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Lexikon­ar­tikel und Gefäng­nis­briefe

aus: vorgänge Nr. 132 (Heft 4/1995), S. 125-128

Vor einiger Zeit warb die österreichische Giro-Credit Bank mit einem nun wirklich zeitgeistwidrigen Konterfei. Im noblen Foyer ihrer vielen Filialen, in den Schalterhallen und in den Schaufenstern war nur ein Kopf zu sehen: Karl Marx in seinen besten Jahren, ungetrübten Blickes und voller grimmiger Zuversicht. „Ihr Kapital hat Zukunft” und „Leistung verbindet” waren die dem Werbeposter beigefügten Botschaften. Ob das Plakat den erhofften Werbeeffekt hatte, fällt unter das Bankgeheimnis. Aber die Nachfrage nach dem Poster sei riesig gewesen, teilte die Gschäftsleitung allen Interessenten mit. Mögen auch die Kommunisten aller Länder ihren Namen ändern, Marxisten aller Fakultäten ihren Klassiker zum Altpapier werden und die Marx-Poster in den chic gestylten Wohnungen der Alt-68’er vergilben: Marx bleibt Marx – wenigstens als Werbeträger für das Bankenkapital.
Daß das rauschbärtige Werbemodell aus Trier aber auch ein vielfach zerklüftetes Gedankenmassiv voller Abgründe und Gipfel hinterlassen hat, darf seit dem Zusammenbruch der sich auf Marx berufenden Gesellschaftssysteme nur noch geflüstert werden. Als einzige zeitgenössische Autorität nimmt sich ausgerechnet der qua Amt antikommunistische Papst von Zeit zu Zeit noch die Freiheit heraus, den Kapitalismus nicht als die beste aller Welten zu feiern. Immerhin glimmt also doch noch ein kleines Feuerchen von jener Gesellschaftskritik, für die Marx mit seinen Arbeiten die wichtigsten Grundlagen geschaffen hat.
Damit wenigstens die Erinnerung an dieses Werk und die dadurch ausgelösten Debatten, Ideen und Theorien nicht ganz dem Reißwolf des Vergessens anheimfallen, hat der Argument-Verlag jetzt ein großes Editionsprojekt gestartet. In der Herausgeberschaft des trotzig allen Begräbniszeremonien für den Marxismus fernbleibenden Wolfgang Fritz Haug jetzt ist der erste Band eines „Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus” erschienen.
Schon die Angaben im Impressum des ersten Bandes lassen erahnen, welches Titanenwerk sich Haug, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und nicht zuletzt auch der Argument-Verlag da vorgenommen haben. So ein riesiges Projekt in geistig vertrockneten
und von rechts drehenden Winden aufgewühlten Zelten wie heute zu starten, ist schon mutig. Mehr als 500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten an diesem Wörterbuch mit. Der wissenschaftliche Beirat ist international besetzt und sieben Wissenschaftler sind eigens für die Zitatenkontrolle vorgesehen. Philologisch, das spürt man sofort, soll dieses Projekt „gegen jede denkbare Kritik wasserdicht“ abgesichert werden. Auch die technische Ausführung des Buchprojektes ist auf einem hohen Niveau. Nicht ein einziger Druckfehler ist mir beim genauen Studium ausgewählter Beitrage aufgefallen. Zwei Lesefäden erleichtern das Hin- und Herspringen zwischen einzelnen Abschnitten. Schon im Vorwort von Wolfgang Fritz Haug schimmert dieser Wille zur absolut seriösen Reputation bis an den Rand pingeliger Perfektion in jeder Zeile durch, Wenn man sich noch einmal vergegenwärtigt, wie sorglos, dilettantisch und warum nicht – auch lieblos Gegner und – dies ist die größere Schande – gerade Freunde des Marxismus mit dem weit verwurzelten Denken in der Tradition von Marx herumgeschlurrt haben, ist dieses Ansinnen von Haug ohne Abstriche zu loben. Gegen die Lautsprecher auf den diversen linken Begräbnisfeiern unserer Zeit haben heute nur sauber argumentierende und selbstkritische Repräsentanten eines von allen Dogmatismen befreiten Marxismus eine Chance auf Gehör. Vielleicht könnte der Marxismus ja auch wieder ein Echo finden, wenn seine Freunde weniger mit trotzigen Bekenntnisparolen um sich werfen und mehr der Kraft kluger Argumente vertrauen. Der von Haug in seinem Vorwort angeschlagene Ton scheint vor dem Hintergrund der jüngsten Erfahrungen mit dem staatlich zu betonierten Marxismus auch der einzig vertretbare zu sein. „Der Untergang des Marxismus-Leninismus hat im Gedächtnis der Völker zunächst akkumulierte Schuld hinterlassen. Sie schlägt sich in einem riesigen Schuttberg nieder, der die rationalen Elemente des Untergegangenen und die in ihm enthaltenen Zukunftskeime mitsamt den irrationalen und lebensfeindlichen Elementen unterschiedslos unter sich zu begraben droht. Diese Situation macht marxistischen Denken die Anstrengung und den Schmerz des Negativen in Gestalt rücksichtsloser Kritik zur Überlebensbedingung. Nur so kann es gelingen, menschheitliche Schätze aufklärerischen Wissens und sozialer Phantasie aus diesem Untergang zu retten”.
