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Armut im Alter

vorgängevorgänge 7302/1985Seite 41-45

aus: vorgänge Nr. 73 (Heft 1/1985), S. 41-45

»Es war einmal ein armes Kind, dem waren Vater und Mutter gestorben«.

Diese klassische Märchenformel faßt jene Komplexität von Armut in einprägsamer, jedem Zuhörer beim Erzählen verständliche Form, die zu operationalisieren und der abzuhelfen mit Hilfe etwa der Sozialgesetzgebung so schwer fällt:

Dem Kind mangelt es an Nahrung, Kleidung und schützendem Wohnraum; sein bloßes  Überleben ist gefährdet. Die Waise ist zudem schutzlos, weil ohne Menschen, zu denen sie gehört und die ihr hülfen; sie verfügt (noch) nicht über jene Kräfte und Fähigkeiten, die einem anderen (erwachsenen und mächtigeren) Menschen eher erlauben, sein Leben so zu führen, wie es eigenen Wünschen und Bedürfnissen entspricht. Das Kind im Märchen ist »arm« — im materiellen Sinn, und »arm dran« — in einem immateriellen Sinn. Beide Komponenten von Armut hängen meist eng miteinander zusammen, bedingen sich teilweise — aber nicht unbedingt.

Die Armutsformel ließe sich auch auf alte Menschen übertragen: wenn man in Klammer statt »noch« ein »nicht mehr« setzt. Damit wäre ein Unterschied markiert: jungen Menschen werden generell eher Chancen zugestanden, dafür, daß sich ihre Armutssituation ändern könne; in aller Regel wachsen ihnen noch Kräfte und Fähigkeiten zu, ihr Lebensgefühl ist daher eher von Hoffnung auf eine Wende der Lebenssituation in Zukunft bestimmt als bei alten Menschen. Deren Leben scheint »gelaufen«, deren  Kräfte nehmen ab, sie bangen darum, welche Fähigkeiten ihnen zuletzt überhaupt noch bleiben werden… Armut im Alter wäre demnach etwas anderes als Armut in der Jugend — selbst bei äußerlich vergleichbaren Lebenssituationen, z.B. ohne Möglichkeiten zu sinnvoller Beschäftigung, ohne befriedigende soziale Beziehungen und ohne anderes als Einkommen aus der Sozialhilfe.

Aber auch arme Alte erleben ihre jeweilige Lebenssituation sehr verschieden: unzählige  Einflüsse, die jeden lebenslang in einmaliger Weise prägen, wirken hinein in äußerlich vergleichbare Lebensumstände, sie bestimmen Verhalten und Einstellung zum eigenen Alter und zur eigenen Alterssituation in unterschiedlichster Weise: Das Alter hat viele Gesichter. Und: Armut im Alter hat viele Wurzeln.

Agathe A.

