Beitragsbild Das Grundrecht auf aktive politische Partizipation: Starke subjektive Teilhaberechte – ein Fall für das Grundgesetz?
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Das Grundrecht auf aktive politische Parti­zi­pa­tion: Starke subjektive Teilha­be­rechte – ein Fall für das Grund­ge­setz?

21. Oktober 2025

Es fehlt etwas im Grundgesetz, sogar etwas Großes: das Grundrecht auf aktive politische Partizipation über das Wählen hinaus. Eine solche Weiterentwicklung würde eine Lücke füllen und helfen, die Demokratie zu verteidigen.[1] Im Folgenden soll – ausdrücklich als Grobkonzept – die rechtsphilosophische Basis eines solchen Grundrechts dargelegt werden. Es geht also mehr um das Warum, denn das Wie eines solchen Rechts.

A. Einleitung

Mit der demokratiepolitischen Notwendigkeit für das Grundrecht sowie für mehr politische Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger hat sich kürzlich Michael Köhler befasst. Der Ausschluss der Bürgerinnen und Bürger von den politischen Entscheidungen im Bundestag oder anderen Gremien ist allgegenwärtig und wird nur selten öffentlich hinterfragt. Viele Menschen spüren, dass sie nach dem Wahltag keine grundlegenden Einflüsse mehr auf die Entscheidungen haben, die die politischen Repräsentantinnen und Repräsentanten in ihrem Namen treffen. Mit Bürgerräten gibt es aktuell hoffnungsvolle Ansätze, die Bürgerinnen und Bürger stärker einzubeziehen. Aber auch hier bleibt es auf Bundesebene beim „Antäuschen“ von mehr Partizipation: Die Ergebnisse des Bürgerrats Ernährung sind mit dem frühen Ende der Ampelkoalition versandet, und der lang diskutierte Corona-Bürgerrat findet doch nicht statt, obwohl Bürgerräte im neuen Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD stehen. Stattdessen gibt es eine Corona-Enquete-Kommission bestehend nur aus Abgeordneten und Sachverständigen ohne jegliche Bürgerbeteiligung, als ob den Bürgerinnen und Bürgern selbst bei einem solch unverbindlichen Gremium nicht getraut wird. Gerade Bürgerräte sind dabei ein Instrument, welches sich viele Menschen in Deutschland verstärkt wünschen: Eine repräsentative Umfrage im Zuge der Evaluation des Bürgerrats „Ernährung im Wandel“ kam zum Ergebnis, dass sich 85 Prozent der Befragten mehr Bürgerräte wünschen.

Gegen das demokratische „Nachhaltigkeitsdefizit“ (Kahl) können einerseits neue Strukturen helfen, wie sie etwa der Arbeitskreis „Demokratisierung“ der Humanistischen Union (unter der Mitwirkung des Autors) erarbeitet hat. Kaum jemals wird jedoch über das Staatsdesign hinausgedacht und die bürgerrechtliche Komponente der Situation genauer analysiert. Dabei gibt es in Form des behaupteten Grundrechts auf aktive politische Partizipation noch einen ungehobenen rechtsphilosophischen Schatz.

B. Wahlrecht

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Grundgesetz ein oft übersehenes, da ungeschriebenes Gebot enthält: das Gebot der Optimierung seiner Prinzipien, wozu auch das Demokratieprinzip gehört, wird aus Art. 20 Abs. 1 GG abgeleitet.[2] Das Ziel von Demokratie sollte möglichst direkte Selbstgesetzgebung sein. Größter Ausdruck des Demokratieprinzips ist – bislang – allerdings nur das Wahlrecht jedes und jeder Einzelnen. Die Wählerinnen und Wähler delegieren ihre Staatsgewalt auf gewählte Abgeordnete und können dann jahrelang mit Ausnahme von unverbindlichen Meinungsäußerungen keinen spürbaren Einfluss mehr auf inhaltliche politische Entscheidungen nehmen. Immer wieder wird das Wahlrecht idealisiert und dabei übersehen, wie wenig „feierlich“ es in Art. 38 GG niedergelegt ist. Es liest sich passivisch und findet sich trotz seiner Bedeutung nicht im ersten Teil des Grundgesetzes, sondern als grundrechtsgleiches Recht im Teil „Der Bundestag“, wo es vornehmlich um das Bestücken des Parlaments mit Abgeordneten, nicht das Wahlrecht geht.

