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Erfassen, löschen und vernichten – Der Mensch in der Datei

01. Juni 1998

Mitteilungen 162, S. 49-51

Wir sollten alle ans Netz. Sparkassen werben mit Nackedeis, die noch nicht laufen, aber schon auf der Tastatur eines Computers herumpatschen können, für kinderleichte Kontobedienung. Unser Bildungsminister empfiehlt den Alten der Republik die Anschaffung von Computern als Verhütungsmittel gegen Einsamkeit. Von der Wiege bis zur Bahre ist elektronische Kommunikation angesagt. Der telefonierende, faxende und internettende Mensch ist die aktuelle Ausgabe des homo sapiens, und ein Handy als Grabbeilage wäre nur konsequent. Ich weiß zwar nicht, was in fünfhundert Jahren noch davon übrig wäre, aber Dauer und Beständigkeit sind ohnehin keine Merkmale unserer Epoche. Wenn unser Bundespräsident etwas nicht leiden kann, dann ist es unsere Langsamkeit. Fasziniert von der Dynamik Asiens und Amerikas verordnet Roman Herzog uns Tempo. „Rein in die Informationstechnologie“, und zwar ohne langes Debattieren.

Die Botschaft des Präsidenten hör‘ ich wohl, allein sie überzeugt mich nicht. Ich weiß nicht, warum ich beim Eismann mit der Chipkarte bezahlen soll, wenn das Risiko des Verlusts und Mißbrauchs der Karte hauptsächlich mir aufgebürdet wird. Geldautomaten halte ich für eine eher verderbliche Einrichtung, denn sie fördern planloses und unbedachtes Verhalten. Telebanking ist für den Normalverbraucher mit einem völlig unsinnigen Aufwand verbunden. Teleshopping beraubt mich der Möglichkeit, zu erwerbende Dinge mit allen meinen Sinnen zu erfassen und reduziert mein Beurteilungsvermögen auf das, was ein Bildschirm vermitteln kann. Hinzu kommt, daß die meisten dieser Einrichtungen Arbeitsplätze vernichten. Was ich „direkt“ und selber tue, macht irgendwo einen Menschen überflüssig. Das schädigt indirekt auch mich.

Eine weitere Konsequenz der wuchernden Informationsgesellschaft ist, daß alle elektronischen Verrichtungen Spuren hinterlassen. Sie sind nicht so dauerhaft wie die versteinerten Fußabdrücke von Dinosauriern, aber dafür von unbegrenzter Verwendbarkeit. Die Lebens- und Konsumgewohnheiten eines Menschen, seine Wege und Stationen sind erfaßbar. Welche Zeitungen einer liest, wenn er Spenden zukommen läßt, was er im Pornoversand bestellt: Es landet alles in Dateien. Neue Angebote bestätigen ihm: Seine Daten werden vermarktet. Man rechnet mit ihm.

Dieses mit viel Werbung betriebene Hineinmanipulieren der Menschen in die Speicheranlagen privater Unternehmen sowie die zwangsweise Erfassung von Daten im Bereich der Gesundheitsbehörden, der Kranken- und Rentenkassen, der Sozialbehörden, des Kraftfahrzeug- und Meldewesens ermöglichen dem Staat erst die Realisierung seines Konzepts von Sicherheit, die aus dem Computer kommen soll. Genauer: Aus einem Verbund vieler Computer. Die Spinne im Verbundnetz wird in Den Haag lauern, und das Ganze heißt Europol. Es kennzeichnet den Gedankenhorizont seiner Protagonisten, daß sie die Errichtung des Europäischen Polizeiamts als einen „bedeutenden Baustein auf dem Wege zur Europäischen Einheit“ bezeichnen.

Das Einheitsstiftende ist die gemeinsame Abwehr eines Feindes, der gewissermaßen von außen und innen gleichzeitig angreift: Drogen- und Menschenhandel, Handel mit Nuklearmaterial, Terrorismus. Auch das Einschleusen von Menschen und das Verschieben von Autos gehören in die Kompetenz von Europol. Da diese Formen von Kriminalität grenzüberschreitend sind, liegt der Gedanke nahe, sie durch gemeinsame Aktionen der betroffenen Staaten zu bekämpfen.

Allerdings ist das erst der Anfang. Der Rat der EU kann beschließen, daß eine Vielzahl weiterer Delikte von Europol verfolgt werden: Freiheitsberaubung, Organhandel, schwere Körperverletzung, Betrug, Geldfälschung, Korruption, Waffenhandel – um nur einige zu nennen. Der ganze Bereich der Umweltkriminalität kann hinzukommen, und auch gegen Computerkriminalität sollen die Computer von Europol zu Felde ziehen. Die Frage ist, ob sich alle europäischen Staaten einig sein werden in der Definition dessen, was sie gemeinsam bekämpfen wollen. Ein einheitliches europäisches Strafrecht gibt es schließlich nicht.

