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Wachsamkeit gegenüber Notstands­ge­setzen

vorgängevorgänge 7/196807/1970Seite 260- 261
von vg

Aus: vorgänge Heft 7/ 1968, S. 260- 261

(vg) Am 28. Juni 1968 sind durch ihre Verkündung im Bundesgesetzblatt die verfassungsändernden Notstandsgesetze, nachdem Bundestag und Bundesrat sie verabschiedeten, in Kraft getreten. Die Humanistische Union gab an diesem Tage noch einmal eine Erklärung heraus, in der sie zu den neugeschaffenen Grundrechtseinschränkungen erneut Stellung nimmt und die Bürger zu anhaltender kritischer Wachsamkeit gegenüber den mit diesen Gesetzen geschaffenen neuen Möglichkeiten auffordert. Die Erklärung hat folgenden Wortlaut:

Die Humanistische Union hat seit ihrem Bestehen gegen grundrechtsbeschränkende Notstandsgesetze gekämpft. Sie ist der Auffassung, daß, auch nachdem die Notstandsgesetze heute förmlich in Kraft treten, die Auseinandersetzung mit ihnen nicht beendet werden kann.

  • die Ausschaltung des rechtlichen Gehörs und die Aufhebung des Rechtswegs bei den Eingriffen in das Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs.2),

  • die Tatsache, daß für den Gemeinsamen Ausschuß, sofern dieser an die Stelle von Bundestag und Bundesrat tritt, der Grundsatz der Öffentlichkeit der Sitzungen (Art. 42 Abs. 1) nicht zwingend Anwendung findet,

  • die Nichtbeachtung von Art. 80 Abs. 1 Grundgesetz im Fall der Rechtssetzungsbefugnis der Bundesregierung im Rahmen der Sicherstellungsgesetze.

2. Die weitere Gesetzgebung des Bundes innerhalb der durch die Verfassungsänderung neu geschaffenen Kompetenzen muß aufmerksam verfolgt und gegebenenfalls kritisiert und bekämpft werden.

3. Es kommt darauf an, das in der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetzgebung entstandene kritische, demokratische Bewußtsein zu nutzen, der Anwendung der Notstandsvollmachten entgegenzutreten und jeden Mißbrauch entschlossenen Widerstand entgegenzusetzen. Auch eine gegebenenfalls zum Widerstand entschlossene Bevölkerung ist ein Stück Verfassung!

4. Die Humanistische Union hält die Formulierung des Widerstandsrechts im Art. 20 für mißglückt. Sie weist aber darauf hin, daß in der gesamten Rechtsgeschichte das Widerstandsrecht ausschließlich als ein Recht des unterdrückten Bürgers gegen den Staat verstanden wurde. Eine Interpretation des Widerstandsrechts als eines Rechts zum Schutz des Staates gegen revoltierende Gruppen ist widersinnig und durchbräche die gesamte bisherige Rechtstradition. Eine solche Interpretation hätte auch keine praktische Bedeutung, das das Widerstandsrecht erst eintritt, „wenn anders Abhilfe nicht möglich ist“. Gerade durch das Inkrafttreten des Notstandsrechts verfügt aber der Staat über Möglichkeiten der Abhilfe im Übermaß. Nimand wird sich also in Zukunft bei staatsautoritären Pogromen auf ein falsch verstandenes Widerstandsrecht stützen können.

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