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Armut und Menschen­würde

vorgängevorgänge 7302/1985Seite 23-31

aus vorgänge Nr. 73 (Heft 1/1985), S. 23-31

Vor etwa zwei Jahren wurde Ronald Reagan von Reportern auf die sich immer noch verschlechternde Lage der Armen in den Vereinigten Staaten angesprochen. In seiner  Antwort vermied er das Wort »arm« und sprach stattdessen von den Nicht-reichen, the non-rich. Diese Ausdrucksweise hat mich schockiert, obwohl mir schon bekannt war, daß die einzige Fremdsprache, die Reagan beherrscht, das Orwellsch ist. Was bedeutet es; habe ich mich gefragt, wenn jemand das Wort »arm« nicht mehr in den Mund nimmt? Gehört es zu den schmutzigen Vier-Buchstaben-Wörtern, die man besser nicht benutzen sollte? Die Sprachverrenkung signalisiert ein neues politisches Paradigma. Vor allem drückt sie eine Verleugnung von Realität aus: die Armen sind gar nicht arm. Es gibt gar keine Armen in den USA. Es gibt keinen Hunger, wie der Präsident bei anderer Gelegenheit scherzte, die Leute sind nur gerade bei einer speziellen Diät. Die Realität darf nicht gesehen und benannt werden, und die wichtigsten Medien in den USA folgen diesem Szenario: Die Nichtreichen sind nicht sichtbar, sind Nichtpersonen. Reden von den »Nicht-reichen« enthält zugleich einen Angriff auf die Würde der Armen; das, was ich ihre spirituelle Wirklichkeit nennen möchte, muß ebenfalls »neutralisiert« werden.

Das Wort  »arm« enthält ja vielfältige Konnotationen und gefährliche Erinnerungen an eine andere Lebensform. In den germanischen Sprachen hängt »arm« mit »lieb« zusammen und wird auf »mitleidenswert« und »verlassen« zurückgeführt, wie wir das aus umgangssprachlichen Wendungen (‚ein armer Tor‘, ‚ein armer Hund‘) noch kennen. Im Kölschen gibt es eine schöne Wendung, um auszudrücken, daß es einem psychisch schlecht geht: »Ich han et arm Dier.« Diese Ausdrücke entsprechen einer jüdisch-christlichen Mitleidtradition, die im kalkulierten Sozialabbau der Wende keinen Platz mehr haben darf. Der Nationale Kirchenrat in den USA hat schon 1981 in seinem »Wort an die Kirchen« programmatisch erklärt:

»Die neue Regierung verlangt von uns, unser bisheriges Verständnis, nämlich daß eine Regierung grundsätzlich verantwortlich dafür sei, ‚die allgemeine Wohlfahrt zu fördern‘, zu revidieren…. Die Politik der neuen Regierung zielt nicht nur darauf ab, die sozialen Leistungen zu beschneiden, sondern leugnet auch, daß die Menschen ein Recht darauf haben.« (FR 16.9.1981, S. 14).

Die USA hat in den letzten Jahren, was das soziale Netz angeht, allmählich einen vorrooseveltschen Zustand erreicht. Die Regierung erhebt gar nicht mehr den Anspruch,  die ganze Gesellschaft zu fördern und hat den nationalen Traum einer gerechten Gesellschaft, eines neuen Jerusalems ohne Ausbeutung und Sklaverei aufgegeben und sich  von seinen Wurzeln in Christentum und Aufklärung gelöst. Seit Beginn der 80er Jahre werden immer größere Anteile der Bevölkerung systematischer Verelendung unterworfen. (Siehe auch den Beitrag von Margit Mayer, Seite 15). Mitten im Überfluß, der die reichen Industrienationen weiter kennzeichnet, breiten sich in Europa und Nordamerika Armut und Hunger aus, während die Nahrungsmittelproduktion gleichzeitig mit Zuschüssen aus Steuergeldern reduziert wird. Aber diese wachsende Minorität darf nicht allzu sichtbar werden; es gibt keine Armen, nur einige Nicht-reiche.

