Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 217: Der Islam als Bewährungsprobe fürs Religionsverfassungsrecht

Editorial

aus: vorgänge Nr. 217 (Heft 1/2017), S. 1-4

Der Islam gehört zu Deutschland.“ Dieser Satz des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff erregte 2010 die Gemüter. Dabei war weder die Formulierung neu, noch konnte seine Aussage angesichts von schätzungsweise 3,6 bis 4,7 Millionen muslimischer Mitbürger_innen in Deutschland (1) wirklich überraschen. Aus dem Mund eines deutschen Bundespräsidenten reichte die Aussage dennoch für eine Provokation; Wulf selbst behauptete später gar, es sei diese These gewesen, die das Ende seiner Amtszeit einläutete. Man mag über eine Konnotation dieser Aussage streiten: inwiefern der Islam eine geschichtlich und kulturell prägende Wirkung für Deutschland hatte. Für die religionspolitische Gegenwart Deutschlands lässt sich das Ob nicht mehr ernsthaft in Frage stellen – offen bleibt nur: Wie gehört der Islam heute zu Deutschland?

Zunächst einmal geht es dabei um die Frage, wie weit der Islam heute mit anderen Religionen und Weltanschauungen in Deutschland – allen voran dem Christentum – formal gleichgestellt ist. Wie andere Grundrechte auch ist Religionsfreiheit keine Schönwetter-Veranstaltung: sie gilt nicht nur für jene Religionen, die in unserer Kultur verankert sind, quasi ‚dazu gehören‘. So wie die Meinungsfreiheit nicht nur für harmlose oder sympathische Auffassungen gilt, so wie sich die rechtsstaatlichen Garantien der Unschuldsvermutung oder der Menschenwürde gerade im Umgang mit abscheulichen Verbrechern bewähren müssen – genau so misst sich auch der Grad der Religionsfreiheit am Umgang mit jenen Religionen, deren äußere Zeichen oder innere Überzeugungen uns fremd, verstörend oder gefährlich vorkommen mögen. Die kulturelle und rechtliche Integration des Islam in unsere Gesellschaft ist daher nicht nur eine Frage seiner Gleichbehandlung mit anderen Religionen und Weltanschauungen, sie stellt auch den grundsätzlichen Umgang mit dem Religiösen, seinem Stellenwert in der Gesellschaft erneut zur Disposition. Sind wir bereit, alle jene Zugeständnisse und Sonderrechte, die wir mehrheitlich den beiden Kirchen zugestehen, auch islamischen Gemeinschaften zu gewähren? Was würde passieren, wenn islamische Arbeitgeber in Deutschland die gleichen Sonderrechte für sich reklamieren wie Diakonie und Caritas, wenn islamische Krankenhausbetreiber bestimmte medizinische Behandlungen aus religiösen Gründen ablehnen? Diesen – hypothetischen – Fragen geht die vorliegende Ausgabe der vorgänge nach, indem sie den Umgang mit den hier lebenden Muslimen als Bewährungsprobe für das deutsche Religionsverfassungsrecht begreift.

Kirsten Wiese eröffnet den Themenschwerpunkt mit einem Überblick zu den religionsrechtlichen Streitfragen, die sich mit der Anerkennung des Islam in Deutschland stellen. Sie skizziert die Grundlagen des Religionsverfassungsrechts und benennt die Konfliktpunkte, an denen gegenwärtig um eine Gleichbehandlung islamischer Gemeinschaften mit den christlichen Kirchen bzw. um Anpassungen im Religionsrecht gestritten wird. Während diese Gleichbehandlung auf kollektiver Ebene, bei der Anerkennung islamischer Dachverbände als Ansprechpartner für den Staat, langsam voranschreitet, ist das Bild bei der Gewährleistung der individuellen Religionsausübung für Muslime zwiespältiger. Darauf weist Riem Spielhaus im Interview mit den vorgängen hin. Einerseits pflegt die Bundesregierung mit der Deutschen Islam-Konferenz einen institutionalisierten Diskurs mit islamischen Verbänden, was deren Anerkennung und Bedeutung aufwertet – zugleich planen der Bund und mehrere Länder (Baden-Württemberg und Bayern) derzeit Gesetze, mit denen die Vollverschleierung im öffentlichen Dienst, aber zum Teil auch im zivilen Leben verboten werden soll. Spielhaus beschreibt, wie sich das Selbstverständnis vieler Migrant_innen in den letzten Jahren verändert hat, indem sie zunehmend als Muslime wahrgenommen und angesprochen wurden. Sie plädiert für eine stärkere Akzeptanz islamischer Religionsausübung in der Gesellschaft und spricht sich dafür aus, islamischen Verbänden analog den christlichen Anbietern öffentliche Aufgaben etwa der Wohlfahrtspflege zu übertragen, um sie stärker in gesellschaftliche Verantwortung zu bringen.

