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Parla­men­ta­ri­scher Stil? Ausein­an­der­set­zung um Formalia der Notstands­ge­setz­ge­bung

vorgängevorgänge 7/196807/1970Seite 266- 267
von vg

Aus: vorgänge Heft 7/ 1968, S. 266- 267

(vg) Die Bundestagsabgeordneten wurden nach dem 30. Mai 1968 offensichtlich ihrer eigenen Entscheidung für die verfassungsändernde Notstandsgesetzgebung selbst nicht recht froh. Sie verdrängten den unerfreulichen Gesetzgebungsakt nicht nur weitgehend aus ihrem Bewußtsein, einige speziell betroffene Abgeordnete — vorallem natürlich Abgeordnete der SPD – entwickelten gar eine hartnäckige Idiosynkrasie gegen alles, was mit der Notstandsgesetzgebung zu tun hat. Sie entzogen sich — besonders gegenüber unnachgiebigen Fragern der außerparlamentarischen Notstandsopposition — der Auseinandersetzung. Typisch, bezüglich der Person des Abgeordneten aber besonders schmerzlich, ist der nachfolgend berichtete Vorgang.

Die Humanistische Union hatte vor der Zweiten Lesung der Notstandsgesetzgebung einen letzten dringlichen Appell an die Abgeordneten gerichtet (s. vg 5/68, 164). Die HU hatte ihren Notstandsexperten Dr. Jürgen Seifert zum Entwurf dieses Appells aufgefordert. Seifert ist seit 1963 als unbestechlicher Kenner der Problematik ausgewiesen (s. seine Bücher „Gefahr im Verzuge” 1963, 3. Auflage 1967, und „Der Notstandsausschuß” 1968, beide Europäische Verlagsanstalt Frankfurt). In dem von Seifert entworfenen Appell der HU hieß es unter anderem:

„Der Bundestag soll am 15. Mai über den neuen Notstandsverfassungsentwurf des Rechts- und Innenausschusses entscheiden. Dieser Ausschußentwurf beruht aber keineswegs auf den in der Öffentlichkeit bekannten und diskutierten Gesetzesvorlagen, sondern auf einer in wesentlichen Fragen völlig neuen Konzeption, welche die Bundesregierung hinter verschlossenen Türen ausgehandelt und ohne vorherige Beratung durch Bundestag und Bundesrat den Ausschußmitgliedern als sogenannte ,Formulierungshilfe` unterbreitet hat. Der Bundesvorstand der HU hält eine solche Verfahrensweise für einen Verstoß gegen die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie. Er warnt die Volksvertreter davor, einen so zustandegekommenen Entwurf ohne ausreichende und öffentliche Diskussion zu verabschieden . . .“ (s. vg 5/68, 164)

Zu diesem Appell äußerten sich der HU gegenüber mehrere Bundestagsabgeordnete; in der Grundtendenz aggressiv abweisend. Ein Brief kam von dem Abgeordneten Dr. Adolf Arndt (SPD). Er lautete:

„Ihr Rundschreiben vom 9. Mai wegen der Notstands-Beratungen ging mir zu. Ganz gewiß läßt sich über die Regelungen streiten. Was mich bekümmert, ist der Anfang Ihres Rundschreibens. Ich will nicht unhöflich sein, aber ich habe den Eindruck, daß dem Verfasser des Rundbriefes jede Kenntnis fehlt, wie sich eine parlamentarisch-demokratische Gesetzgebung vollzieht.” (und als handschriftlich zugesetzes Postskriptum:) „Wirklich keine blasse Ahnung! In jahrelanger Opposition hat die SPD dem Bundestage das Recht erkämpft, daß die Ministerien unter allen Umständen Formulierungshilfe leisten müssen!”

