gott“ ausgelegt und führt bis heute dazu, dass zahlreiche animistische oder andere nicht-monotheistische Glaubensrichtungen in Indonesien nicht offiziell anerkannt werden. Für die betroffenen BürgerInnen hat dies zur Folge, dass sie zahlreiche Rechte verlieren, etwa keine Heiratsurkunde oder keine Geburtsurkunde für ihre Kinder ausgestellt bekommen. Letztere ist essentiell notwendig, um dem Kind eine schulische Bildung zu ermöglichen.
Warum der keinesfalls monotheistische Glaube der Hindus dennoch als mit ersten Säule der Pancasila konform angesehen wurde, lässt sich nur mit dem Interesse an der Einheit des indonesischen Volkes um jeden Preis verstehen. Ökonomische Gründe waren dafür zunächst nicht ausschlaggebend, der Massentourismus auf Bali und sein Beitrag zum Deviseneinkommen des Staates waren seinerzeit noch nicht absehbar. Eine religiös begründete territoriale Abspaltung Balis, einer Insel in der geografischen Mitte des indonesischen Archipels, war und ist bis heute eine ernsthafte Bedrohung für den „Einheitsstaat“ Indonesien (NKRI).
Fünf Säulen, sieben Worte, 28 Stockhiebe
Streng muslimische Kräfte versuchten bereits zu Zeiten der Republikgründung, ihre Interessen durchzusetzen. Sie bestanden auf einer Ergänzung der ersten Säule der Pancasila – dem Glauben an eine allmächtige Gottheit – um die Worte „mit der Verpflichtung für Muslime, nach den Regeln des islamischen Gesetzes (der Scharia) zu leben“. Diese (im Indonesischen) „sieben Worte“ umfassende Ergänzung, auch bekannt unter der Bezeichnung Jakarta Charter (Piagam Jakarta), wurde von den Gründern der Republik seinerzeit aus Rücksicht auf die anderen im Archipel vertretenen Religionsgemeinschaften abgelehnt.
Dabei waren die damaligen Forderungen der Islamisten noch vergleichsweise moderat, zielten sie doch nur auf Muslime. Im letzten Jahr (2016) wurde in der unter Sonderautonomie stehenden Provinz Aceh erstmals eine Christin entsprechend der dort geltenden Scharia-Gesetzgebung der Prügelstrafe unterzogen. 28 Schläge mit dem Rohrstock erhielt die 60jährige Dame dafür, dass sie verbotenerweise unter dem Tisch Bier verkauft hatte. Remita Sinaga ist somit wohl die erste Nicht-Muslimin, auf die trotz zahlreicher anderweitiger Bekundungen das der Scharia entsprechende Strafrecht angewandt wurde.
USA: Unterstützung radikalislamischer Kräfte
Islamische und islamistische Bewegungen machten dem jungen Staat Indonesien von Beginn an zu schaffen. In den 1950er Jahren kam es zu bewaffneten Aufständen in verschiedenen Landesteilen, deren Ziele nicht immer dieselben waren. Während einige für einen islamisch verfassten Staat kämpften, schlossen sich Kräfte aus Aceh diesem Kampf an, da sie sich um die versprochene Autonomie ihres Landesteils betrogen fühlten – wobei es ebenfalls um die Anerkennung islamischer Gesetzgebung ging.
Die nationalistische Regierung unter Sukarno feierte 1958 einen Propagandaerfolg, als es ihr gelang, den US-amerikanischen Piloten Allen Lawrence Pope abzuschießen und gefangen zu nehmen. Damit war bewiesen, dass die USA Sukarno, den selbst ernannten Kämpfer gegen den Imperialismus, Hand in Hand mit extremistischen islamischen Aufständischen zu stürzen suchten. Ähnliche Szenarien sollten sich später in zahlreichen anderen Ländern wiederholen.
