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Rede des Abgeord­neten Matthöfer gegen die Notstands­ver­fas­sung

vorgängevorgänge 7/196807/1970Seite 268 - 271
von vg

Aus: vorgänge Heft 7/ 1968, S. 268 – 271

(vg) Bei der Dritten Lesung der Notstandsverfassung im Bundestag am 30. Mai 1968 haben neben 48 Abgeordneten der FDP-Opposition und 1 Abgeordneten der CSU 50 SPD-Abgeordnete mit Nein gestimmt. Zur Begründung des Votums der SPD-Abgeordneten hielt der Abgeordnete Hans Matthöfer, der auch federführend war für den Alternativ-Entwurf der SPD-Rebellen (s. vg 8-9/67, 315 und vg 2/68, 60), der, wie man zunächst annahm, rund 100 SPD-Abgeordnete auf sich vereinigte, eine Bundestagsrede, die hier dokumentiert wird. Hans Matthöfer ist auch Vorstandsmitglied der Industriegewerkschaft Metall.

Matthöfer (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es fällt mir nicht leicht, hier zu sprechen. Die Mitglieder der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion haben gemeinsam versucht, für das von uns zu regelnde Problem eine gute Lösung zu finden. Die damit verbundene Diskussion ist in aller Offenheit und in aller Öffentlichkeit geführt worden. Die aus der Mitte der Fraktion gestellten Anträge sind schriftlich gestellt und schriftlich begründet worden. Sie waren nicht nur den Mitgliedern meiner Fraktion, sondern auch den Mitgliedern aller anderen Fraktionen dieses Hauses zugänglich, desgleichen der Öffentlichkeit und der Presse. Niemals ist darüber in der Fraktion irgendeine Bemerkung gemacht worden, genauso wie niemals, zu keiner Zeit, in der Fraktion irgendein Druck in irgendeiner Form auf irgendeinen Abgeordneten der sozialdemokratischen Fraktion ausgeübt worden ist. Gerade deshalb, weil die dann von der Fraktion gefällten Entscheidungen mit eindrucksvollen Mehrheiten in allen wichtigen Punkten gefallen sind und weil ich weiß, daß Geschlossenheit und Schlagkraft einer Partei im Parteienkampf — das ist ja in einer parlamentarischen Demokratie nichts Verächtliches — wichtig sind, fällt es mir schwer, nicht nur gegen meine Fraktion zu stimmen, sondern auch gegen den Beschluß zu sprechen.

Es ist heute in der Debatte gelegentlich von einem Zeitdruck gesprochen worden, unter dem wir uns entscheiden müßten. Ich glaube nicht, daß man von einem solchen Zeitdruck bis zur zweiten Lesung sprechen kann. Ich glaube jedoch, daß es vielleicht nützlich gewesen wäre, wenn wir etwas mehr Zeit gehabt hätten. Das hätte uns auch Gelegenheit gegeben, einige der übertriebenen, verzerrten, teilweise völlig unrichtigen Behauptungen zu widerlegen, die draußen zur Mobilisierung des Widerstandes gegen diese dritte Lesung verbreitet wurden. Ich möchte den Urhebern dieser Behauptungen, die ja subjektiv in gutem Glauben handeln können, doch zu bedenken geben, ob eine antiautoritäre Bewegung, die nach dem Anspruch, den sie an sich selbst stellt, angetreten ist, um Demokratie und Aufklärung zu erzwingen, um die sich im Interesse der Herrschenden vollziehende Manipulierung der Massen zu durchbrechen und durch rationale und inhaltliche Diskussion politischer Grundfragen zu ersetzen, nicht mit ihrem eigenen Anspruch in Widerspruch gerät, wenn sie nun ihrerseits leichtfertig mit der Wahrheit umgeht.