Sie ist 76 Jahre alt, wohnt allein in einer 50 qm großen Zweizimmerwohnung, gebaut wohl Ende der 20er Jahre für »Asoziale«; das Industriegebiet außerhalb des Ortes grenzt an das Grundstück, auf dem das Wohnhaus steht, eine Hauptverkehrsstraße führt unmittelbar vorbei. Die Wohnung kostet — kalt — 171 DM Miete; im Wohnzimmer steht ein Kohleofen, die Küche ist ohne Spüle, die Badewanne hochbeinig und alt. Agathe  A. kann sie allein nicht benützen. Eine Waschmaschine und eine Trockenmaschine stehen im Bad: angeschafft auf Sozialamtskosten, denn Frau A. ist inkontinent — sie muß täglich waschen: Bettwäsche und Leibwäsche. Die Küche ist nicht heizbar, auf dem 2flammigen Gasherd macht Agathe A. aber Wasser warm für den Kaffee, den sie regelmäßig morgens trinkt (wobei sie Kaffeepulver mehrmals verwendet); und sie wärmt sonntags das »Essen auf Rädern« auf, das sonst täglich warm und fürs Wochenende kalt mitgeliefert wird. Die ganze Wohnung riecht stark nach Urin — obwohl fast täglich eine Altenpflegerin kommt, für Lüften und Waschen sorgt — soweit es die alte Frau nicht schon allein getan hat — und obwohl der Fußboden ebenfalls auf Antrag vom Sozialamt bezahlt, ziemlich neu ist und sich gut reinigen läßt: grau-weiß melierter PVC-Boden, an manchen Stellen schon etwas vergilbt. Alle Möbel — die nötigsten nur — sind organisiert von Sozialarbeiterin und Altenpflegerin: aus Nachlässen anderer Alter. Die Kleider, die Agathe A. trägt, stammen teilweise von einer verstorbenen Nachbarin. »Das paßt mir alles, ist noch gut. — Da brauche ich mir nichts zu kaufen.« An der getünchten Wand im Wohnzimmerchen hängen farbige Tierposter: die hat Agathe A. zusammen mit der Altenpflegerin ausgesucht: »Die können da hängen, das ist ganz schön. « Jeden Montag legt sie 4 Zehnmark-scheine in die Steropor-Behälter fürs Essen: davon bekommt sie ein Fünfmarkstück zurück. Das Geld ist fürs Mittagessen der kommenden Woche. Sonst kauft ihr ein Zivildienstleistender ein. Ihm schreibt sie auf, was sie möchte; er berät sie. Für Sonntag gönnt sie sich sogar drei Brötchen: »Die eß‘ ich so gern.« So kommt sie »ganz gut hin«, mit ihrer Rente von 412.— DM; Miete und Kohlen werden ihr bezahlt; was sie sonst braucht, bekommt sie auf Antrag — seit ihr dabei geholfen wird.
Das ist der Fall seit etwa einem Jahr. Damals war sie auf der Straße bewußtlos umgefallen, kam dann ins Krankenhaus; ihre Unterernährung — genauer: ihre Mangelernährung — wurde ausgeglichen, ihre geistige Leistungsfähigkeit kam wieder, nach kurzer psychiatrischer Beobachtung und Behandlung wurde sie nach Hause entlassen: unter der Voraussetzung mindestens zunächst regel-mäßiger Betreuung durch »Fachkräfte«. Ihre »Freundin«, die Alten-pflegerin, hat viel mit ihr geredet, hat erfahren, warum sie immer in Mülltonnen nach Abfällen suchte: weil sie immer Hunger hatte und nie Geld, um sich was zu kaufen. Wie sich dann herausstellte, hatte sie ihr Enkel jahrelang und regelmäßig um fast ihre ganze Rente betrogen: statt der »20« Mark, die sie — ohne genaue Vorstellungen dafür, was sie brauche, was sie habe und was Lebensmittel kosten — auf Schecks schrieb, hob er »200« DM ab, den Rest von 180 Mark zweimal monatlich für sich behaltend. (Inzwischen hat sie gelernt, daß sie auch in Buchstaben angeben muß, was abgehoben werden soll!). Nachbarn hatten wohl bemerkt, daß sie ab und zu auf der Straße torkelte, auch gelegentlich, daß sie — vor allem abends — in Mülltonnen wühlte, aber sich nicht »eingemischt«, da ja der Enkel kam. Und man wollte nichts mit ihr zu tun haben; man mied sie, weil sie verwahrlost aussah und stank; sie ließ niemanden in ihre Wohnung, sprach jahrelang mit keinem »Fremden«, mißtrauisch und scheu geworden. Ihr Leben lang war sie verachtet gewesen — schon im Elternhaus, als »Mädchen« unerwünscht; dann »in Stellung«, als Magd seit dem 14. Lebensjahr; sie heiratete spät: »Die Burschen im Dorf wollten eine, die was hatte.« — Nach der Totgeburt einer Tochter erlitt sie einen Schock, kam in eine Nervenklinik; ihr Mann reichte die Scheidung ein. Ohne Unterhaltsbeihilfe lebte sie mehr schlecht als recht vom »Lohn« für Putzdienste, der oft ohne Sozialabgaben bezahlt wurde; als es schwieriger mit den Arbeitsangeboten wurde, begann sie zu trinken… Inzwischen redet sie gern mit ihren Betreuern und auch mit anderen Leuten, die sie besuchen oder anspre chen; sie geht selbst Kleinig-keiten einkaufen, lernt wieder, mit Geld umzugehen und plant mit dem Kalender: Am Sonntag zieht sie sogar eine »schöne« Weste an; und an Weihnachten geht sie zu einer »Einladung«, die ihre Betreuer für Leute wie sie organisiert haben. »So schön wie jetzt habe ich es noch nie in meinem Leben gehabt«, meint sie. Nie seien Leute so freundlich zu ihr gewesen, und nie habe sie so gutes Essen und eine so schöne Wohnung gehabt.

Berta B.