‚Wer den Text des Appells aufmerksam liest, stellt allerdings fest, daß er sich nicht gegen das „Recht des Bundestags” richtet, von Ministerien „Formulierungshilfe” zu bekommen, sondern dagegen, daß als „Formulierungshilfe” der Regierung ein Notstandsverfassungsentwurf des Rechts- und Innenausschusses des Bundestags ausgegeben wird, der sich von allen vorher in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen und diskutierten Gesetzesvorlagen in wesentlichen Punkten erheblich unterscheidet, daß diese „Formulierungshilfe” nicht vorher vom Plenum des Bundestags und vom Bundesrat öffentlich beraten und außerdem, wie das Überrumpelungsverfahren mit dem letzten Notstandsentwurf nun einmal lief, jeder außerparlamentarischen öffentlichen Diskussion entzogen wurde.

Jürgen Seifert, der als Experte den Appell der HU entworfen hatte (in seiner Originalfassung war im übrigen der Passus über die „sogenannte Formulierungshilfe” noch präziser gefaßt) und dem man in dieser Sache gewiß Fachkenntnis nicht absprechen kann, hat sich die Mühe gemacht, Adolf Arndt ausführlich zu antworten. Sein Brief hat — geringfügig gekürzt – folgenden Wortlaut:

.. Sie sind so freundlich, mir zu bescheinigen, daß ich ,wirklich keine blasse Ahnung von dem habe, wie sich eine parlamentarisch-demokratische Gesetzgebung vollzieht. Ich möchte Sie bitten, der Geschichte der Notstandsgesetzgebung doch einmal etwas näher nachzugehen, um zu sehen, was aus der von Ihnen erkämpften Formulierungshilfe der Ministerien inzwischen geworden ist. Ich will in diesem Brief davon absehen, die Einzelheiten darzulegen, die ich am 9. Mai 1968 vor 56 Wissenschaftlern im bonner Bundeshaus in Anwesenheit von Abgeordneten Ihrer Fraktion (und der Fraktion der FDP) vorgetragen habe und die jetzt in den ,Gewerkschäftlichen Monatsheften (,Notstandsverfassung 1968`, Jg. 19, Hft. 6, Juni 1968, S. 365—369) veröffentlicht worden sind. In meinem Beitrag ist zwischen „Formulierungshilfen” in dem von Ihnen gemeinten Sinn und „Formulierungshilfen als Überrumpelungsinstrumenten der Exekutive” deutlich unterschieden. Ich stelle Ihnen anheim, in den Gewerkschaftlichen Monatsheften` darauf zu antworten. Ich könnte mir auch vorstellen, daß die „Vorgänge” einen derartigen Disput zwischen uns abdrucken würden. Wichtiger als eine derartige Erörterung der Frage der ,Formulierungshilfen` in der Öffentlichkeit erschiene es mir jedoch, wenn Sie mit Ihrer Fraktion dafür sorgen könnten, daß die von mir kritisierte Praxis abgestellt wird. Der SPD-Abgeordnete Kurt Gescheidle hat mir gesagt, daß er in den Ausschüssen, denen er angehört, durchgesetzt habe, daß ,Formulierungshilfen` der Ministerien den Abgeordneten eine Woche vor den Beratungen vorliegen müssen, anderenfalls nicht abgestimmt werden kann.

Das ist ein Weg für die Fälle, in denen es sich wirklich um eine ,Formulierungshilfe` handelt. In den Fällen jedoch, in denen faktisch ein neuer Regierungsentwurf nachgeschoben wird (Beispiele aus der Geschichte der Notstandsverfassung: Formulierungshilfe des Bundesministers des Innern vom 27. Januar 1964, 26. Juni 1964, 31. August 1964, 11. November 1964, 13. März 1968 u. 21. März 1968) erscheint mir eine Veröffentlichung der Vorlage als Bundestagsdrucksache erforderlich zu sein.