Die von den Verteidigern dieser Vorlage allerdings hier unddort betriebene Verharmlosung des Inhalts einiger Vorschriften ist ebenfalls kaum geeignet, bei intelligenten und informierten Gegnern aufklärende Wirkung zu erzielen. Viel eher werden diese ihrerseits daraus ein Recht auf extreme Übertreibung herleiten, was die notwendige Kommunikation zwischen beiden Gruppen natürlich nicht gerade erleichtert und den interessierten Staatsbürger, der bereit und willens ist, sich über Inhalt, Bedeutung und Anwendung dieser Gesetze informieren zu lassen, in ziemlicher Verwirrung zurücklassen muß.

Wie schwer es ist, sich über diese Dinge eine klare Meinung zu verschaffen, haben wir, Herr Moersch, heute morgen an der Art und Weise gesehen, wie Sie hier über den Art. 80 a diskutiert haben. Der Art. 80 a – wir sind alle nicht in ihn verliebt – stellt doch eine Verbesserung der augenblicklichen schlechten Rechtslage dar. Mir kommt hier ein Wort von Marx in den Sinn, und Marx ist ja neuerdings auch für Sie akzeptabel: (Heiterkeit) daß die Menschen ihre eigene Geschichte machen; aber das machen sie nicht frei, sondern sie machen sie unter bestimmten vorgefundenen Bestimmungen. Zu den Bedingungen, unter denen die Regierung der Großen Koalition und meine Fraktion Geschichte machen müssen — und es kann ja kein Zweifel darüber bestehen, daß wir heute eine Entscheidung von geschichtlicher Bedeutung treffen —, gehört auch die schlechte Rechtslage, die Sie mit zu verantworten haben. Es waren Ihre Minister, die den Entwurf vorgelegt haben; es war die Mehrheit Ihrer Fraktion, die den Sicherstellungsgesetzen zugestimmt hat, die der Regierung heute jede Möglichkeit zum Handeln geben. Es wird der Art. 80 a sein, der die Möglichkeiten der Regierung einschränkt und nicht erweitert. Nur eine kleine radikale Minderheit bei Ihnen hat dagegen gestimmt; (Zuruf von der FDP) dazu gehörten Herr Busse, Herr Dorn, Herr Moersch und Herr Dr. Rutschke. Die große Mehrheit der damals anwesenden FDP-Abgeordneten, darunter die Abgeordneten Dr. Bucher, Dr. Dahlgrün, Freiherr von Kühlmann-Stumm, Dr. Mende, Mischnick und Schultz haben für diese schlechten Gesetze, mit denen wir uns jetzt auseinandersetzen müssen, gestimmt. Das ist die Rechtslage. (Zuruf von der FDP: Welche Gesetze?) — Die Sicherstellungsgesetze! Ich bitte Sie, das im Protokoll nachzulesen.

Es hat in diesem Hause Versuche gegeben, die Notstandsgesetzgebung durch demokratische und rechtsstaatliche Sicherung gegen etwaigen Mißbrauch abzusichern. Diese nicht nur aus der SPD-Fraktion heraus unternommenen Versuche haben in der vorliegenden Fassung ihren Niederschlag gefunden. Ich hoffe, niemand wird das verkennen. Einer anderen, weniger rechtsstaatlichen Lösung hätte die SPD-Fraktion nicht zugestimmt.

Niemand sollte auch den Vorteil für die Sicherheit und den Bestand unserer Demokratie verkennen, der darin liegt, daß durch die Verabschiedung dieses Gesetzes die außerordentlich gefährliche Konstruktion: alliierte Vorbehalte, Übertragung und Regieren mit Schubladengesetzen beseitigt wird und ihre politischen Grundlagen endgültig zerstört werden. Der Herr Bundesaußenminister hat heute morgen dazu das Erforderliche gesagt.

Ich bin jedoch der Meinung, daß die vorliegende Fassung gleichwohl den an eine wirklich demokratische Notstandsverfassung zu stellenden Anforderungen leider nicht in jeder Hinsicht gerecht wird. Einige Punkte sind für mich so schwerwiegend, daß ich nach sorgfältiger Abwägung aller in Betracht zu ziehenden Faktoren insgesamt nicht zustimmen kann. Diese Entscheidung war nicht einfach. Es sind aber Grundrechtseinschränkungen vorgesehen, die ich nicht für gerechtfertigt halte.