Ohne Zweifel sind Armut und Reichtum außerordentlich relative Begriffe, die in verschiedenen Gesellschaften und zu anderen Zeiten sehr unterschiedliche Bedeutungen haben. Um sie sinnvoll zu verwenden, müssen wir lernen, kontextuell, relational und postmaterialistisch zu denken. Das sind methodische Voraussetzungen, die ein Diskurs über die neue Armut hoffentlich erfüllen wird. Mit ‚kontextuell‘ meine ich den Lebenskontext, innerhalb dessen die kalkulierte Verarmung stattfindet, also z.B. den Unterschied zwischen entlassenen älteren Arbeiterinnen und Jugendlichen, die von der Arbeitserfahrung überhaupt ausgeschlossen werden. ‚Relational‘ heißt ‚in Beziehung stehend‘: man kann nicht über die neuen Armen reden und über die Reichen schweigen. Deswegen ist der karikative Ansatz mit staatlichen Hilfsprogrammen etwa so sinnvoll, als wolle man Schwerkranke mit Schmerztabletten heilen. Mit ‚postmaterialistisch` möchte ich (vorsichtig) die herkömmliche Identifikation von Arbeit mit Lohnarbeit in Frage stellen; die Menschenwürde muß anders begründet werden als im Lohnerwerb, und die Menschenrechte müssen neu, den bürgerlichen Rahmen von Religions-, Presse-und Versammlungsfreiheit überschreitend, definiert werden.

Diese Vorüberlegungen sind notwendig, schon um uns vor dem alles nivellierenden Relativismus zu retten. »Was heißt schon arm? Gemessen an Kalkutta…« ist zynisches Gerede für beide Gruppen, den Verhungernden der Zweidrittelwelt wie den neuen Armen in der reichen Welt gegenüber.

Gehen wir von anerkannten sogenannten Grundbedürfnissen von Menschen aus: Nahrung, Gesundheit, Bildung, Wohnung, Kleidung, Arbeit und Kommunikation sind Bedürfnisse, deren Beeinträchtigung oder Verweigerung Menschen »arm« macht, sie verelenden läßt oder sie vernichtet. Bekanntlich gibt es »viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Selbstmord treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staate verboten.« (Bert Brecht, Gesammelte Werke 12, 466). In diesen Bemerkungen Brechts ist die Würde des Menschen vorausgesetzt. Ein kontextuelles Denken versucht, die Situation der Armut in Beziehung zu setzen zur menschlichen Würde. Der Vergleich mit Kalkutta ist für die Obdachlosensiedlung am Rand unserer Großstädte ganz unangebracht; die Fragen, die wir wirklich stellen müssen, sind: Wann wird Armut entwürdigend? Unter welchen Bedingungen zerstört sie die Würde des Menschen?

Nicht jede Form von Armut hat diese destruktive Qualität. Anfang November 1984 hielt der dann zum Staatspräsidenten gewählte Daniel Ortega in Nicaragua eine Rede, in der er den Zuhörern die ganze Härte des Krieges und der Vernichtungsdrohung durch die USA klarmachte. Er habe nichts zu versprechen als »Bohnen, Reis und menschliche Würde« sagte Ortega. Und eine der großen Faszinationen Nicaraguas für den Besucher aus der reichen Welt besteht gerade darin, daß er hier überall extreme Armut sieht, daß sie aber in den allermeisten Fällen nichts Entwürdigendes hat — vor  allem, weil sie kollektives Schicksal, nicht Bestrafung einzelner Individuen ist. Ein Drittel der Bevölkerung Managuas lebt in den oft aus Blech, Holz und ein paar Steinen aufgebauten Hütten der Armen. Es sind »slums«, aber nicht vergleichbar mit denen, die ich in Mexico City, in Santiago de Chile oder Buenos Aires gesehen habe. Im neuen Viertel El Retiro zum Beispiel haben alle Hütten Elektrizität, der Abfall liegt nicht auf den Lehmwegen; Wasserstellen sind über das ganze Gebiet verteilt; die meisten Leute tragen Schuhe. »Was bedeutet Revolution für dich?«, fragte ich eine junge Frau, Mutter von sechs Kindern, am Stadtrand von Managua. »Meine Kinder werden etwas lernen«, sagt sie, und ein barfüssiges schönes Kind vor der Einraumhütte aus ein bißchen Holz und Blech erklärt mit einer Arroganz, die Fünfjährige manchmal aufbringen, daß sie später studieren und Doktor werden wird.
Es gibt Formen von Armut, die die Würde des Menschen nicht zerstören, und die christliche Tradition läßt sich nur dann verstehen, wenn wir von dieser Möglichkeit ausgehen. Warum sind dann die bei uns auftauchenden Formen der neuen Verarmung, warum ist unsere Armut der Alten, der Frauen, der Kinderreichen, der Arbeitslosen, der Unbeschäftigbaren so anders und so zerstörerisch? Unter welchen sozialen und psychosozialen Bedingungen zerstört Armut die Würde des Menschen?
Ich will darauf mit einer Fallbeschreibung antworten.