Dennoch sollen die Datenströme von allen Seiten – aus den Mitgliedsstaaten, Drittstaaten und diversen internationalen Organisationen und Einrichtungen nach Den Haag fließen, um dort in einem Informationssystem gespeichert und in einem weiteren System analysiert zu werden. In das Informationssystem kommen die Daten verdächtiger, verurteilter und solcher Personen, von denen man annimmt, sie könnten in Zukunft Straftaten begehen; in das Analysesystem zusätzlich die Daten von Zeugen, Opfern, potentiellen Opfern, Kontakt- und Begleitpersonen sowie Informanten. Immer wieder taucht in den Paragraphen die Bestimmung auf, daß nur solche Daten erhoben, gespeichert, verarbeitet, abgerufen werden dürfen, die für den entsprechenden Zweck notwendig oder die Erfüllung der Aufgabe erforderlich seien – eine ziemlich triviale Aussage, denn man muß doch wohl davon ausgehen, daß die hochqualifizierten Europapolizisten sich nicht mit der Sammlung und Bearbeitung unnötiger Dinge beschäftigen werden. Aber vermutlich sollen diese Formeln Beruhigung verbreiten: Hier geschieht nur das zur Kriminalitätsbekämpfung unumgänglich Notwendige. Doch eben dies leisten die Floskeln nicht. Begründungen dafür, diese oder jene Person, dieses oder jenes Faktum in die Dateien zu packen, wird man immer finden.

Auf der anderen Seite versandet der im Prinzip mögliche Auskunftsanspruch derjenigen, die in die Dateien geraten sind, in eben solchen Floskeln. Großzügig wird dem Bürger zunächst mitgeteilt, sein Antrag auf Auskunft sei kostenlos. Aber er wird in aller Regel auch ergebnislos sein, denn Europol kann die Auskunft verweigern, wenn dies „für die ordnungsgemäße Erfüllung seiner Aufgaben“ oder schlicht für Sicherheit und Ordnung erforderlich ist. Der Antragsteller erhält lediglich die Nachricht, daß sein Antrag geprüft worden sei. Die Staaten der Europäischen Union gehen offenbar davon aus, daß der Mensch geduldig und genügsam zu sein und sein Datenschicksal brav zu tragen hat.

Und sie halten ihn augenscheinlich für ein Wesen, das mit Absurditäten zu leben weiß, denn sie billigen ihm in ihrem Paragraphenwerk das Recht zu, Europol um die Berichtigung fehlerhafter Daten zu bitten. Die Polizisten sollen, mit anderen Worten, etwas korrigieren, von dessen Existenz oder Nichtexistenz der antragstellende Mensch nichts weiß. Wenn sie ihm über ihr Tun oder Nichttun binnen drei Monaten nicht mitgeteilt haben, kann der Mensch die in den Statuten vorgesehene „gemeinsame Kontrollinstanz“ anrufen. Doch auch das klingt bürgerfreundlicher als es ist, denn dieses aus rund 30 Personen multinational zusammengesetzte Gremium könnte sich nur mit Zweidrittelmehrheit gegen Europol durchsetzen. Praktisch bestimmen die Polizisten, was korrigiert oder gelöscht wird und was nicht. Auch die Kontrollinstanz muß dem Antragsteller, wenn Europol es will, eine Antwort geben, aus der nicht hervorgehen darf, ob über ihn überhaupt Daten vorliegen.

Und damit die ganze Europol – Mannschaft so recht effektiv für die gesamteuropäische Sicherheit und Ordnung sorgen kann, ist ihr auch Immunität zugesichert. Die damit offenbar verbundene weitgehende Freistellung von strafrechtlicher Verantwortung paßt manchem unserer Politiker nicht, aber sie wollen dem Gesetz, das die Europol – Konvention in Kraft setzt, dennoch zustimmen – aus „europapolitischen Gründen“. Statt sich auf eine solche überstaatliche Staatsräson zurückzuziehen, sollten sie uns lieber erklären, wozu die Den Haager Datenmechaniker Immunität überhaupt brauchen. Den Haag liegt ja nicht im feindlichen Ausland.

Aber gibt es in der Welt der Daten überhaupt so etwas wie Inland oder Ausland? Daten kennen keine Grenzen, sondern nur Speicherplätze. Sie reagieren auf Befehle mit einer Geschwindigkeit, hinter der peußischer Drill wie eine Veranstaltung lahmer Greise zurückbleibt. Daten sind der Inbegriff moralfreier Flexibilität, aber in all ihrer Körperlosigkeit unterliegen sie doch, wie es in den Durchführungsbestimmungen zum Europol – Abkommen heißt, der Verantwortung des übermittelnden Mitgliedstaates, bis sie in den Analyseapparat von Europol geraten. Dann haben sie sozusagen einen neuen Herrn, der sie abfragen und weitergeben, verknüpfen und sperren, löschen und vernichten kann. Sie können an Sachverhalte, Gegenstände und Personen angeheftet werden. Hinsichtlich der letzteren sahen die Europol – Macher Definitionsbedarf: Eine Person ist, was man durch Zuordnung einer Kennummer identifizieren kann.