Erstens. Es ist verfassungsrechtlich, glaube ich, nicht vertretbar, Eingriffe in das Post- und Fernmeldegeheimnis dem Betroffenen — sofern eine individuelle Kontrolle vorliegt — auch nachträglich nicht mitzuteilen und den Rechtsweg völlig auszuschalten. Es gibt Verfassungsrechtler, die — so scheint mir — mit guten Gründen darlegen, daß hier eine verfassungswidrige Verfassungsnorm geschaffen werden soll.

Zweitens. Die Freizügigkeit soll auch zur Abwehr einer Gefahr für den Bestand und die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes eingeschränkt werden können. Es ist nie ausreichend — oder wenigstens für mich nie befriedigend — dargelegt worden, warum die bestehenden Möglichkeiten nicht genügen und warum die Exekutive diese zusätzlichen Ermächtigungen haben soll.

Drittens. Die durch Art. 12 des Grundgesetzes gewährleistete Berufsfreiheit wird durch den neuen Art. 12 eingeschränkt. Für bedenklich halte ich dabei das vorgesehene Verbot, den Arbeitsplatz zu wechseln oder aufzugeben. Ich bin übrigens skeptisch, ob Art. 9 Abs. 3 Satz 3 des Grundgesetzes geeignet ist, eine Anwendung dieser Bestimmung gegen Streiks in jedem Fall auszuschließen.

Viertens. Die vorgesehene Schutzklausel für Arbeitskämpfe führt, wenn man die augenblickliche Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zugrunde legt, im Gegensatz zur Lösung in den anderen großen EWG-Ländern Aussperrung und Streik gleicherweise in unser Grundgesetz ein, allerdings ohne die faktische, ökonomische, moralische und politisch-ethische Verschiedenheit der beiden Kampfmaßnahmen schon dadurch zu einer rechtlichen Gleichrangigkeit machen zu wollen. Sie verhindert nicht eindeutig, daß auch Streiks, die zum Schutz der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen geführt werden — übrigens eine sehr enge Auslegung des Streikbegriffs —, beeinträchtigt werden können.

Fünftens. Der künftig mögliche Einsatz unserer Streitkräfte im Innern bedeutet eine Erweiterung oder sogar eine drastische Änderung ihres Auftrags. Die Bundeswehr könnte in innerpolitische Auseinandersetzungen hineingezogen werden, eine Aussicht, die nicht nur vielen Soldaten und Offizieren äußerst unsympathisch ist. Für viele unserer Soldaten ist ein bürgerkriegsähnlicher Einsatz der Bundeswehr nicht einmal als Denkalternative vorstellbar.

Der sogenannte Objektschutz schließt bei entsprechender, weit hergeholter Auslegung der gefundenen Formulierung nicht aus, daß die Bundeswehr in Zukunft Einsätze zum Betriebsschutz in einer Form probt, die die Beschränkung von Streiks mit umfaßt. Einsätze zum Betriebsschutz könnten auch erfolgen, wenn einmal eine zukünftige Bundesregierung einen wirtschaftlichen Arbeitskampf als politischen Streik interpretiert.

Ferner könnte diese Bestimmung so ausgelegt werden, als gäbe sie den Auftrag, eine Art Vietnam-Kriegführung in der Bundesrepublik vorzubereiten. Diese ohne ausreichende Diskussion, Konsultation und Reflexion der einem solchen Auftrag zugrunde liegenden politischen und militärischen Konzeption vorgenommene unklare Änderung des Kampfauftrags unserer Soldaten muß diese notwendigerweise in neue Ungewißheiten stürzen.