Sie ist 72 Jahre alt, wohnt allein in einer ehemaligen Werkswohnung der Fabrik, in der sie jahrelang arbeitete;  gegenüber sind Häuserzeilen der Obdachlosenunterkünfte, wo es laut zugeht, Männer trinken, ihre Frauen schlagen, Hauseingänge offen stehen und verschmierte Wände zu sehen sind. In ihrem Wohnblock wohnen »bessere« Leute: arme Rentner zumeist, ehemalige »Werksangehörige«  oft, mit Einkommen knapp über den geltenden Regelsätzen — keine Sozialhilfeempfänger also, wie sie. Ihre Küche ist blitzsauber — sauber ist alles an ihr und um sie. Darauf ist sie auch stolz: »Meine Wohnung war schon immer ein Schmuckkästchen« — nur, heute ist alles so teuer, auch Scheuerpulver: »und man möchte doch auch noch ein bißchen Glanz auf dem Boden.« Auf dem Küchentisch liegt eine rötliche Dralondecke, passend zu Vorhängen und tadellos geplätteten Deckchen auf Waschmaschine, Kühlschrank und Küchenbord. Eine Thermoskanne mit frisch aufgebrühtem Kaffee und dunkelblaue Melittatässchen stehen bereit: »Trinken Sie, den habe ich für Sie gemacht.« Die Küche ist bunt tapeziert: »Das hat mein Sohn gemacht.« – »Alle Möbel, die Sie sehen, sind geschenkt: Küchentisch und Stühle von mein‘ Bruder, auch Küchenschrank und Schlafzimmer — der hat im Lotto gewonnen und sich neu eingerichtet. Waschmaschine hat mir mein Sohn gekauft — da wasche ich jetzt auch für ihn mit.« Der Herd ist vom Sozialamt, und die Spüle gehört dem Bauträger. Auch der alte Kühlschrank ist geschenkt und die gesamte Wohnzimmereinrichtung, die das etwa 15 qm große Zimmer völlig ausfüllt: Schrankwand, Sessel und Polstercouch. »Hier liege ich abends, wenn ich fernsehen will, decke mich mit einer Wolldecke zu, daß ich warm bleib — sonst wird die Heizung zu teuer.« In der Küche kann man nur mit dem Gasherd heizen — das tat sie heute, »weil ich Besuch bekam.« Seit einiger Zeit beantragt sie Sozialhilfe, damit hat sie lange gezögert, aus Angst, ihr Sohn müßte dann für sie zahlen. Nun besteht sie auf ihren Rechten, weiß auf den Pfennig genau über jeden Posten und Änderungen bei Antragsbewilligungen Bescheid. Denn sie fühlt sich nicht als Bettlerin: »Betteln war nie meine Art. Aber: ist das richtig, daß ich so wenig bekomme, daß meine Schwägerin drei Renten bekommt — fast 3000 Mark — und hat nie soviel gearbeitet wie ich? — Ist das richtig, daß wir die Erhöhungen bekommen in Prozenten — wo ich so wenig habe und sie so viel?«
Mit ihren zwei kleinen Kindern ist sie allein von Polen nach Kriegs-ende nach Westdeutschland geflohen, lebte  dann 12 Jahre in England, in der BRD ließ sie sich — gegen den Willen ihres Mannes — scheiden; aus Stolz aber klagte sie nicht auf Unterhalt. Vielmehr wollte sie arbeiten — Akkordarbeit, damit sie viel verdiene. Sie fühlte sich kräftig — bis der erste Herzinfarkt kam. Nach dem zweiten wurde sie invalidiert — mit 54. Sie putzte noch, gelegentlich, bis heute — aber es geht immer schwerer von der Hand. Und die Rente wird davon nicht höher.

Cecilie C.