Der vorliegende 1. Band des Lexikons ist ausschließlich Begriffen mit dem Anfangsbuchstaben A gewidmet. Selbst der mit der Theorie Diskussion des Marxismus vertraute Leser nimmt da mit Erstaunen zur Kenntnis, was da alles inzwischen zu einem Lexikon begriff geronnen ist; Affe, Alltäglichkeit, Anfang, aufrechter Gang, Autonomie der Kunst. Und selbstverständlich sind hier auch klassische marxistische Themen wie Abbau des Staates, Arbeiterklasse, Arbeitsteilung oder Ausbeutung vertreten. Ein Name wie Auschwitz darf in einem Lexikon linker Provinienz natürlich nicht fehlen. Die schwierige Gratwanderung zwischen der einem Lexikon angemessenen nüchternen Aufklärung und einer immer auch emotionalen Annäherung an das Massenverbrechen der Nazis ist Detlev Claussen vorbildlich gelungen. In anderen, allerdings nur wenigen Beiträgen, sind immer noch die eindimensionalen Sichtweisen eines hölzernen Marxismus früherer Jahre spürbar. Das Lexikon ist zwar technisch, aber nicht „inhaltlich aus einem Guss”.
Jedem Beitrag ist eine Bibliographie angefügt, die einen Pfad durch den Dschungel einschlägiger Veröffentlichungen schlägt. Mit einem Verweis auf weitere, mit dem jeweiligen Begriff im Zusammenhang stehenden Lexikon-Artikel endet jede Abhandlung. In der Zusammensetzung der Autorenschaft spiegelt sich ein bunter Kreis von internationalen Intellektuellen wieder, von denen wahrscheinlich nicht wenige das Etikett „Marxist” – wie Marx es schließlich auch selber tat – von sich weisen wurden.
Im bereits angekündigten 2. Band sollen die Beiträge von „Bank” zur, man höre und staune, „Dummheit in der Musik” reichen. Das Gesamtwerk, entnehmen wir der Pressemitteilung, wird nicht vor dem Jahr 2000 abgeschlossen sein. In seiner philologisch präzisen Form und mit seinem überzeugenden undogmatischen Anspruch, wird dieses „Historisch-Kritische Wörterbuch” nicht die schlechteste Erbschaft sein, die aus der geistigen Kultur dieses Jahrhunderts mitgenommen wird. Bis dahin also wird uns Marx auf jeden Fall noch als produktives Ärgernis oder als rücksichtsloser Kritiker des Bestehenden erhalten bleiben. Was dann kommt, kann, frei nach Heine, dem Himmel und den Spatzen überlassen bleiben.
Leider etwas im Schatten dieser editorischen Großbaustelle ist im Argument-Verlag jetzt auch endlich der erste Band der „Gefängnisbriefe” von Antonio Gramsci erschienen.
Gramsci, dies zur Erinnerung, war als der überragende Intellektuelle der kommunistischen Partei der bekannteste Opponent, den die italienischen Faschisten jahrelang gefangen hielten. Während dieser Gefangenschaft hatte Antonio Gramsci, im Gegensatz zu inhaftierten deutschen Antifaschisten, die Möglichkeit, weitgehend frei von einer strengen Zensur, zu lesen und zu schreiben. Was er in der Zeit zwischen 1926 und Mitte der dreißiger Jahre schrieb, wird heute zu den ganz großen Werken der italienischen Kultur in diesem Jahrhundert gezählt: die „Gefängnishefte” und die „Gefängnisbriefe”. Während die „Gefängnishefte” bereits seit einigen Jahren sukzessiv auch ins Deutsche übertragen werden, hat die deutsche Edition der „Gefängnisbriefe” gerade erst begonnen („Gefängnisbriefe, Bd.1, Hamburg, Frankfurt, 1994). Wenn beide großen Editionsprojekte geschlossen vorliegen werden, ragen sie in eine zeit hinein, in der dieser intellektuelle Steinbruch vermutlich von nur noch wenig Interessenten genutzt wird. Das Gramsci heute in Kreisen der intellektuellen Rechten wegen seiner Thesen zur ,kulturellen Hegemonie“ ein irritierendes Echo findet, während er in linken Zirkeln, von wenigen Ausnahmen abgesehen, längst vergessen ist, gehört wohl auch zu den großen Verwirrungen unserer Zeit.