Mit dem folgenden Beitrag von Alex Flor wechseln wir die Perspektive: Er berichtet von der Eskalation interreligiöser Konflikte in Indonesien, die seit dem Ende der Suharto-Diktatur zu beobachten ist. Das Land galt lange Zeit als das Vorzeigebeispiel religiöser Pluralität und Beleg dafür, dass Religionsfreiheit auch in muslimisch geprägten Gesellschaften funktioniere. Diese Einschätzung ist nach Flors Einschätzung richtig und falsch zugleich. Angesichts der zunehmenden Verfolgung religiöser und sexueller Minderheiten fragt er: „Wie lange wird die internationale Politik noch die indonesische Toleranz loben, bevor sie zur Kenntnis nimmt, welche Zeitbombe in der größten muslimischen Gesellschaft der Welt tickt?“

Die nächsten drei Beiträge widmen sich einzelnen Aspekten des islamischen Lebens in Deutschland: Sabine Berghahn fasst die Rechtsprechung und die öffentliche Debatte um die Zulassung bzw. das Verbot von Kopftüchern zusammen. Ausführlich geht die Autorin auf die beiden letzten Urteile des Europäischen Gerichtshofs vom 14. März 2017 zu Kopftuchverboten in privatwirtschaftlichen Unternehmen in Belgien und Frankreich ein. Dem stellt sie die deutsche Rechtsprechung gegenüber, die bisher stark vom „Kopftuch der Lehrerin“ geprägt war. Berghahn wagt einen vorsichtigen Ausblick, wie in Deutschland mit den jüngsten Luxemburger Urteilen umgegangen werden kann und welche Auswirkungen diese Entscheidungen hierzulande haben könnten.

Jameleddine Ben Abdeljelil berichtet über die Ausbildung islamischer Religionslehrer an deutschen Hochschulen. Die Etablierung dieser Studiengänge war in den letzten Jahren von Innen- und Wissenschaftspolitikern vorangetrieben  worden, um dem zunehmenden Bedarf an islamischen Religionslehrern wie islamischen Gelehrten gerecht zu werden. Dahinter steht jedoch auch ein gewisses Unbehagen, wenn nicht sogar Skepsis, gegenüber dem bisherigen „Wildwuchs“ islamischer Schulen und deren mögliche Beeinflussung aus dem Ausland. Ben Abdeljelil stellt die interkulturellen und interreligiösen Herausforderungen dar, mit denen die Lehramtsanwärter_innen konfrontiert werden.

Die Befürchtungen, dass hier tätige Imame auch politische Interessen des Auslands bedienen könnten, sind nicht aus der Luft gegriffen. Erst kürzlich tauchten Vorwürfe gegen zahlreiche im Auftrag der DITIB tätige Imame auf, die Informationen über regierungskritische Gläubige an türkische Sicherheitsbehörden weitergegeben haben sollen. Die Kritik von Jelal Cartal am Einfluss der türkisch-islamischen DITIB bezieht sich jedoch nicht nur auf diese – vorerst noch ungeklärten – Vorwürfe, sondern auf den generellen Einfluss dieses Verbandes auf die Auswahl der islamischen Religionslehrer_innen in Niedersachsen. Dadurch, dass die angehenden Lehrer_innen die Empfehlung einer Verbandsmoschee benötigen und zudem der Verband über die Erteilung (bzw. den Entzug) der Lehrerlaubnis entscheidet, werde innerhalb der Lehrerschaft ein konservatives wie konformistisches Klima befördert.