Sechstens. Problematisch ist auch die vorgesehene Regelung des Spannungsfalls und des sogenannten Bündnisfalls. Der Spannungsfall ist nicht definiert; das jetzt bestehende Bündnissystem kann ersetzt werden durch andere zwischenstaatliche Verträge; das Aufhebungsrecht des Bundestages ist im Bündnisfall erschwert. Die vorliegende Fassung des Gesetzes weist trotzdem — ich sagte es schon — gegenüber dem Regierungsentwurf wesentliche Verbesserungen auf. Das kann und will doch wohl niemand bestreiten. Gerade weil sie auch eine Reihe positiver Regelungen enthält, ist eine Schwarz-Weiß-Beurteilung nicht mehr möglich . . .

Mit den Entwürfen früherer Bundesregierungen hat dieses Gesetz kaum irgend etwas gemein. Die Verbesserungen sind auch ein Verdienst — das muß hier fairerweise auch einmal gesagt werden — der außerparlamentarischen Protestbewegung. Durch die lebhafte, kritische und ernsthafte Beteiligung einer breiten demokratischen Öffentlichkeit und engagierter Wissenschaftler an der Diskussion wurde in diesem Hause ein Klima geschaffen, das jedenfalls in meiner Sicht der Dinge die Durchsetzung von Änderungsanträgen ganz wesentlich erleichtert hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD.)

Wenn jetzt von einigen Gruppen außerhalb der etablierten Großorganisationen die Ergänzung von Aufklärung und Diskussion durch offenen Widerstand gefordert wird, so müßte im weitgehend entpolitisierten Klima der Bundesrepublik dieses kritische, demokratische, wache Oppositionsbewußtsein trotz aller Bedenken, trotz aller Sorgen, die für manche von uns entstehen — übrigens auch für manche außerhalb dieses Hauses, die das eigentlich nicht erwartet hatten —, eigentlich begrüßt werden. Die radikal-demokratische Motivation der Protestierenden und das manifest gewordene Mißtrauen gegen die Schaffung von Möglichkeiten für rechtswidrig ausgeübte staatliche Gewalt ist doch etwas, was wir uns gemeinsam mit allen Demokraten in diesem unserem Land immer gewünscht haben.

Diese Aktionen können sich allerdings nicht ausdrücklich auf Beschlüsse von Gewerkschaflstagen stützen. Gewerkschaftstagsbeschlüsse haben ja wohl in dieser Diskussion bisher keine unwichtige Rolle gespielt. Mit aller notwendigen Klarheit beschloß der Essener Gewerkschaftstag der IG Metall schon im Jahre 1962 — ich weiß, das ist für einige unserer jugendlichen Demonstranten allerdings graue Vorzeit — mit überwältigender Mehrheit, gegen formalrechtlich korrekt zustande gekommene Notstandsgesetze nicht zu streiken. Der Vorsitzende der IG Metall, Otto Brenner, erklärte noch einmal am 9. Mai dieses Jahres auf der Jugendkonferenz der IG Metall in Köln: „Generalstreik gegen die Notstandsgesetze bedeutet, daß wir einen politischen Kampf aufnehmen wollten, der in seiner Konsequenz dahin führen müßte — diesen Gedanken einmal zu Ende gedacht —, daß wir in der Bundesrepublik zum Absturz und zur Ablösung des gegenwärtigen parlamentarischen Systems gelangen würden. Das ist von niemandem gewollt, das hat niemand beabsichtigt, und dem werden wir auch nicht das Wort reden.” Soweit Otto Brenner.

Ich kann nur hoffen, daß einige der Befürworter der Anwendung von Gewalt das in diesem wie in anderen Völkern aufgestaute, von rechten Extremisten mobilisierbare Aggressions-, Brutalitäts- und Repressionspotential nicht unterschätzen.

