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Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt und Raster­fahn­dung: Nach 30 Jahren zurück in die Büchse?

03. Juli 2006

Mitteilungen Nr. 193, S. 2-3

Schon für Horst Herold und die wehrhafte BRD im Kampf gegen die RAF war sie die große Zauberwaffe – für ihre Gegner allerdings direkt aus der Büchse der Pandora. Nach der Entscheidung der Karlsruher Richter, die am 23. Mai bekannt wurde, scheinen ihr allerdings die Zähne gezogen. Die Rede ist von der Rasterfahndung. Die HU hat Jahrzehnte vehement gegen ihren Einsatz gestritten. Aus der Überzeugung, dass es sich um eine Polizeimaßnahme handelt, die mit einem demokratischen Rechtsstaat nicht zu vereinbaren ist. Denn die Rasterfahndung zielt von Anfang an auf eine völlig unbestimmte Vielzahl von Bürgern. Es gibt keinen Tatverdächtigen, auch keine Tat, aber auch keine konkrete Gefahr, die auf eine mögliche Straftat hinwiese.

Technisch geht das in ungefähr so: zunächst wird abstrakt ein Täterprofil/Raster ersonnen (z.B. männlich, 30 Jahre, islamischen Glaubens). Anschließend wird das Profil an eine Vielzahl von Stellen übergeben. Diese sind gehalten, ihre personenbezogenen Datenbestände auf das vorgegebene Profil hin abzugleichen. Die „Treffer“ sind der Polizei zu übergeben. Die so gewonnenen Namen werden mit weiteren Dateien der Polizei abgeglichen. Am Ende wirft der Computer den Namen des potentiellen Täters aus. Dieser muss nur noch so lange beschattet werden, bis man ihn auf frischer Tat oder bei der Vorbereitung ertappt und festnehmen kann.

So weit die Theorie. Bis heute aber gibt es nur einen Fall, bei dem es heißt, es sei einer der RAF-Täter mit Hilfe dieser Methode gefasst worden. Gleichwohl: nach dem 11. September 2001 erlebte die Rasterfahndung ihr Comeback und einen traurigen Höhepunkt. Mögliche „Schläfer“ sollten gefasst werden. Sämtliche Landeskriminalämter traten in einer konzertierten Aktion und einem abgestimmten Schläferprofil an Registerbehörden, Ämter und Universitäten heran. Insgesamt 5,2 Millionen Datensätze wurden daraufhin an die Polizeien übermittelt. Von dort gingen sie an das Bundeskriminalamt, das weitere Abgleiche vornahm. Die Auswertung dauerte 18 Monate. Nicht ein einziger „Schläfer“ wurde gefasst.

Gegen die damalige Aktion hatte ein davon betroffener, in NRW lebender marokkanischer Student bis zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG) geklagt. Das Gericht hat ihm nun in einer von vielen als wegweisend wahrgenommenen Entscheidung Recht gegeben.

Aber was hat das Gericht eigentlich genau entschieden? Die damalige in Nordrhein-Westfalen durchgeführte Rasterfahndung war aufgrund eines Amtsgerichtsbeschlusses, der sich auf § 31 des Landespolizeigesetzes stützte, durchgeführt worden. Die Vorschrift regelt die Voraussetzungen einer Rasterfahndung. Danach kann nur gerastert werden, soweit es zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für die Sicherheit oder für Leib und Leben von Personen erforderlich ist. Das Bundesverfassungsgericht kommt in seiner Entscheidung vom 4. April 2006 zum Ergebnis, dass nur die Beschlüsse der Gerichte (neben dem Amtsgericht hatten Landgericht und Oberlandesgericht die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt) als unverhältnismäßig aufzuheben seien. Die zugrunde liegende Befugnisnorm hielt das Gericht für noch verfassungsgemäß – sofern man diese richtig liest, so die Richter. Die Gerichte in Nordrhein-Westfalen hatten eine (für die Rasterfahndung notwendige) gegenwärtige Gefahr als gegeben angesehen, weil der zu erwartende Schaden eines drohenden Terrorangriffs so groß sei, dass es auf den Nachweis der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts im Verhältnis nicht mehr so stark ankomme. Vielmehr reiche eine auch nur entfernte abstrakte Möglichkeit des  Schadenseintritts (sprich eines Anschlags in Deutschland) aus. Diese Sichtweise verwirft das BVerfG in seiner jetzigen Entscheidung. Allerdings rüttelt es auch an der ehrwürdigen Formel der „gegenwärtigen Gefahr“ (schädigendes Ereignis hat bereits begonnen oder ist in allernächster Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten). Von Verfassungs wegen müsse sich die Eingriffsschwelle für die Rasterfahndung nicht an einer gegenwärtigen Gefahr orientieren, sie sei zu eng gefasst, da die Polizei wegen des großen Aufwandes bei der Rasterfahndung dann stets zu spät beginnen werde (Rdnr. 141 f.). Stattdessen sei eine konkrete Gefahr für die Zulässigkeit des Rasterns erforderlich. Und zwar eine konkrete Gefahr für die in der Norm benannten Rechtsgüter. Sie muss sich auf Tatsachen beziehen (Rdnr. 145), kann aber auch eine Dauergefahr sein. Vage Anhaltspunkte oder bloße Vermutungen – wie eine allgemeine Bedrohungslage nach dem 11. September – reichen jedenfalls nicht aus.