Sie ist 70 geworden und wohnt in einem Altenheim, in einem kleinen Appartement mit »Miniküche«, Sanitärzelle und Vorräumchen. Im Wohn-Schlafraum, 16 qm groß, liegt ein Perserteppich, hängen Bilder in Goldrahmen, steht eine Polstergarnitur. Das Sofa wird abends ihr Bett. Mittags ißt sie im Speisesaal, drei Stock-werke tiefer; abends holt sie sich aus dem Angebot, zugleich für den nächsten Morgen, was ihr zusagt. — Ein großer Fernsehapparat steht so, daß sie ihn liegend sehen und bedienen kann: sie muß bzw. mußte schon viel liegen — wegen eines Hüftleidens. »Als ich hier einzog, brauchte ich täglich Hilfe und konnte kaum gehen.« Sonntags holt sie ihr Sohn zum Kaffee; aber sie fühlt sich trotzdem oft einsam: »Die vielen Leute hier, die alle schon so abgebaut sind — ich kann mit ihnen nicht reden.« Weg kann sie auch nicht — mal ins Cafe gehen oder zu den Kindern ihres zweiten Sohnes fahren: »Dazu fehlt mir das Geld, jede Fahrt müßte ich beantragen. Das mag ich nicht.« Geschenke kann sie diesen Enkeln auch nicht so machen, wie sie möchte: »Es ist alles so teuer… ich kann denen keinen Transistor oder sowas schenken. Und das sind die gewöhnt. « Selbst Weihnachtskarten sind für sie ein Problem: »Da kostet eine mindestens eine Mark zwanzig, mit Goldrand. Und noch Porto dazu« (und andere als Goldrandkarten mag sie nicht schenken). Die Schwiegertochter soll Parfüm bekommen: »So eine Geschenkpackung, damit es wenigstens ein bißchen was hermacht.« Und für die Schwägerin muß sie noch einkaufen, wenn die zu Besuch kommt: »Einen Tee kann ich meinen Leuten nicht anbieten. Die sind mindestens einen ordentlichen Cognac gewohnt.«
Frau C. hatte ihr Leben lang keine Geldsorgen, ihre Eltern hatten ein Baugeschäft, das später ihr Mann führ te, bis zum Konkurs. Sie war Krankenschwester, bis zur Heirat, half unentgeltlich jahrelang in einem Krankenhaus — heute hat sie kaum Rente, die zudem einbehalten wird. Ihr Mann starb, hinterließ Schulden, sie wurde krank, kam ins Heim. Anfangs litt sie dort sehr unter Depressionen. Sie empfand ihre Verarmung zugleich als Deklassierung und als doppelte Abhängigkeit: abhängig war sie von Hilfe durch fremde Menschen — ohne jeden Einfluß auf ihre Dienstwilligkeit und Dienstfähigkeit, und abhängig vom Sozialamt, das ihr Sozialhilfe und Anträge auf Kleiderbeihilfe, auf Fahrtkostenerstattung und auf jede Beihilfe für »Sonderwünsche« — wie eine Handtasche und dazu passende Handschuhe — bewilligen mußte oder auch nicht bewilligte. Als »Katastrophe« erlebte sie den Diebstahl ihrer Fernlenkung zum Fernsehgerät im Wert von 100 Mark — mitten im Monat. Versichert war sie nicht, Geld hatte sie keines. Dabei lag sie zu der Zeit fest im Bett, hatte starke Schmerzen, von denen sie sich am besten hätte durch Sendungen ablenken lassen können. »Damals war ich richtig verzweifelt. — Jetzt geht es mir gesundheitlich besser. Aber in Geldnot bin ich oft: Man braucht so viel Alltägliches: Frisör, Arzneimittel, Gesichtscreme, Zeitung… Da bleibt von 116 Mark Taschengeld nichts übrig. — Am liebsten würde ich hier ausziehen — in eine kleine Wohnung, wo täglich eine Pflegerin für ein paar Stunden kommt… Aber mit 600 Mark Rente müßte ich schlechter leben als hier. Ich bin eine Gefangene meiner Armut — und eine »echte Frau«, die sich zu sehr von ihrem Mann abhängig hat machen lassen.«