Wer sich wundert, daß der Widerstand gegen die Notstandsgesetzgebung einen so überraschend großen Widerhall gefunden hat, der sollte sich fragen, ob dieses positive Echo nicht darauf zurückzuführen ist, daß hier eine Summierung von Faktoren vorliegen muß. Große Gruppen unserer Bevölkerung glauben einfach nicht mehr, Einfluß auf die Entscheidungen der Führungsgremien formal demokratisch aufgebauter Organisationen nehmen zu können. Der einzelne Bürger bezweifelt in zunehmendem Maße, ob die Bürokratien von Staat, Wirtschaft, Parteien, Unternehmen und Gewerkschaften noch von ihm beeinflußbar sind. Die Radikalisierung des Protestes, insbesondere bei den Jugendlichen und Studenten – und das sind ja, vielleicht könnten Sie sich in einer stillen Stunde diesen Aspekt der Angelegenheit einmal durch den Kopf gehen lassen, nicht in ihrer überwältigenden Mehrheit Kinder sozialdemokratischer Wähler —, entspringt nicht zuletzt auch der Tatsache, daß wir uns verpflichtet fühlten oder uns gegenseitig gezwungen haben, die Wahlkämpfe nach den Prinzipien kommerzieller Reklame und nicht auf der Grundlage differenzierter politischer Argumentationen zu führen.

Nicht zuletzt signalisieren diese Proteste ein allgemeines Unbehagen an der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik. Die Debatte um den Bildungsnotstand wurde jahrelang als Hysterie abgetan, so daß wir jetzt auf die subjektiven und objektiven Konsequenzen der explosiven Entwicklung in den Wissenschaften nicht vorbereitet sind. Planung und Vorausschau waren jahrelang nicht respektable Wörter. Die Sozialreform verfranste sich in Kostenbeteiligungsplänen und ähnlichem.

In den letzten Jahren sind eine Reihe zentraler Konflikte und Probleme dieser Gesellschaft in den demokratischen Institutionen, in Parlamenten, Parteien und Organisationen nicht mehr voll ausdiskutiert worden. Man könnte sogar davon sprechen, daß sich das Klima für ernsthafte politische Diskussionen, z. B. durch die viel zu lange betriebene systematische Verketzerung politischer Gegner und durch die Diskriminierung politischer Minderheiten, verschlechtert hat. Zu den nicht ausdiskutierten oder nicht als diskussionsfähig betrachteten zentralen Konflikten und Problemen gehören u. a. die von den Regierungen nicht betriebene systematische Aufklärung der Bevölkerung über die Folgen eines nuklearen Vernichtungskrieges in Mitteleuropa, unsere Stellung zum Bürgerkrieg in Vietnam, zu den in Europa bestehenden oder neu entstandenen, unsere Freiheit angeblich mitverteidigenden Diktaturen oder autoritären Systemen in Griechenland, Portugal und Spanien. Zu den in der politischen Diskussion tabuisierten Themen gehörten auch die unterbliebene Demokratisierung unserer Universitäten und Schulen, faktische Bildungsprivilegien und Bildungsbarrieren in unserem Lande, die Entstehung von Monopolen im Pressewesen und die damit verbundene Einschränkung der Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit und jetzt wieder als neuestes Beispiel aus dieser Debatte die Konsequenzen des in Art. 87 a Abs. 4 vorgesehenen Einsatzes der Bundeswehr im Innern und die daraus sich ergebenden Rückwirkungen auf die Normalzeit.

Wer die Gesetzgebung in Bund und Ländern seit 1949 aufmerksam verfolgt, wird feststellen müssen, daß die für Grundrechte bestehenden Einschränkungsmöglichkeiten immer stärker ausgenutzt wurden. Eine wirklich genaue Aufstellung oder gar eine geschlossene Analyse aller seit 1949 vorgenommenen Grundrechtseinschränkungen gibt es bezeichnenderweise nicht. Gäbe es sie, sie würde manchen der hier Anwesenden zum Erstaunen bringen. Die wahre Bedeutung dieser Grundrechtseinschränkungen kann zudem nur im Zusammenhang mit der Gesamtentwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft in der Bundesrepublik richtig beurteilt werden. Dazu gehört die mit der Unternehmenskonzentration parallel laufende Zusammenballung großer Vermögen in wenigen Händen genauso wie die schon erwähnten Monopolbildungen im Pressewesen, die Aushöhlung der Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer sowie eine Arbeitsrechtsprechung, die Bewegungsspielraum und Kampfmöglichkeiten der Gewerkschaften immer mehr einzuschränken versucht.