Herbert, ein entfernter Verwandter von mir, jetzt 55 Jahre alt, war fast zwei Jahre arbeitslos. Er ist Gipser von Beruf, ein Rest von handwerklicher Tätigkeit im kleinen Team ist da, er hatte eine starke loyale Bindung an die Firma, für die er tätig war. Seine Angst, daß diese Firma pleite machen könnte, war so groß, daß er zu einem relativ späten Zeitpunkt noch Geld in das Unternehmen steckte, um es zu retten.
Das Unternehmen und sich selber, wollte er retten. Beides mißlang. Er hat in diesen 20 Monaten eine Erfahrung der Sinnlosigkeit gemacht, die anderen, die außer der Arbeit andere Formen des Selbstausdrucks gelernt haben, fremd bleiben muß. Herbert kannte nichts als seine Arbeit. Als sie weg war, war sein Leben weg. Es fand gar nichts mehr statt. Es war nicht in erster Linie ein finanzielles Problem, er arbeitete gelegentlich schwarz und kam einigermaßen hin, das Häuschen ist fast abbezahlt, die Kinder selbständig. Es war ein existenzielles Problem, eine Frage nach dem Sinn des Lebens. Herbert saß während dieser Zeit herum. Er rauchte mehr als je, eine nach der anderen. Er nahm ab. Er las früher nicht, warum sollte er jetzt lesen. Er ist früher nie in Urlaub gefahren, hielt es woanders immer nur zwei oder drei Tage aus, ohne Arbeit schon gar nicht, warum sollte er jetzt herumreisen. Er wurde zunehmend agressiver zu seiner Frau. Zu den beiden heranwachsenden Töchtern war er schon vorher agressiv; jetzt sprach er fast nicht mehr mit ihnen. In seiner kleinen Firma hatte er ein besonders gutes Verhältnis zu den dort arbeitenden Italienern und Jugoslawen. Er beschützte sie vor Ungerechtigkeiten. Seitdem er arbeitslos war, redete er nur noch verbal-agressiv gegen sie, schimpfte über die Ausländer. Ebenfalls verschärft hat sich sein Verhältnis zu den gesellschaftlichen Institutionen, er war zwar schon immer mißtrauisch, fühlt sich aber erst jetzt, als älterer Arbeitsloser, von allen Parteien gleichermaßen verraten. Fast könnte man das große Wort Staatsverdrossenheit auf ihn anwenden. Sicher handelt es sich um eine Sinnkrise.

Arbeit ist ein Teil unserer Sinnerfahrung. Sie stellt unsere Selbstachtung her. Für Her bert war die Selbstachtung massiv bedroht, als ihm die Arbeit genommen war. Sie hatte ihm Wert verliehen, vor anderen und vor sich selber, sie hatte ihn integriert in das Leben der Familie, ihm Beziehung gegeben zu den Kollegen am Arbeitsplatz und den größeren gesellschaftlichen Institutionen. Als die Arbeit weg war, war plötzlich der Zusammenhalt weg. Die Maschinerie seines Lebens funktionierte nicht mehr, der Rhythmus war weg, die gute Müdigkeit, das Miteinanderreden am Abend. Das Bier schmeckte anders. Als die Arbeit weg war, stellte sich plötzlich heraus, daß Herbert kein Mensch war ohne sie.