Mit einer Perversion des Islam, dem gewaltbereiten Islamismus, beschäftigt sich der Beitrag von Michaela Glaser und Carmen Figlestahler. Die beiden Autorinnen, die am Deutschen Jugendinstitut in Halle tätig sind, berichten aus der pädagogischen Praxis der Distanzierung vom gewaltorientierten Islamismus. Es werden verschiedene Erklärungsansätze für die Ursachen von Radikalisierungsprozessen vorgestellt, ebenso wie Ansätze der deradikalisierenden Jugendarbeit. Selbstkritisch schätzen die Autorinnen jedoch ein, dass die bisherigen Angebote zu wenige Zielgruppen erreichen, weshalb sie eine stärkere Orientierung auf sozialraum- und lebensweltorientierte Zugänge zu den Jugendlichen vorschlagen.

Den Themenschwerpunkt beschließen wir mit einem Beitrag von Andreas Neumann, der eine Alternative zum bisherigen Verfahren der Kooperation des Staates mit Religionsgemeinschaften vorschlägt: Nach seiner Überzeugung wäre ein Religionsfreiheitsgesetz des Bundes wesentlich transparenter, demokratischer und vor allem religionsneutraler als die bisherigen Einzelverträge, die die Bundesländer mit den Kirchen, humanistischen und Islam-Verbänden sowie anderen Gemeinschaften abgeschlossen haben. Ein solches Gesetz würde allgemein, für alle Religionen gleichermaßen gelten und könnte den gegen die Verträge erhobenen Einwand entkräften, dass es nur um die Sicherung spezifischer Privilegien für die jeweilige Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft gehe.

Auch jenseits des Schwerpunkts bietet diese Ausgabe der vorgänge reichlich Lektürestoff: Wolfgang Neškovic spricht über das Versagen der Verfassungsschutzämter in der NSU-Mordserie. Sein Urteil ist deutlich: es herrsche weitgehend „Hühnerhofmentalität und Narrenfreiheit“ in den VS-Landesämtern, die personell und strukturell von ihren Aufgaben völlig überfordert seien. Neškovic schlägt deshalb eine grundlegende Strukturreform, u.a. mit der Angliederung aller Landesämter an die Bundesbehörde vor.

Dieter Deiseroth befasst sich mit der zum Jahresanfang in Kraft getretenen Änderung des deutschen Völkerstrafgesetzbuches, die einige Unklarheiten bezüglich des Verbotes eines Angriffskrieges beseitige – aber neue Schutzlücken eröffne und den friedenspolitischen Auftrag unserer Verfassung (Artikel 26 Absatz 1 Grundgesetz) unerfüllt lasse. Götz-Dietrich Opitz greift die Inauguralrede von Donald J. Trump auf, in der jener ein neues Zeitalter für die Amerikaner versprochen hat. Opitz ordnet die Trumpsche Rhetorik und Politik in die Tradition zyklischer creedal passion periods ein, in denen eine religiös aufgeladene Erneuerungsbewegung den politischen Wandel einleite. Arata Takeda schließlich befasst sich in seinem Essay mit dem antirassistischen Diskurs in Deutschland, der von einer starken Ausweitung des Rassismusbegriffs geprägt sei. Er hinterfragt, ob diese Ausweitung sinnvoll und zielführend ist, oder ob sie nicht der intendierten Kritik schade und man besser von einen Kulturalismus der Ausgrenzung sprechen sollte.

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre.

Sven Lüders
für die Redaktion der vorgänge

Anmerkungen

1 Die Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) schätzt die Zahl der in Deutschland lebenden Muslime zum Jahresende 2015 auf 3,6 Millionen, wobei sie davon ausgeht, dass 1/5 der üblicherweise von anderen Quellen als Muslime eingeordneten Menschen „Kulturmuslime“ seien, die keine religiöse Bindung aufweisen und daher von fowid bei der Berechnung der Anteile der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften herausgerechnet werden. Die Schätzung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) beläuft sich zum gleichen Zeitpunkt auf 4,4 bis 4,7 Millionen Muslime hierzulande, s. https://fowid.de/meldung/religionszugehoerigkeiten-deutschland-2015.

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