Im Jahr 2009 hat das Bundesverfassungsgericht explizit festgestellt, dass das Wahlrecht als das „vornehmste Recht des Bürgers im demokratischen Staat“ aus der Menschenwürde abzuleiten sei:

„Das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, ist der elementare Bestandteil des Demokratieprinzips. Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert. Er gehört zu den durch Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG als unveränderbar festgelegten Grundsätzen des deutschen Verfassungsrechts.“ (BVerfG, Urteil vom 30.06.2009, – 2 BvE 2/08 -, Rdnr. 211)

Aus der Menschenwürde? Auf den zweiten Blick gibt es da Fragezeichen, denn es gibt einen systematischen Widerspruch! Denn das Wahlrecht ist ein Deutschenrecht (nur für deutsche Staatsbürger), die Menschenwürde aber ist universal und gilt als Jedermannrecht für jeden Menschen. Konsequent müssten nach dieser Auslegung auch Ausländerinnen und Ausländer sowie Kinder das Wahlrecht haben. Diese konzeptuelle Diskrepanz ist meines Wissens bislang noch nicht in Wissenschaft und Öffentlichkeit ausreichend erörtert worden. Das BVerfG hat zudem bislang keine sonderlichen Anstrengungen unternommen, aus der Menschenwürde weitreichendere demokratische Partizipationsrechte abzuleiten als das Wahlrecht. Scheinbar unumstößlich scheint auch daher die Staatsform einer rein repräsentativen Demokratie, die das Grundgesetz verkörpert. Diese ist aber – nicht zuletzt wegen des genannten Optimierungsgebots – keineswegs für alle Zeiten als einziges Instrument verfassungsrechtlich festgeschrieben. So stehen in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG – wie vom BVerfG im obigen Zitat zurecht betont –  Abstimmungen gleichrangig neben Wahlen. Konkreter ausgeführt im Grundgesetz ist bislang jedoch nur das Wahlrecht. Abstimmungen fristen dagegen eine Art juristisches „Blinddarmdasein“. Ihre ausdrückliche Erwähnung im GG spricht dabei dafür, dass direkte Demokratie im Grundsatz auch vorgesehen ist.

C. Grundrecht auf aktive politische Parti­zi­pa­tion

An diesem Punkt der Unvollkommenheit bietet es sich an, das Konzept eines neuen rechtsphilosophischen „Überbaus“ vorzustellen. Die Rede ist vom Grundrecht auf aktive politische Partizipation, welches Bürgerrechte weit über den bisherigen Anspruch auf Wahlen einräumen würde. Mit einem solchen Recht ergäbe sich – je nach Ausgestaltung – ein Anspruch auf die Umsetzung struktureller demokratischer Reformen. Flächendeckende Bürgerräte, verbindliche Volksentscheide auf Bundesebene, die Kombination von Bürgerräten mit Volksentscheiden oder womöglich gar eine Bürgerkammer blieben keine rechtspolitisch schwierigen Unterfangen mehr, sondern entstünden aus subjektivrechtlichen Ansprüchen der Bürgerinnen und Bürger. Ihre politische Beteiligung und Mitbestimmung wären nicht nur ein objektives Ziel, sondern ein individuelles Grundrecht. Es ist klar, dass konkrete Rechte und Reformen nicht ohne Weiteres aus diesem Grundrecht abzuleiten wären. Aber es gäbe einen klaren Impuls für mehr politische Partizipation, im Sinne von Beteiligung und verbindlicher Mitbestimmung über den Wahlakt hinaus, erst über seine öffentliche Diskussion und dann rechtlich.