Sicher gibt es Leute, die schlimmer reagieren auf den Verlust oder gar auf die Aussichtslosigkeit, eine Arbeit zu finden. Jugendliche, die von der Sinnlosigkeit ihres Lebens bedroht und überwältigt werden, fangen an, Telefonhäuschen zu zerstören, zu  saufen, kriminell zu werden. Das sind agressivere Formen desselben Krisenphänomens: Aber auch ohne diese Auffälligkeiten ist die Sache schlimm genug. Herbert ist, so will ich als These formulieren, auf doppelte Weise um sein Leben betrogen. einmal durch Arbeitslosigkeit, und zwar durch die zunehmend strukturelle. In unserer Gesellschaft hat er kein einklagbares Recht auf Arbeit, er muß vielmehr immer mit dem Verlust seines Arbeitsplatzes rechnen. Er steht unter der Drohung, wieder gehen zu müssen. Diese Drohung nimmt ihm die Sicherheit, das selbstverständliche Vertrauen in eine Gesellschaft, in der jeder seinen Platz hat und gebraucht wird. Nichts ist selbstverständlich, das Arbeitenkönnen sowenig wie das Luftholen. Der Lebenszusammenhang wird im Gegenteil immer undurchschaubarer.

Die Drohung nimmt ihm auch die Freiheit, umzugehen mit anderen, Vorgesetzten und  Kollegen, wie es ihm selber entspricht. Herbert ist von Natur aus rotzfrech, er sagt unaufgefordert was er denkt und fühlt. »Ich bin so frei« ist eine seiner Redensarten, und er ist es. Aber die Drohung, unter der er lebt, nimmt ihm die Frechheit, die Spontaneität, die Wärme und die Freiheit seines Umgangs mit anderen. Er hat sich anzupassen. Seine persönliche Sicherheit und seine persönliche Freiheit, dieser zu sein, sind durch die permanente Drohung ausgehöhlt; das trifft natürlich für jüngere weniger stabilisierte Menschen erst recht zu.

An wen eigentlich ist Herbert ausgeliefert? Es ist nicht eine politische Diktatur, die ihn  bedroht, aber er erfährt am eigenen Leib und an der eigenen Seele die ökonomische Diktatur, die undurchschaubare Fremdbestimmung seines Lebens. Arbeitslosigkeit ist nur die andere Seite der Diktatur des Kapitals, unter der er lebt.
Die andere Art, auf die er um sein Leben betrogen wird, ist die Sinnlosigkeit, die in der Arbeitslosigkeit sichtbar wird. Er hat niemals gelernt, sich selber auch außerhalb der Arbeit zu verwirklichen, er selber, auch arbeitsfrei, zu sein.

Darum trifft ihn die erzwungene Verarmung besonders; sie ist demütigend. Es gibt viele Berichte über Arbeitslose, die ihre Entlassung vor Nachbarn und oft auch vor der eigenen Familie verbergen, die morgens mit dem Bus angeblich zur Arbeit fahren und abends erst zurückkommen, weil sie die Demütigung, den sozialen Ausschluß nicht ertragen. Sie erleben sich selbst als vollständig abhängig von der Willkür anderer, die über die Vernichtung von Arbeitsplätzen durch neue Technologien entscheiden. Es gibt eine Scham der Armut, die sich lieber versteckt, den Weg durch demütigende Kontrollen und Prozeduren gar nicht erst versucht. Es fehlt den Armen an Souveränität, mit dem Leben umzugehen, Beziehungen zu anderen Menschen zu benutzen, spielerische Elemente des eigenen Lebens zu entwickeln. Das kann so weit gehen, daß die allersimpelsten Fragen von Armen nicht gestellt werden, wie die Frage »Was kostet das?« Geschichten wie die von der alleinstehenden Frau, die von einem Vertreter ein Kilo Kaffee pro Woche aufgeschwatzt bekommen hat und nicht weiß, wie aus der Falle herauskommen, sind keine Seltenheit. Die Abhängigkeit der Armen hat ihnen die Mobilität und die Neugier zerstört. Die Unsicherheit des Lebens vergrößert sich damit in Unabsehbare, und zu der objektiven Unterwerfung unter soziale Kontrollen tritt die subjektive Selbstentwürdigung. Armut ist in der Tat ein besser nicht zu erwähnendes dreckiges Wort, und dieses Bewußtsein bekommen die Armen verpaßt.