NASAKOM – ein unmögliches Experiment
Präsident Sukarno war sich sehr wohl bewusst über die unterschiedlichen und zum Teil sich widersprechenden gesellschaftlichen Strömungen im Land. Mit einer Kunstformel namens NASAKOM (Nationalismus, Religion und Kommunismus) versuchte er, die drei wesentlichen Lager des Landes unter einen Hut zu bringen.
Um dem religiösen Lager zu gefallen, erließ Sukarno 1965 ein Dekret (PNPS No. 1/1965), welches vier Jahre später von seinem Nachfolger, Diktator Suharto, in ein Blasphemiegesetz überführt wurde. In der Erklärung dieses Dekrets werden der Islam, das evangelische und römisch-katholische Christentum, der Hinduismus, der Buddhismus und Khong Hu Cu (Konfuzianismus) als in Indonesien praktizierte Religionen anerkannt. Andere Religionen, wie etwa Judaismus, Taoismus und Shintoismus werden ebenfalls genannt und geduldet, solange sie nicht gegen bestimmte andere Artikel oder relevante Gesetze verstoßen.
Die Neue Ordnung: kein Platz für die extreme Mitte
Die von Diktator Suharto ausgerufene Neue Ordnung verordnete seinen Landsleuten ein simples Leitprinzip: alles war erlaubt, was vordergründig der wirtschaftlichen Entwicklung Indonesiens Erfolg dient; freilich unter der Voraussetzung, dass seine Söhne und Töchter an den fraglichen Projekten angemessen beteiligt wurden.
Radikale politische Ideologien standen dem Entwicklungsmodell Suhartos entgegen. Mit der „extremen Linken“ hatte er im Rahmen seiner Machtergreifung bereits aufgeräumt. Mindestens eine Million Menschen wurden in den Jahren nach 1965 Opfer extralegaler Hinrichtungen. Mit der unwahren Behauptung, sämtliche Kommunisten seien zugleich Atheisten, traf Suharto auf Sympathie im islamischen Lager, dessen Anhängerschaft sich besonders in Java bereitwillig am Massenmord beteiligte. Als „extrem rechts“ bezeichnete der Diktator bestimmte radikal-islamistische Bewegungen, die nicht bereit waren, den Staat über das islamische Recht zu stellen. Führende Vertreter dieser Bewegungen, darunter Abu Bakar Ba’asyir, derzeit inhaftierter Hassprediger und mutmaßlicher Inspirator diverser Terrorkommandos, sahen sich vorübergehend gezwungen, in Malaysia Zuflucht zu suchen.
Die politische Linie Suhartos gegen jede Form des Extremismus schien klar – oder doch nicht? Zunehmend gerieten auch Menschenrechtsverteidiger und Leute, die sich für nichts anderes als die grundlegenden demokratischen Werte einsetzten, ins Visier des Diktators. Der prominente Menschenrechtsanwalt Adnan Buyung Nasution wagte auf einer öffentlichen Diskussion die sinngemäße Frage: „Wenn es extrem links und extrem rechts gibt, was ist dann die extreme Mitte?“
Unter dem wachsenden Einfluss des Islam sah sich Suharto seit den frühen 1990er Jahren gezwungen, sich selbst als praktizierender Muslim in Szene zu setzen und pilgerte nach Mekka. Seine religiöse Rückbesinnung half jedoch auch nicht mehr: „Viel zu spät für einen, der sich die Reise leisten kann!“, hallte ihm aus dem islamischen Lager entgegen. Suharto konnte damit die Islamisierung des Landes genauso wenig aufhalten wie dessen Demokratisierung, die ihn letztlich zum Rücktritt zwang.