Durch dieses von uns heute zu verabschiedende Gesetz wird nun — daran kann doch wohl auch bei denjenigen von uns, die die vorliegenden Entwürfe uneingeschränkt bejahen, kein Zweifel bestehen — der Prozeß der vielleicht unbeabsichtigten Erosion und Minimalisierung unserer Grundrechte — manch-mal sogar ohne eine aus der zu regelnden Sache sich ergebende Notwendigkeit — wieder ein kleines Stück vorangetrieben. Manchmal scheint es nur fehlende organisatorische Phantasie oder die mangelnde Bereitwilligkeit, finanzielle Mittel einzusetzen, zu sein, die uns veranlassen, Grundrechte einzuschränken. Dieser einseitigen Einschränkung, die insbesondere die Arbeitnehmer trifft, steht keine vergleichbare Ausweitung von Grundrechten auf anderen Gebieten gegenüber und — was genauso bemerkenswert ist — in Zeiten angeblich gemeinsamer Not auch keine Einschränkung von Verfügungsmacht oder von Gewinnchancen, die sich aus dem Privateigentum an den Produktionsmitteln ergeben.

Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß wir hier nicht Gesetze verabschieden, die erst durch ihre Anwendung Bedeutung bekommen. Auch wenn diese Gesetze in unserer Zeit nicht angewandt werden sollten — wir wollen uns ja alle Mühe geben, und der Herr Bundesaußenminister und Vizekanzler hat das heute morgen eindrucksvoll dargelegt, eine Politik der Entspannung, der Abrüstung und der sozialen Reformen zu betreiben, die Zustände herbeiführt, in denen die Anwendung nicht nur überflüssig, sondern geradezu unmöglich wird —, so wird doch durch ihre bloße Existenz die gesellschaftliche und politische Realität der Bundesrepublik unmerklich verändert und in unseren Behörden die Schubladenverordnungsmentalität nicht vollständig beseitigt, die sich, in den Worten des DGB, nur das „Konzept einer perfektionistischen, bürokratisch gesteuerten und auf obrigkeitsstaatliche Reglementierung abgestellten Notstandsplanung” als möglich vorstellen kann. Hinzu kommt, daß diese Gesetze als Gesamtkomplex unter Umständen geeignet sein könnten, denjenigen in die Hände zu arbeiten, die „Ordnung” und „Unbeweglichkeit” mit Demokratie verwechseln.

Wenn ich also dieses Gesetzgebungswerk auch als Teil einer — keineswegs bewußt geförderten — schleichenden Entdemokratisierung auffassen muß, so bin ich doch gleichwohl nicht der Meinung, mit seiner Verabschiedung werde eine hier und heute schon vorliegende, unmittelbare, akute Gefahr für den Bestand unserer Demokratie geschaffen, und schon gar nicht eine Gefahr für den Frieden. Wie könnte dieses Gesetzgebungswerk den Frieden gefährden, wenn z. B. in Zukunft, im Gegensatz zur augenblicklichen Rechtslage, über Mobilmachungsmaßnahmen eben nicht mehr frei von der Exekutive der Bundesrepublik entschieden werden kann? Es besteht aber die Möglichkeit des Mißbrauchs. Ob es allerdings zu Mißbrauch kommen kann, in Situationen, die wir alle nicht vorhersehen können, wird letzten Endes davon abhängen, wie sich von nun an in der Bundesrepublik die gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse entwickeln. Was ich jetzt sage, wird vielleicht manchen im Lande und in diesem Hause zum Widerspruch veranlassen; es ist aber trotzdem wahr. Gerade weil es nach Verabschiedung dieses Gesetzes Möglichkeiten des Mißbrauchs geben könnte, brauchen wir in Zukunft eine Stärkung der demokratischen Kräfte in diesem Lande, und niemand wird es mir übelnehmen, wenn ich dazu vorzugsweise die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und die Gewerkschaften zähle. Ich kann deshalb nur hoffen, daß einige der Organisatoren des Widerstandes gegen eine Notstandsgesetzgebung nicht die Entwicklung so gelenkt haben, wie sie in den letzten Tagen verlaufen ist, weil sie in Wirklichkeit in der nächsten Phase der Entwicklung eine Schwächung gerade dieser Kräfte im Sinn haben.