Ihre Kinder lernen es beim Eintritt in die Schule. Ich erinnere mich an eine Elternversammlung in der ersten Klasse der »höheren« Schule. Die Lehrerin sagte freundlich: »Wenn irgendetwas ist, können Sie mich ja anrufen. Vielleicht sollten wir alle unsere Telefonnummern austauschen.« Ich dachte mir nichts dabei, aber neben mir saß eine verschüchterte Mutter und fragte »Muß man denn ein Telefon haben?« Sie war verunsichert von der ihr fremden Geläufigkeit, Mobilität, Kommunikationsart. Sie hatte Angst, etwas falsch zu machen und sprach, wenn überhaupt, nur zu mir. Nach einem halben Jahr war ihr Kind aus der Schule weg. Ich erzähle dieses Beispiel, um auf ein Phänomen der neuen Armut hinzuweisen, das subjektive Bewußtsein der Rechtlosigkeit. Das Bedarfsprinzip wird in der Sozialhilfe so ausgehöhlt, daß die Rechtsansprüche der Betroffenen zu Ermessensentscheidungen der Bürokratie gemacht werden; die Abhängigkeit wird vergrößert, und die Entwürdigung schlägt in Selbstentwürdigung um. Das Schulkind, für dessen Eltern die angesagte Klassenreise zu teuer ist, bleibt weg, entzieht sich, und der verhängte Ausschluß von der Wohn- und Lebensgemeinschaft wird durch viele kleine Schritte internalisiert.

Die Armen werden ausgegrenzt aus der Gesellschaft. Das geschieht in legislativen Maßnahmen, die soziale Deklassierung, Isolierung und mangelnde kulturelle oder politische Teilhabe zur Folge haben. Die Reichen wollen den Anblick der Armen nicht ertragen. Einem Bericht der New York Times entnehme ich, daß eine wachsende Anzahl reicher Ortschaften in den USA sich heute durch Mauern von den übrigen Menschen abgrenzt. Es gibt eine Architektur der »Reichen in Angst«, die bewaffnete Häuser bauen: kleine Kastelle mit hohen Hecken, scharfen Hunden und Alarmanlagen. Meist liegen diese eingemauerten Ortschaften in USA noch nicht einmal in der Nähe von Orten mit hoher Kriminalität; dennoch ist die Furcht der Reichen vor den Armen bereits so groß, daß elektronische Sicherheitsgürtel und bewaffnetes Wachpersonal notwendig werden. Die ältere Vorstellung von der Stadt, der Polis, in der freie Bürger zusammenleben, ist aufgegeben zugunsten einer Architektur der Apartheid, mittels derer die Armen unsichtbar gemacht werden. Sie sind Nonpersonen, und Reagans Ableugnung ihrer Realität spricht nur das Bewußtsein seiner Klasse aus. Es gibt keine Armen.

In Südafrika wachsen die weißen Jugendlichen in der übergroßen Mehrzahl in vollständiger kultureller Apartheid auf: sie kennen ihr eigenes Land nicht, sie wissen nichts über die Versorgung mit Wasser und Strom in den Townships wie Soweto, die Arbeitsbedingungen der Nicht-weißen sind ihnen vollständig unbekannt. Diese geistig-kulturelle Apartheid ist aber nicht nur eine Erfindung südafrikanischer Rassisten, sie ist grundlegend für die gesamte Kultur der Reichen. Es gibt z.B. ganze Theologien und auf ihnen gegründete Institutionen, in denen die Armen, die nach einer Aussage der lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Puebla (1979) »die Lieblingskinder Gottes« sind, gar nicht vorkommen, unsichtbar bleiben. Die reiche Welt braucht immer mehr Mauern, um sich gegen die Armen zu verschanzen und immer mehr Waffen, um sich gegen sie zu sichern.