An dieser Stelle kann nur gestreift werden, dass diese Idee desstarken Grundrechts auf aktive politische Partizipation wie schon das Wahlrecht als zwingender Ausfluss von Würde beziehungsweise politischer Autonomie verstanden werden kann. Da das BVerfG sich (bislang) mit dem Wahlrecht als „vornehmsten“ Recht der Demokratie zufriedengibt, könnte hier insofern von Bürgerwürde die Rede sein, einer die Menschenwürde ergänzenden, nicht einschränkenden demokratischen Teilwürde.[3]

Wichtig ist, dass Bürgerinnen und Bürger die Chance erhalten, selbst das Grundrecht auf aktive politische Partizipation zu entwickeln. Es ist offenkundig, dass sich Grundrechte typischerweise über sehr lange Zeiträume entwickeln. Oft waren Krisen der Anlass: So fand das Konzept der Menschenwürde, obgleich schon lange bekannt, erst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust seinen rechtlichen Niederschlag im Grundgesetz. Das Wahlrecht wiederum begann als Zensuswahlrecht und war bis vor etwas über hundert Jahren für Frauen noch nicht vorgesehen. Es kann jeweils von einem absoluten Wert gesprochen werden, der aber relativ umgesetzt worden ist und wird. So kann es auch mit dem Grundrecht auf aktive politische Partizipation sein, das sich an den intensiven Mitberatungs- und Mitbestimmungsrechten der männlichen Bürger im klassischen Athen orientiert. Sie waren damals nicht in einer Verfassung niedergeschrieben, sondern existierten wie selbstverständlich. Die Polisbürger konnten in den sogenannten Rat der 500 gelost werden, der Gesetze vorbereitete, und hatten zudem das Recht, in der Volksversammlung über diese Gesetzesentwürfe abzustimmen. Steht ein solcher demokratischer Entwicklungsschritt bei uns noch aus? Folgen wir Aristoteles, der den Mensch als zoon politikon beschrieb, wäre die Frage positiv zu beantworten. Ausdrücklich sah Aristoteles für Bürger die „Teilhabe an der Entscheidung“ vor (Arist. Pol. 1278b).

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, das Grundgesetz – wie schon der Name zum Ausdruck bringt – als Provisorium, noch nicht vollendete Verfassung zu betrachten.[4] Auf der Zeitachse ist eine Weiterentwicklung nicht nur politisch ratsam, sondern auch rechtlich erlaubt und vorgesehen. Warum nicht ihm das Ideal einer lebendigen egalitären Demokratie einhauchen, gerade jetzt in schwierigen Zeiten? Am Ende ist die Pointe, dass wir Bürgerinnen und Bürger diejenigen sind, die dies wünschen, verlangen und sogar tun könnten. Denn niemand anderes als das Volk selbst ist der Verfassungsgeber, der sich selbst sich neu erfinden kann. Dieses höchste Partizipationsrecht, das der Verfassungsgebung, ist nicht herbeigewünscht, sondern steht etwas versteckt im Grundgesetz. Laut Art. 146 GG, dem Schlussartikel, wären nur wir als Souverän in der Lage, eine neue Verfassung umzusetzen, nicht jedoch der Bundestag, dessen Arbeit auf Gesetze und Grundgesetzänderungen beschränkt ist. Es ist auffällig, dass der Parlamentarische Rat nicht darum herumkam, das Recht auf eine neue Verfassung in Art. 146 GG zu „retten“ und dass es trotz einiger Wünsche aus dem politischen Bereich im Zuge der Wiedervereinigung nicht abgeschafft worden ist – aus guten Gründen! Schon daraus lässt sich –  wie aus Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG –  die Option des Grundrechts auf aktive politische Partizipation herleiten und begründen.

Wie schon dargelegt, ist das hier diskutierte Grundrecht auf aktive politische Partizipation wie jedes andere Recht ein von Menschen auszuhandelnder Wert. Es kann als Vermögen gesehen werden, das wir in uns tragen, welches aber erst bei entsprechend ausreichendem Willen der Gemeinschaft realpolitisch umsetzbar ist. Festzuhalten ist, dass das Partizipationsrecht dort, wo es um eher allgemeine Beteiligungsrechte, nicht um verbindliche Entscheidungsrechte geht, nicht als reines Staatsbürgerrecht ausformuliert werden sollte, sondern auch Nicht-Deutsche und Kinder als Grundrechtsträger in Frage kommen. Für Entscheidungsrechte sollte dagegen die Staatsbürgerschaft Voraussetzung sein. Während also nach dieser Auffassung etwa die Teilnahme an Bürgerräten ein Jedermannrecht sein sollte, wäre die Teilnahme an Volksentscheiden wie Wahlen den Staatsbürgerinnen und -bürgern vorenthalten. Volksentscheide (sowie Bürgerentscheide) sollte es mehr geben, speziell auf Bundesebene. Im Optimalfall sollten Bürger- und Volksentscheiden Bürgerräte vorgeschaltet werden, zumindest sollte damit mehr auf allen Ebenen experimentiert werden. In dem Fall können auch Nicht-Deutsche indirekt Input für Volksentscheide geben.