Zurück zu den Wurzeln
Der Zusammenbruch des politischen Systems 1998 ging einher mit der schwersten wirtschaftlichen Krise, die Indonesien seit langem erlebte. Für Millionen von Menschen folgte eine Phase der Zukunftsangst und Orientierungslosigkeit. Die alten Werte der Neuen Ordnung waren nichts mehr wert, andere Werte oder Orientierungsmöglichkeiten waren aufgrund einer über drei Jahrzehnte anhaltenden Zensur und Gehirnwäsche praktisch unbekannt. Infolge der Asienkrise war plötzlich auch das wenige Ersparte nichts mehr wert. Der Rechtsstaat versagte. Niemand hatte noch Vertrauen in dessen Institutionen, Selbstjustiz griff um sich. In Jakarta wurden Taschendiebe von Mobs gejagt und auf offener Straße verbrannt.
In dieser Situation versprach die Rückbesinnung auf ethnische oder religiöse Identitäten den einzigen Halt. Grauenhafte Konflikte mit Tausenden von Opfern entspannten sich auf den Molukken, in Poso (Zentralsulawesi), in Westkalimantan und anderenorts. Diese Konflikte entzündeten sich oft an „banalen“ Streitigkeiten auf dem Markt, der verweigerten Bezahlung einer Busfahrt und dergleichen mehr – auch wenn niemand glauben konnte, dass dies die Ursachen waren. Nach den ersten abgebrannten Moscheen und Kirchen, den ersten jeweils von der anderen Religion getöteten Glaubensbrüdern spielte die Frage nach der Ursache keine Rolle mehr. Nun galt es, sich selbst zu verteidigen und Rache zu üben und die Auseinandersetzung eskalierte zum religiösen Konflikt.
Bis heute hat niemand eine umfassende Antwort auf die Frage, wer in diesem Konflikt eigentlich die Lunte gelegt hat, und warum. Wichtige Konfliktbeteiligte werden wohl nie ihre Archive der Öffentlichkeit zugänglich machen, denn zu ihnen zählen nicht zuletzt auch Einheiten der indonesischen Sicherheitskräfte, die – um die Verwirrung komplett zu machen – keinesfalls vereint auf einer Seite standen. Eine andere obskure Konfliktpartei waren die Laskar Jihad (Dschihadkämpfer), die vor allem auf Java erfolgreich Freiwillige rekrutierten, um auf den Molukken und in Poso zu kämpfen. Es war ein offenes Geheimnis, dass diese Miliz mit Geldern aus Saudi-Arabien gefördert wurde. Völlig unerwartet lösten sich die Laskar Jihad wenige Tage nach dem Angriff auf das World Trade Center vom 9. September 2001 auf, offenbar auf Geheiß aus Saudi-Arabien.
Demokratie heißt doch, dass die Mehrheit bestimmt?
Der genannte blutige Konflikt auf den Molukken ist längst beigelegt. Auch in Poso herrscht vordergründig Ruhe, wenngleich dort noch immer terroristische Zellen agieren, gegen die das indonesische Militär mit harter Hand vorgehen will. In beiden Regionen entspricht der Status quo allerdings eher dem Begriff eines „negativen Friedens“: ehemals harmonisch zusammenlebende Menschen wurden segregiert. Muslime auf Ambon (Molukken) leben im Norden, Christen im Süden der Insel. Die Stadt Poso ist heute weitgehend islamisch, während die Christen sich im nahen Tentena konzentrieren. Es ist für niemanden mehr gefährlich, in das Gebiet „der anderen“ zu fahren – aber dort zu leben ist undenkbar.
Dies entspricht dem „religiösen Frieden“ in anderen Regionen des Archipels. In Nordsumatra, Nordsulawesi oder Westtimor, wo Christen die Mehrheit stellen, haben sie nichts zu befürchten. Hier besetzen sie hohe politische Ämter und niemand wäre in der Lage, den Bau einer Kirche zu verhindern. Problematischer ist es, wenn christliche Migranten beispielsweise in einer der Satellitenstädte der Hauptstadt Jakarta eine Kirche bauen wollen, wo Muslime in der Mehrheit sind. Hier helfen auch Genehmigungen und höchstrichterliche Urteile nicht immer weiter. In Bogor steht seit Jahren eine versiegelte Kirche, deren Bau mit allen behördlichen Genehmigungen versehen war. Bereits vor Jahren urteilte das Oberste Gericht Indonesiens letztinstanzlich, dass die Kirche legal sei und zur Nutzung freigegeben werden müsse. Passiert ist nichts. Eine kleine, aber lautstarke und gewaltbereite Gruppe von Islamisten widersetzt sich weiterhin der Öffnung der Kirche, und vom Bürgermeister der Stadt bis hin zum Staatspräsidenten hat niemand den Mut, die Gerichtsentscheidung und damit den Rechtsstaat durchzusetzen.