Die Ausgrenzung der Armen, ihre Unsichtbarmachung ist ideologisch notwendig. Darum sind Reagans Sprachverrenkungen kein Zufall. Die Abfallprodukte, die zunehmende Marginalisierung ganz neuer Generationen von Armen wird, so gut es eben geht, verschleiert. Ungefähr zur gleichen Zeit wie die Studie des DGB über die neue Armut erschien ein Hirtenbrief der französischen Bischöfe zum Thema. »Man hat heute Hunger in Frankreich«. so beginnt diese Deklaration, und damit ist nicht eine Randerscheinung gemeint oder eine Art »Unfall« in einer sonst florierenden Wirtschaftsordnung, sondern die Realität von 600000 bis zu einer Million ganz normaler Franzosen, die im wirtschaftlichen System, das sich für die Anwendung der neuesten Technologien stark macht und Arbeitslose in Kauf nimmt, vorgegeben ist. Diese wirtschaftspolitische Entwicklung wird heute durch neue Ideologien, wie sie in der immer beliebteren philosophischen Schule der Nouvelle Droite, der Neuen Rechten, gang und gäbe sind, abgesichert. Jede Woche popularisiert das Figaromagazin auf Glanzpapier den neuen »Kult der Stärkeren«, identifiziert die Stärkeren als die Besseren, Schönen und Mächtigen und verschafft den Reichen ein gutes Gewissen. So werden die ideologischen Apartheidsmauern hochgezogen; das Ideal der Gleichheit wird als »Nivellierung« und »Gleichmacherei« verteufelt. Der Kult der Stärke, der auch in der jüngsten Schüler- und Studentengeneration immer mehr Anhänger findet, wird offen als »neues Heidentum« proklamiert. Endlich fort mit den Resten einer Solidargemeinschaft aus Starken und Schwachen! Die Armen sind es selber Schuld — das ist die neue Ideologie, die von den Franzosen antiklerikal und heidnisch, von Reagan fundamentalistisch und christofaschistisch ausgesprochen wird. Die Würde der Armen ist in der Tat antastbar.

In der BRD hinkt die Ideologie vielleicht noch etwas hinterher, aber die praktisch-bürokratische Verwaltung der Armen ist schon perfekt. Indem man die finanziellen Kosten für die Armen vom Bund auf die Länder und Gemeinden verlegt, arbeitet man ihrer Isolierung und Dezentralisierung zu. Die sozialen Probleme sollen entpolitisiert bleiben. Die Armen, die Arbeitslosen und die ohne Aussicht auf eine Änderung Lebenden müssen voneinander isoliert werden. Die Verlagerung der Kompetenzen dient der politischen Entmündigung der an den Rand Gedrängten. Auf einer Gesprächsrunde zwischen Wirtschaftsführern und Repräsentanten des deutschen Protestantismus wurde kürzlich der Auftrag der Wirtschaft an die Kirche in zynischer Offenheit formuliert. Die Kirche solle die Arbeitnehmer auch für sinnlose Arbeiten motivieren und ihnen eine neue Arbeitsmoral nahebringen. Die Arbeitslosen solle sie unter Hinweis auf den »Sinn des Lebens« ruhig halten. Diese Art, mit dem Problem der neuen Armut umzugehen, ist nicht nur zynisch, sondern auch realitätsblind. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Angehörigen der Machteliten in der Bundesrepublik tatsächlich so leben wollen, wie es ihnen die Ideologie des Reichtums vorschreibt: in bewaffneten Häusern, hinter Mauern in privaten Siedlungen, mit Atombunkern ausgerüstet und im Besitz der bezahlten Wächter, die die nachrückenden Eindringlinge vor den Schutzräumen abknallen. Eine Gesellschaft, die die Armen ausgrenzt, die die Solidargemeinschaft zwischen den Starken und den Schwachen, den Arbeitsbesitzern und den Arbeitslosen, den Kinderlosen und den Kinderreichen aufkündigt, muß auch die politische Lebensform der Demokratie aufkündigen. Demokratie funktioniert nicht unter den Voraussetzungen des Sozialdarwinismus, sondern setzt genossenschaftliches Denken, gegenseitige Verantwortlichkeit, ein bonum commune voraus. Die Aufkündigung dieser Gemeinsamkeit und gegenseitigen Abhängigkeit bedeutet den Krieg der Reichen gegen die Armen.