Mit dem Begriff der konkreten Gefahr kehrt das BVerfG zum guten alten Vokabular des Polizeirechts zurück. Für die Rasterfahndung sagt das Gericht sogar ausdrücklich: „diese darf nicht im Vorfeld einer konkreten Gefahr ermöglicht werden“, und erteilt damit allen Sicherheitsstrategen eine Absage, die bereits im sogenannten Vorfeld von Gefahren dieses Instrument der Polizei zur Anwendung bringen wollen.

Allerdings ist das Urteil keine generelle Absage an Vorfeldeingriffe (Rdnr. 134). Wenn die Polizei unterhalb der tradierten Gefahrenschwelle handelt, müssen – je nach Schwere des Eingriffs – besondere Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen erfüllt sein. Und darin liegt das für BürgerrechtlerInnen so Spannende dieses Beschlusses. Das Gericht nutzt die Gelegenheit, um fast leidenschaftlich die Schwere des Eingriffs der Rasterfahndung zu verdeutlichen. Eingegriffen wird in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, also das Recht der Bürgerinnen und Bürger, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wer was wann über sie wissen darf. Das Bundesverfassungsgericht nimmt sich viel Zeit, alle wesentlichen Formeln des Volkszählungsurteils von 1983 zu bestätigen und teilweise auch zu erneuern. Es ist also auch eine lesenswerte Fundgrube für DatenschützerInnen. Grundrechtsdogmatisch enthält es ein deutliches Bekenntnis zum Verständnis von Grundrechten als den Abwehrrechten der Bürger gegenüber dem Staat. Der Schutzpflichtdogmatik werden mit Blick auf das vielbeschworene „Grundecht auf Sicherheit“ enge Grenzen bescheinigt.

Für andere Landespolizeigesetze heißt es jetzt wieder einmal Nachbessern. Mit verfassungskonformer Auslegung ist es in den meisten Fällen nicht getan. Im Zuge der letzten Verschärfungen hatten einige Gesetzgeber in den Ländern die Eingriffsschwellen für die Rasterfahndung vollständig von der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts entkoppelt und ins Vorfeld verlegt. Dazu gehören beispielsweise Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Thüringen und der aktuelle Gesetzentwurf in Mecklenburg-Vorpommern.

Erste Reaktionen auf das Urteil sprechen auch von der Übertragbarkeit seiner Wertungen auf die Rechtmäßigkeit anderer polizeilicher Instrumente. So könnten Ländernormen für den automatischen Kfz-Kennzeichenabgleich, die Videoüberwachung, die Schleierfahndung u.a.m. zumindest von den Gerichten zukünftig enger zu interpretieren sein. Auch für die IMSI-Catcher-Klage der HU oder geplante Aktivitäten der HU gegen die drohende Vorratsdatenspeicherung enthält das Urteil wichtige Hinweise. Ohne Zweifel wird die Welt mit Gerichtsurteilen nicht sofort gut. Aber Karlsruhe scheint einmal mehr ein wichtiger Verbündeter in einem Kampf, der über viele, viele Runden geht. Das Ziel, jeweils neu zu erstreiten, lautet: ein freiheitliches, die Selbstbestimmung seiner Bürgerinnen und Bürger achtendes Gemeinwesen.

Nils Leopold

Der Beschluss (1 BvR 518/02) v. 4.4.2006 kann im Internet abgerufen werden unter: www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20060404_1bvr051802.htm

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