Warum man sie als undemokratisch bezeichnet, verstehen die Islamisten nicht. „Demokratie heißt doch, dass die Mehrheit bestimmt? Und hier sind wir in der Mehrheit.“
Die Demokratie ging zu weit
Tatsächlich eröffnete die Demokratie auch radikalen Gruppen neue Handlungsspielräume. Nicht nur, dass Hassprediger wie Abu Bakar Ba’asyir aus dem Exil zurückkehren konnten. Auch viele andere unter dem diktatorischen Regime Suhartos einst zum Schweigen verurteilte Gruppen genießen nun Rede-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Und während es früher neben dem staatlichen Fernsehen und Rundfunk nur eine begrenzte Anzahl streng zensierter Printmedien gab, ist heute die Meinungsmache über die sozialen Medien längst nicht mehr zu kontrollieren. Wie überall auf der Welt verstehen sich radikale Gruppen bestens darauf, auch in Indonesien effizienten Gebrauch davon zu machen.
„Die Demokratie ging zu weit“, meinte kürzlich kein Geringerer als Staatspräsident Joko Widodo, der vor zwei Jahren ins Amt gewählt wurde. Die Mehrheit seiner Wählerinnen und Wähler sahen ihn als Hoffnungsträger für ein demokratischeres Indonesien. Widodos Bemerkung ist ein unfreiwilliges Eingeständnis, dass der Staat unfähig ist Recht und Gesetz walten zu lassen. Es ist ein Eingeständnis der Machtlosigkeit gegen Stimmungsmache auf den Straßen und in den Medien.
Wenn der Mob regiert
Politische BeobachterInnen im Westen werden nicht müde zu betonen, dass die islamischen Parteien Indonesiens bei Wahlen noch nie auch nur annähend in die Nähe einer Mehrheit gelangt sind. Das soll beruhigend klingen. Tatsache ist, dass große politische Parteien, die im Westen als „säkular“ wahrgenommen werden, dem Druck der Straße und der Medien folgend längst den Islamisten nach dem Munde reden. Ein Großteil kommunaler Verordnungen, die beispielsweise Frauen vorschreibt das Kopftuch zu tragen, wurde in den lokalen Parlamenten von diesen scheinbar säkularen Parteien eingebracht.
Die Mehrheit der „säkularen Parteien“ zeigt ebenso wenig wie Exekutive und Judikative den Willen, sich mit religiösen Gruppen anzulegen, die durch Selbstjustiz, Einschüchterung und Razzien offenkundig gegen Recht und Gesetz verstoßen.
Eine der bekanntesten dieser Gruppen ist die Front der Verteidiger des Islam (FPI). Sie entstand Ende der 1990er Jahre aus der von Militär und Polizei gebildeten „Bürgermiliz“ Pam Swakarsa und hat sich seither verselbstständigt. Ihre Mitglieder sind größtenteils gewaltbereite junge Männer aus unterprivilegierten Schichten. Die FPI pflegt nach wie vor gute Kontakte zu den Sicherheitskräften, woraus sich erklärt, warum jene nicht entschlossener vorgehen, sondern bei Übergriffen häufig nur zusehen. Mitunter erledigt die FPI auch die „Dreckarbeit“ für die Sicherheitskräfte.