Krieg wird in der ldeologie der Neuen Rechten zur Vision des Lebens; als das natürlich  Gegebene ist der Krieg das jederzeit Vorzubereitende. Der Zustand der Verelendung, in den die Eliten der reichen Welt die Ärmsten in der Dritten Welt stürzen, ist ohne Krieg und Gewalt nicht aufrechtzuerhalten. Der unerklärte Krieg des reichsten Landes der Erde gegen eines der ärmsten, Nicaragua, sollte das auch den naivsten Verfechter westlicher ldeologien klargemacht haben.
Die Reichen zerstören nicht nur die Menschenwürde der Armen, sondern auch ihre eig ene. Sie haben ihre Würde am Besitz und an die mit Besitz verbundenen Gewaltmittel gekettet. Nicht jede Form von Reichtum, der unbezogen bleibt auf die Abhängigen und sich hinter Apartheidsmauern isolieren muß, ist eine Selbstzerstörung der Menschenwürde der Reichen. Daß ein Reicher ins Himmelreich kommt, ist so wahrscheinlich wie daß ein Kamel durch ein Nadelöhr geht.

Die christliche Tradition hat in die Auseinandersetzung um Armut und Reichtum etwas  einzubringen, was heute in Gefahr steht, vergessen zu werden. Sie geht nämlich nicht von der Annahme aus, alle Menschen seien Kapitalisten, manche erfolgreich (= reich), andere erfolglos, verhindert (= arm). Diese Annahme ist in unserer Kultur selbstverständlich, und die Würde der Armen, der Grund, warum Jesus sie seligpries, ist von diesem Horizont aus schlechterdings unverständlich. Es ist aber ein materialistischer Aberglaube anzunehmen, jede Form von Armut zerstöre unsere Würde und sei um jeden Preis zu vermeiden. Wer immer innerhalb der Mittelklasse lebend sich in Solidarität auf die Armen einläßt, der verfehlt ihre Wirklichkeit, solange er sie unter dem allein herrschenden Gesichtspunkt, nämlich als verhinderte Kapitalisten, betrachtet. Die Würde der Armen liegt in ihrem Sein, nicht in ihrem Haben und Nicht-haben; die Zerstörung ihrer Würde ist die Zerstörung ihrer Solidarität untereinander, ihrer Vision miteinander.

Ich habe die Kriterien, die Armut zerstörerisch und selbstdestruktiv machen, genannt: Demütigung, Scham, Isolation und Sinnlosigkeit. Aber das definiert die Armen nicht,  nicht jederzeit und nicht überall. Die Bibel ist ein erklärter Gegner jeden Schicksalglaubens, jeder Beschreibung der menschlichen Wirklichkeit als schicksalhaft ablaufend. Sie setzt gegen das »Weil du arm bist, muß du früher sterben« ihr: »Weil du reich bist, hast du nie gelebt.« Das Evangelium ist voll von Weherufen gegen die Reichen und Seligpreisungen der Armen. Es verspricht den Hungrigen, Entrechteten und künstlich Verarmten Befreiung und Fülle des Lebens. Innerhalb der christlichen Tradition lassen sich zwei Arten von Armut unterscheiden: die erzwungene, über Menschen verhängte Verelendung, die im Extrem von den Ökonomen »absolute« Armut genannt wird, und die freiwillig gewählte, in der Menschen ihre von Natur aus unbegrenzten materiellen Bedürfnisse zurückstellen und Freiheit füreinander gerade aus Einfachheit und relativer Besitzlosigkeit gewinnen. Das Versprechen ist nicht, daß alle wie die Reichen werden sollen, das Ideal ist nicht der Millionär und seine Generale; es sind die kleinen Leute, die Frauen, die Kinder, denen das »Leben in seiner Fülle« physisch, geistig, psychisch versprochen wird in einer Kultur des Teilens, in der fünf Brote und zwei Fische unter fünftausend Menschen geteilt werden und ausreichen.