Ich würde mich freuen, wenn Sie die Formulierungen Ihres Briefes vom 20. Mai noch einmal überdenken würden. Auch hier wird deutlich, daß es sich Ihre Partei in der Behandlung ihrer Opponenten in der Notstandsfrage doch wohl etwas leicht macht und zunächst einmal unterstellt, daß diese Leute ,wirklich keine blasse Ahnung‘ haben.“

Auf diesen ausführlichen und ausdrücklich zum Disput auffordernden Brief hin erhielt Dr. Jürgen Seifert von Dr. Adolf Arndt MdB eine lapidare Antwort:

„Sehr geehrter Herr Dr. Seifert! Ihr Schreiben vom 12. Juni 1968 ging mir zu. Mit Ihnen zu diskutieren habe ich einfach keine Lust. Mit freundlichem Gruß, Arndt.”

Natürlich kann kein Mensch, und sei er auch Vertreter des Volkes, gezwungen werden, Briefe zu beantworten. Angesichts der immerhin gespannten Lage zwischen parlamentarischem „Establishment” und „außerparlamentarischer Opposition” enthüllt dieser ziemlich einseitige Briefwechsel aber immerhin eines: ein Abgeordneter, dazu einer, der wie Adolf Arndt trotz der Kritik am „System” immer noch auch bei Skeptikern Hochachtung genoß, weigert sich ausdrücklich, ein Gespräch mit jemandem zu führen, den er mit der fragwürdigen Arroganz des „Fachmannes” für sachunkundig erklärt. Die Kritik der Humanistischen Union an den Notstandsgesetzen aber war immer eine immanente Kritik, nie eine totale. Die Reaktion Arndts (und nicht nur Arndts, er ist nur ein Beispielfall) aber führt leider selbst den „Beweis” für die Selbstisolierung des Parlaments von seinem Souverän, dem Volk (handle es sich bei der Notstandsopposition auch „nur” um einen Teil der politisch bewußten Staatsbürger). Arndt bestätigt leider indirekt, daß die extreme Position der rebellierenden Studenten, mit immanenter Kritik sei nichts mehr auszurichten, das „System” selbst sei falsch und es müsse total verändert werden, gute Gründe für sich hat *).

*) Zur Klärung des Hintergrunds der, vonseiten Arndts, intransigenten „Beendigung” des Streitfalls sei immerhin folgender Vorgang referiert: Kurz vor der Verabschiedung der Notstandsverfassung hatte Jürgen Seifert in einer WDR-Fernsehdebatte der SPD vorgeworfen, sie habe sich in der Notstandsfrage von der CDU mit der Drohung der Schubladengesetze erpressen lassen. Die SPD-Teilnehmer der Debatte, Martin Hirsch und Adolf Arndt, reagierten darauf sehr erbittert. Arndt: „Ich bin nicht hierher gekommen, Herr Seifert, um mich von Ihnen beleidigen zu lassen.”

Garzu gern möchte man Adolf Arndt seine Entrüstung abnehmen; aber leider wurde sie von dem Abgeordneten, Außenminister und Parteivorsitzenden Willy Brandt selbst in der Bundestagsdebatte zur Dritten Lesung der Notstandsgesetze ihres Grundes entkleidet. Brandt erklärte (Bundestagsdrucksache, 178. Sitzung, S. 9626 ff) : Wenn nicht jetzt endlich die Notstandsverfassung verabschiedet werde, hätte dies „unweigerlich das Wiederaufleben von Bemühungen um eine außerparlamentarische Notstandsvorsorge der Exekutive zur Folge, die an die Schranken unserer Verfassung nicht gebunden wäre”. Käme es nicht zur Verabschiedung der Notstandsgesetze, dann würde, fügte Brandt „in vollem Ernst” hinzu, die Sache wiederum „ähnlich — wenn auch mit Abstrichen —” aussehen wie das Modell „Schubladengesetze”, auch unter der Großen Koalition also.

Hier ist es also Sache der SPD-Abgeordneten, herauszufinden, ob sie von Herrn Seifert beleidigt oder aber von ihrem eigenen Parteivorsitzenden desavouiert wurden.

(Kommentierung: gh)

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