Als Hinführung zu den „Gefängnisbriefen” hat Peter Kammerer die Studie von Aldo Natoli über den Briefwechsel von Tanja Schucht und Antomo Gramsci übersetzt. Wer hofft (oder befürchtet), hier werde mal wieder im Trend der Zeit das Leben eines linken Intellektuellen und Politikers auf das Niveau von Billigpostillen herab gezogen oder es werden mit den abstrusesten Belegen seine stalinistische Vergangenheit entlarvt, wird von alledem an dieser Stelle nichts finden. Der Autor Aldo Natoli ist ein in Italien hoch angesehener„Kommunist ohne Parteibuch”, der zeit seines nunmehr über achtzigjährigen Lebens immer viel zu politisch dachte und handelte, um Gefallen an privatem Klatsch zu finden. Und daß gerade jemand aus dieser Generation der alten Linken, die immer auf strikte Trennung von „Politik” und , „Privatheit“, von „Kampf` und „Liebe” beharrt hat, eine so empfindsame Recherche über die von Spannungen und Zuneigungen, Solidarität und Distanz geprägte Freundschaft zwischen der großbürgerlichen Russin Tanja Schucht und dem kommunistischen italienischen Intellektuellen Antonio Gramsci geleistet hat, vermittelt.die besondere Faszination dieses Buches. Man erfährt sehr viel von der deprimierenden Situation linker Politiker und Intellektueller in der Zeit des italienischen Faschismus und man liest wunderbare poetische Briefe, die allein schon Gramsci die Mehrzahl der nur der Partei und den Massen verpflichteten Marxisten weit überragen lassen. »Wie oft habe ich mich gefragt”, schrieb er einmal in einem seiner vielen „Gefängnisbriefe”, „ob eine wirkliche Beziehung zu einer Masse von Menschen für jemanden möglich ist, der nie einen Menschen geliebt hat.” Genau deshalb wurde und wird Gramsci in Italien von so vielen Menschen, denen die Parteien und deren Geistesgrößen ansonsten sehr ferne sind, so geschätzt. Vielleicht findet man ja auch im deutschen Sprachraum über den Umweg über den „Privaten Gramsci” auch wieder einen Zugang zum „Denker Gramsci” und von diesem auch mitten hinein in das Theoriemassiv des Marxismus.
Wer noch skeptisch und vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen mit dem Marxismus verständlicherweise noch etwas missmutig vor dem „Historisch-kritischen Lexikon” herumschleicht, sollte vielleicht erst einmal die Kerker-Briefe eines der ganz Großen des westlichen Marxismus an seine Frau Julia Schucht und seinen Sohn Delio lesen. Verdorben von der Lektüre theoretischer Zirkulare und Resolutionen vieler Strategen der internationalen Arbeiterbewegung, allen voran den marxistisch-leninistischen Heerführern, liest man die Briefe des von den Faschisten inhaftierten Antonio Gramsci mit einem befreienden Durchatmen. Es hat sie wirklich gegeben, Marxisten, die, wie Gramsci in einem Brief aus dem Jahre 1936, für Gerechtigkeit und Gleichheit kämpften, aber auch für „Zivilität und Schönheit”.
Die Gefängnisbriefe von Antonio Gramsci gehören wie seine „Gefängnishefte” zu den großen intellektuellen wie politischen wie persönlichen Dokumenten europäischer Zivilität und Schönheit in diesem Jahrhundert. Wer sie nicht gelesen oder wenigstens zur Kenntnis genommen hat, sollte sich gefälligst in den Diskussionen um das „Ende des Marxismus” etwas zurückhalten. Schließlich muß man sich ja „nicht an jeder Dummheit begeistern” (Gramsci).

Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.): „Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus“. Band l: Abbau des Staates bis Avantgarde, Argument-Verlag, 1994, 129,00 DM
Aldo Natoli: Tanja Schucht und Antonio Gramsci – Eine moderne Antigone, übersetzt und eingeleitet von Peter Kammerer, Cooperative-Verlag, Frankfurt am Main, 1993, 269 5. 48,00 DM
Antonio Gramsci: Gefängnisbriefe l, übersetzt von Elisabeth Schwaiger u.a., Argument-Verlag/Coopertive Hamburg, Frankfurt am Main, 1995, 1995, 194 5.

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