Die befremdlichen Wundergeschichten in den Evangelien können uns Distanz von uns selber (und dem Kapitalisten in uns) geben und uns ein besseres Verständnis von der  Rolle der Armen geben. Ein Grundsatz der Theologie der Befreiung, die man auch eine Theologie der Armen nennen kann, ist, daß die Armen die Lehrer sind, die uns auf das Leben aufmerksam machen. Was lehren denn die Armen? Sie warten auf Wunder. Sie brauchen Wunder — während für die Reichen die Wunder nur Aberglaube, Illusion, Realitätsflucht sind. Die Armen brauchen das Wunder: die Außerkraftsetzung der Realitätsgesetze, daß wer fällt, auch noch gestoßen wird, daß der Starke über die Schwachen siegt und ihnen Gewalt antut; sie brauchen das Wunder, daß Solidarität stärker ist als die strukturelle Gewalt der Mächtigen. Die Armen brauchen nicht Reformen, Hilfsprogramme, ‚Placebos‘, sondern das Wunder, dessen Kern die Umverteilung ist. Die neue Verteilung der Arbeitszeit, der Einkommen und der Freizeit nach dem Prinzip der Bedürfnisse — das sind Hoffnungen, ohne die die Armen nicht ihre Würde bewahren können. In diesem Sinn ist die sandinistische Revolution, die das Land, das Essen, die Gesundheit und die Bildung umverteilt hat, eine Wunder-geschichte, in der das Unmöglich-scheinende möglich wurde. »Alles ist möglich dem, der da glaubt«, sagt Jesus. An Wunder »glauben« bedeutet in seiner Botschaft, sich an ihnen zu beteiligen, sie zu tun.

Das Versprechen einer solchen solidarischen Kultur ist eine Einladung zum Kampf, zum Eintreten für die Opfer und zum Mitleiden. Die Menschen, die sich auf die Seite der Armen ziehen lassen, kommen mit dem Grund allen Lebens in Berührung: das  drückt die Bibel so aus, daß ihnen Gott in den Armen begegnet. Bei diesem Schritt von der Bewußtlosigkeit zum Bewußtsein, von der apathischen Hoffnungslosigkeit einem Verhängnis gegenüber zum Glauben an den befreienden Gott der Armen verändert sich auch die Qualität der Armut, weil sich das Verhältnis zu ihr ändert. Wenn der Arme nur ein verhinderter Kapitalist ist, so kann sich sein Verhältnis zur Armut nicht ändern, und er wird weiter Lotterie spielen und auf den Zufall der Einstellung und der individuellen Lösung eines gesellschaftlichen Problems warten. Er wird sich weiterhin der Armut schämen und die Isolation für natürlich halten. Er wird die Kultur der Apartheid internalisieren und seine eigene Würde kapitalistisch, in Besitz und Leistung, definieren. Wird er sich aber seiner Lage bewußt, so verändert sich sein Verhältnis zu sich selber. Seine Armut, quantitativ gesehen, kann größer werden, weil der Kampf und das Mitleid Opfer fordern; sie kann auch geringer werden, weil der Kampf und das Mitleiden eine bessere Verteilung der Güter schon jetzt bedeutet. In beiden Fällen ist aber die erzwungene, verhängte Armut nicht mehr dieselbe; sie nimmt die Züge der freiwilligen Armut an; es leuchtet die Realität der Freiheit in der Armut auf; sie wird Gottes Armut, wie sie es für Jesus, für Franziskus, für Oscar Romero und viele andere war. Die Armen werden so in die Befreiungskämpfe verwickelt. Was sich jetzt wie ein Traum anhört — das Bewußtsein der Bewußtlosen — hat in der Dritten Welt seine Vorbilder. Die Armen haben sich dort ja schon zusammengeschlossen, die Befreiungskämpfe finden ja statt, die Kultur der Apathie und des entwürdigenden Schweigens wird überwunden, Reis, Bohnen und menschliche Würde werden geteilt. Warum sollte es nicht auch bei uns eine Gewerkschaft derer, die vom Arbeitsleben ausgeschlossen werden, geben? Eine neue Solidarität zwischen denen, die noch Arbeit haben, und denen, deren Würde durch die Verweigerung des Menschenrechts auf Arbeit bedroht ist? Eine Bewegung für den Frieden, die die Marginalisierung und Entwürdigung der Armen als Teil des erbarmungslosen Krieges begreift, den die Erste Welt gegen zwei Drittel der menschlichen Familie, gegen die Natur und gegen sich selber führt? » Warum wollt Ihr sterben?« fragte der Prophet Hesekiel (33,11). Warum eigentlich?

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