Immerhin, so stellen wir aufatmend fest, muß diese Kennummer nicht auf den Arm tätowiert, sie muß nur „zugeordnet“ werden. Man kann eine Person aber auch, so lesen wir in den Durchführungsbestimmungen, identifizieren durch Zuordnung (so wörtlich) zu „spezifischen Elementen, die Ausdruck ihrer physischen, physiologischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität sind“. Was heißt das nun konkret? Europol sammelt nicht nur die üblichen Personaldaten wie Name und Geburtsdatum, sondern auch Stimmprofile, genanalytische Merkmale und andere medizinische Daten. Was einer gelernt, was er auf dem Konto hat: Europol hält es fest. Kreditkarten und Geheimnummern, Immobilienbesitz, Steuergruppe und Finanzgebahren: Europol will es wissen. Lebt der Mensch über seine Verhältnisse, sucht er bestimmte Orte regelmäßig auf, benutzt er Fax und Internet, nimmt er Drogen, ist er Doppelagent: Alles soll in die Dateien von Europol. Die Zulieferer und Analytiker von Den Haag machen auch vor Daten nicht halt, die (Zitat) „die rassische Herkunft, religiöse oder andere Überzeugungen, politische Anschauungen oder das Sexualleben betreffen“. Die Beruhigungspille fehlt auch hier nicht: Diese Daten würden nur gesammelt oder verarbeitet, wenn es „unbedingt erforderlich“ sei, Und die Bundesregierung sagt dazu in ihrem Gesetzesentwurf, Daten zum Sexualleben usw. dürften natürlich „nicht isoliert“ erhoben werden. Das wäre ja auch noch schöner, denn Europol ist schließlich kein Institut für Partnervermittlung und keine Hotline für Sadomasochisten, sondern eine Institution der Kriminalitätsbekämpfung, und also versteht es sich von selbst, daß alles, was in Den Haag erfaßt, gelöscht oder vernichtet wird, mit Kriminalität zu tun haben muß.

Zwei wesentliche Fragen bleiben: Ist das Europol – Vorhaben vereinbar mit unseren Grundüberzeugungen von Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht, und ist es geeignet, Kriminalität einzudämmen? Vor Jahren ließ der Bundesverteidigungsminister den gesamten Brief- und Fernmeldeverkehr von und nach Ländern des Warschauer Paktes überwachen. Aus Verwandtentelefonaten wurden Begriffe herausgeschnitten für ein „militärpolitisches Mosaik“ über die Lage im Ostblock. Karlsruhe billigte es, daß betroffene Bürger nicht informiert wurden. Als der Ostblock zusammenbrach, zeigte sich, daß man über die wirkliche Lage dort nichts gewußt hatte. Und auf der anderen Seite verhinderten die Überwachungsmaßnahmen der Stasi, des vom Volk so genannten „VEB Horch & Greif“ auch nicht das Zerbröseln der Ordnung, die dergestalt verteidigt werden sollte. Unser Bundeskriminalamt arbeitet schon seit vielen Jahren mit elektronischen Datenverarbeitungsanlagen, die ähnlich angelegt sind wie die von Europol, und dennoch ist die Kriminalität gestiegen.

Skepsis ist also angebracht hinsichtlich möglicher Erfolge von Europol. Der Wust der Vorschriften ist unübersehbar, die vielen Vorbehalte signalisieren Mißtrauen unter den Beteiligten.

Man kann sich fragen, ob eine sich selbst entblößende Gesellschaft überhaupt noch so viel Datenschutz braucht, wie das Grundgesetz ihn im Prinzip vorsieht. Was hat Boris Becker noch zu verbergen, wenn er, um mal zu sehen, wie er sich dabei fühlt, alle Hüllen fallen läßt? Ich weiß zwar nicht, was dabei herausgekommen ist, ich kann auch die Befriedigung nicht nachempfinden, die mit dem „Outen“ von Gefühlen, Tränen, sexuellen Neigungen ausgerechnet im Fernsehen wohl verbunden sein muß, aber es ist ein fundamentaler Unterschied, ob ein einzelner das freiwillig tut oder ob der Staat alles anstellt, ihm auf die Haut zu rücken. Folter ist verboten, auch wenn es um die Aufklärung oder Verhütung von Verbrechen geht. Wir haben uns Grenzen gesetzt um der Menschenwürde willen. Ich fürchte, wir sind dabei, sie niederzureißen unter der Parole, die offene Gesellschaft müsse mit allen Mitteln verteidigt werden.

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