2011 wurde gegen die als vom Islam abtrünnig angesehene Gemeinschaft der Ahmadiyyah mobil gemacht, die in Indonesien seit fast 100 Jahren unbehelligt ihren Glauben ausüben durfte. Hunderte von Fanatikern überfielen ein Treffen der Ahmadiyyah in der Ortschaft Cikeusik. Drei Ahmadis wurden dabei bestialisch getötet. In einem späteren Prozess wurde eines der schwer verletzten Opfer zur selben Strafhöhe verurteilt wie der Anführer des Überfalls. Die gewalttätigen Angriffe auf Ahmadiyyah begannen 2005, als der indonesische Rat der Islamgelehrten (Majelis Ulama Indonesia, MUI) durch eine Fatwa die Ahmadiyyah als häretisch bezeichnete. Auf diese Fatwa bezog sich 2008 die Regierung, als sie in einem gemeinsamen Ministererlass die Ahmadiyyah verbot. Seitdem nimmt die Verfolgung der Ahmadiyyah landesweit zu, weswegen heute hunderte Familien als Binnenflüchtlinge in Lagern leben müssen.
Es folgten Angriffe auf andere vom „wahren Islam abtrünnige“ Minderheiten wie Schiiten und zuletzt die als Sekte bezeichnete Gerakan Fajar Nusantara (Gafatar). Im letzten Jahr gerieten insbesondere LGBTI ins Visier der religiösen Fanatiker.
Religion wird auch sehr häufig im Wahlkampf instrumentalisiert. Seite Ende 2016 läuft ein Prozess gegen den Gouverneur von Jakarta, Basuki ‚Ahok‘ Cahaya Purnama – einen Christen, der sich für die nächste Regierungsperiode wieder zur Wahl stellt. Er hatte sich bei einem öffentlichen Auftritt auf einen Koranvers bezogen, womit er nach Auffassung seiner Gegner den Islam beleidigte. Hunderttausende Islamisten gingen auf die Straße und forderten seine Bestrafung, Polizei und Staatsanwaltschaft eröffneten ein Expressverfahren. Der Fall spaltet die indonesische Gesellschaft weit über die Grenzen Jakartas hinaus. Wann das Urteil fällt, ist noch offen.
Wie auch immer das Urteil ausfällt – das Problem des unzureichenden Schutzes religiöser Minderheiten wird dadurch nicht gelöst werden. Das Spektrum der religiösen und ethnischen Verfolgungen in Indonesien weitet sich aus. Mit „abtrünnigen“ religiösen Minderheiten fing es an, mit nicht der Norm entsprechenden sexuellen Minderheiten ging es weiter. Wo diese Spirale der Ausgrenzung und Gewalt endet, weiß niemand. Wie lange wird die internationale Politik noch die indonesische Toleranz loben, bevor sie zur Kenntnis nimmt, welche Zeitbombe in der größten muslimischen Gesellschaft der Welt tickt?
ALEX FLOR Jahrgang 1963, ist Dipl.-Ing. für Technischen Umweltschutz. Im Rahmen seines Studiums absolvierte er 1989 ein erstes Projekt im indonesischen Padang (Westsumatra), ein Jahr später kehrte er nach Indonesien zurück und forschte am Institut Teknologi Bandung über die Reinigung von Abwässern aus der Textilindustrie. Unter dem Eindruck des Sta. Cruz-Massakers 1991 in Dili (Osttimor) begründete er 1991 den Verein Watch Indonesia! mit, den er seit 1997 als Co-Geschäftsführer vertritt. Von 2000 bis 2007 war Flor Vorstandsmitglied von INFID (International Network for Indonesian Development), derzeit vertritt er seine Organisation auch im Vorstand des deutschen West-Papua Netzwerks. Zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften SUARA, iz3w, Südlink, Neues Deutschland u.a.; What Future for Papua? in: Eva Streifeneder/Antje Missbach (eds); Indonesia – The Presence of the Past, Berlin 2007; demnächst: Peace-building in Aceh? Vom Tsunami zur Scharia, regiospectra Berlin (Hrsg. mit Basilisa Dengen). www.watchindonesia.org