Der lange, weite Bevölkerungskreise erfassende, zum Teil erfolgreiche Kampf gegen eine die Grundrechte unnötig einschränkende Notstandsgesetzgebung hatte sicher doch auch die positive Wirkung, die Bedeutung der Grundrechte für die Stabilität unserer Demokratie mit großer Eindringlichkeit in das Bewußtsein der Masse der Arbeitnehmer zu heben. Es wird jetzt von vielen Bürgern klarer als vorher gesehen, daß die in unserer Verfassung verankerten Grundrechte nicht unabänderlich sind, daß ihre Festlegung in aller Regel das Ergebnis von Auseinandersetzungen zwischen sozialen Kräften ist, daß man diese Rechte schmälern oder ausweiten, angreifen oder verteidigen kann.

Wer gemeinsam mit uns in diesem Hause die Demokratisierung aller Lebensbereiche unserer Gesellschaft anstrebt, der hat keinen Grund, nach der Verabschiedung dieser Gesetze zu resignieren. Jetzt ist vielmehr die Zeit, zur Offensive überzugehen und das durch Kritik, Diskussion und Protest geschaffene demokratische Potential zu nutzen zum Kampf für die Ausweitung und Festigung der politischen Demokratie, zur Demokratisierung der Hochschulen, zum Kampf für die Erweiterung des Freiheitsbereichs des einzelnen Arbeitnehmers an seinem Arbeitsplatz und im Betrieb, aber auch zum Kampf um reale und nicht nur formale Demokratie in unseren Parteien und Gewerkschaften. Letzten Endes hat die Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze auch gezeigt, daß es für die Gewerkschaften angebracht wäre, sich zu überlegen, wie sie ihre organisatorischen Möglichkeiten in größeren politischen Einfluß in den Parteien umsetzen könnten. Beide Regierungsparteien könnten nach meiner Auffassung dadurch nur gewinnen.

Auch der Deutsche Bundestag steht vor der dringenden Aufgabe, zu einer Demokratisierung unserer Institutiorien beizutragen. Wir sollten noch in diesem Jahre das von der SPD-Fraktion vorgelegte Gesetz über den politischen und staatsbürgerlichen Bildungsurlaub verabschieden. Nachdem wir ein unserem heutigen Demokratieverständnis entsprechendes politisches Strafrecht geschaffen haben, sollten wir dem französischen Beispiel und den Anregungen unseres Bundesjustizministers im Sinne der gestrigen Ausführungen des Abgeordneten Dr. Arndt folgen und schnell ein Gesetz verabschieden, das denjenigen eine Amnestie bringt, die unter dem übermäßig harten politischen Strafrecht der vergangenen Jahre gelitten haben, und das — auf beiden Seiten — auch jene erfaßt, die im Zusammenhang mit den politischen Unruhen seit dem 2. Juni des vergangenen Jahres Straftaten begangen haben, wobei ich selbstverständlich Tötungsdelikte und Brandstiftung ausnehme.

Lassen Sie mich zum Schluß der Hoffnung Ausdruck geben… daß mit der Verabschiedung dieser Gesetze auch jene Ära der deutschen Politik beendet sein möge, in der alternative Lösungsvorschläge der jeweiligen parlamentarischen Opposition, etwa zur Sicherung des Friedens, d. h. zur Erhöhung der Überlebenschance unseres Volkes, von der jeweiligen Regierungspartei zu Schlaginstrumenten in der innerpolitischen Auseinandersetzung, um einen neuen Ausdruck zu gebrauchen: umfunktioniert werden konnten.

Ich bin einigermaßen sicher, daß diese Hoffnung in beiden Regierungsfraktionen weit verbreitet ist.

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