D. Fazit

Das Grundrecht auf aktive politische Partizipation wäre das fehlende Mosaikstück für die Demokratisierung des Grundgesetzes. Es würde einen subjektivrechtlichen Anspruch auf breite aktive politische Teilhabe am Gemeinwesen schaffen. Klar ist, dass die in der Broschüre „Demokratisierung“ der HU genannten strukturellen Reformen deutlich durch ein Grundrecht auf aktive politische Partizipation untermauert würden. Die genaue Ausgestaltung ist einer intensiven öffentlichen Debatte zu überlassen.

Wer diesen Weg mitgeht, betritt rechtsphilosophisches und -politisches Neuland. Der politische Wille für ein solches Grundrecht müsste zwangsläufig dazu führen, dass die rein repräsentative Demokratie reformiert wird: zum Beispiel in eine repräsentativ-partizipativ-direkte Demokratie. Das Grundgesetz ist dafür offen. Ob der Wandel erst durch Krise oder vorher durch Vernunft stattfindet, soll hier nicht besprochen werden. Nur so viel: Das Grundrecht auf aktive politische Partizipation wäre ein sehr wirksames Vehikel gegen Polarisierung und Spaltung, denn Bürgerinnen und Bürger, die mitgestalten, sind zufriedener als ohnmächtige Zuschauende.

Clemens Oswald

 

Anmerkungen

[1] Ausführlich zum Folgenden vgl. Oswald, Clemens: Fairfassung, Norderstedt, 2024.

[2] Grundlegend Alexy, Robert: Theorie der Grundrechte, Berlin, 1978, S. 75-77; sowie ders.: Rechtssystem und Praktische Vernunft, Stuttgart, 1987, S. 407f. Konkret für das Demokratieprinzip vgl. Bryde, Brun-Otto: Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes als Optimierungsaufgabe, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.): Demokratie und Grundgesetz, 2001, S. 57-70 (62f). Bei der gebotenen grundgesetzlichen Sicht des „Demokratieprinzips als Optimierung der freien Selbstbestimmung aller“ solle jederzeit auf allen Ebenen nach weiteren Möglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger gesucht werden, aktiv an der Gestaltung ihrer Lebensumstände teilzunehmen.

[3] Ausführlich dazu Oswald, s.o., S. 54-60/80-86/151-153/162f. Ober, Josiah: Demopolis, Cambridge, 2017, S. 103ff., drückt es so aus, dass bei gelebter Bürgerwürde („civic dignity“) alle Bürger „groß stehen“ („stand tall“), was für die athenische Demokratie deutlich mehr der Fall gewesen sei als in allen heutigen repräsentativen Demokratien. Dem Rechtswissenschaftler Klaus Ferdinand Gärditz zufolge ist die Menschenwürde nur ein „Teilaspekt“ der (Gesamt-)Würde, da sie „kollektive Mechanismen der Herrschaftslegitimation“ nicht unmittelbar thematisiere. Er unterscheidet noch dazu zwischen individueller und demokratischer Selbstbestimmung, die auf eine „gemeinsame Freiheitsidee“ zurückzuführen seien. Damit unterscheidet er de facto die Menschenwürde von demokratischen Würdeformen. (Vgl. Gärditz, Klaus Ferdinand: Der Bürgerstatus im Lichte von Migration und europäischer Integration, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 2013, S. 49-156 (106f.))

[4] Vgl. Dreier, Horst: Das Grundgesetz – eine Verfassung auf Abruf?, Aus Politik und Zeitgeschichte, 20.04.2009, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32023/das-grundgesetz-eine-verfassung-auf-abruf/; Hölscheidt, Sven: Wie viel neues Deutschland ist möglich?, DÖV 2020, S. 69-73 (73).

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