Drei alte Frauen unter uns, nicht die ärmsten, nicht die ältesten. Alle sind sie arm, obwohl keine von ihnen vom Verhungern bedroht ist, jede sich so kleiden kann, daß ihre Gesundheit nicht gefährdet ist und jede ihren eigenen, heizbaren und gesicherten Wohnraum hat. Jede der Frauen ist heute abhängig von Sozialhilfe, obwohl jede viel in ihrem Leben gearbeitet hat, aber billigste oder unbezahlte Arbeit getan, mit Unterbrechungen und ohne ausreichende Sozialabgaben  …  Jede von ihnen ist geschieden  bzw. verwitwet, keine ist ganz allein. Jede hat mindestens einen lebenden Sohn und Enkel, und jede Frau ist inzwischen vom »Netz der sozialen Sicherheit« gehalten; das heißt: sie hat auch noch professionelle Helfer, die sich im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten (z.B. BSHG § 75 Altenhilfe) um sie kümmern.  Agathe A. will vom Sohn und seiner Familie nichts wissen, »die haben mich nur ausgenützt«; Beate B. hat ständigen und guten Kontakt zum Sohn — er hilft ihr und sie ihm, soweit beiden das möglich ist. Cecilie C.’s Verhältnis zu den Kindern ist ambivalent: zwar wird sie »pflichtgemäß« sonntags abgeholt, aber sie fühlt sich bei der Schwiegertochter nie ganz wohl. Der andere Sohn und dessen Familie sind weit weg… Sie ist beinahe befreundet mit einer Pflegerin, und sie hilft auch mit im Heim; aber die freundschaftliche Beziehung muß fast geheim gehalten werden — zuviel Mißgunst gefährdet sie. Und: wer garantiert, daß die Pflegerin nicht plötzlich entlassen wird — wie so viele Mitarbeiter? —
Jede der Frauen ist »alt«, obgleich gegenüber den vielen über 80 Jahre Alten fast »jung«. Agathe A. war »vorgealtert« — vor Erreichen ihrer gesetzlichen »Altersgrenze«. Ihr Leben schien gelaufen, ehe sie »alt« wurde. Ihre Armut im Alter ist Fortsetzung lebenslanger Armut, nunmehr, allerdings durch Zufall, verbrämt: durch das Engagement ihrer professionellen »Freunde«. Beate B. fühlt sich erst »alt«, seit ihre Kräfte spürbar nachlassen. Erst seither fühlt sie sich auch »arm«. Sie hat nie resigniert, obwohl es ihr oft schlecht ging. »Organisieren« im doppelten Sinn, mit Witz und List, wurde ihr fast zum Sport — selbst noch nach dem zweiten Herzinfarkt. Nun kann sie das immer weniger, Resignation überfällt sie manchmal. Trotz der Sozialhilfe, die sie erst neuerdings beansprucht, fühlt sie sich ärmer als je zuvor. Und sie betrachtet ihre Armut als Unrecht, ohne einen Ausweg zu sehen.  Cecilie C. fühlt sich selbst schuldig an ihrer Situation, als willfähriges »Opfer« einer Frauenrolle, die ihr Berufsaufgabe und Verzicht auf eigenes Alterseinkommen nahelegte, die sie »fraulich«-ehrenamtlich arbeiten ließ und »Geschäftliches« allein ihrem Mann überlassen. Und zudem wurde sie »Opfer« einer Rolle als Konsumentin, deren Wertorientierung am Herzeigekonsum ohne Nachdenken über Zusammenhänge zwischen (unverdientem) Sozialstatus und »Verdienst« sie leben ließ, als sei verfügbares Geld selbstverständlich. Nun zählt sie zu denen, die früher allenfalls ihr Mitleid erregten. Sie schämt sich gegenüber denen, die aus ihrer früheren Welt stammen, und kann sich nicht identifizieren mit denen aus ihrer »neuen« Lebenswelt. Daß sie eine Art »ehrenamtliche Mitarbeiterin« geworden ist, läßt sie ihre Taschengeld-Armut leichter ertragen.

Jede der Frauen weiß, daß ihre augenblickliche »Sicherheit« gefährdet ist; jede weiß, daß ihre nachlassenden Kräfte im Verein mit materieller Armut bereits bestehende Abhängigkeiten vergrößern werden und unzureichende Hilfen nicht mehr ausgleichen können. »Lebenssattheit« am »Lebensabend«, mit dem Rückblick auf ein Leben, dessen Bilanz positiv getönt ist, scheint ihnen nicht vergönnt. Statt Ruhe beherrscht sie Sorge — am wenigsten Agathe A., die im komplexen Sinn am ärmsten ist; am meisten leidet Cecilie C., die objektiv »am besten dran« ist.

Armut im Alter hat viele Gesichter:

  • das von Agathe A., zum Beispiel: mit Augen, die rasch wechseln vom wachen, zwischen Mißtrauen und Lustigkeit schwankenden Blick zum erschreckten, scheuen; mit  einem meist zahnlosen Mund und mit gelblich-grauem strähnigen Haar, das sie nur gelegentlich in ein Zöpfchen flicht und am Hinterkopf aufsteckt; mit dunkelrandigen Fingernägeln, die sichtbar werden, wenn sie ihre Strickjacke zusammenhält, weil ein Knopf fehlt…;
  • das von Beate B. zum Beispiel: mit Fältchen, als lache sie immer — auch wenn sie ernst ist, mit kleinen roten Backen und aufblitzenden Schelm in den Augen, wenn sie erzählt; säuberlich gerahmt vom weißen Rollkragen und der selbstgedrehten Lockenfrisur…;
  • das von Cecilie C., zum Beispiel: das rund und mütterlich wirkt, ein bißchen aufge dunsen (von ihrer Nierenkrankheit her) und bleich — trotz Rouge auf den Lippen; mit mattem Blick fast immer, gelegentlich allerdings Empörung spiegelnd: dann wenn »jugendlich« wirkende Kraft spürbar wird, die dem modisch geschnittenen und getönten Haar eher entspricht und sie sich aufrichten läßt, als ihre meist schlaffe Haltung, die drückender, andauernder Resignation Ausdruck verleiht…;
  • das von vielen, meist hochbetagten alten Menschen, die in Pflegeheimen leben müssen und — fast ausnahmslos — deswegen Sozialhilfeempfänger werden…
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