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„Chaos-Tage" in Hannover

Vom Ereignis zum Mythos

aus: vorgänge Nr. 132 (Heft 4/1995), S. 1-6

Wieder einmal sorgt sich die Landeshauptstadt Hannover um ihr Image. Über lange Jahre im unvermeidlichen Wettbewerb der Städte mehr oder minder zu Unrecht als graue Maus gehandelt, sieht sich Hannover seit dem Sommer 1995 Plötzlich als Synonym für „Chaos-Tage”. Nicht die mit großen Erwartungen besetzte Weltausstellung Expo 2000, die, wie es der Rücktritt ihres Geschäftsführers jüngst signalisierte, nicht so recht voranzukommen scheint, und auch nicht die Eskapaden des eigenwilligen Ministerpräsidenten Schröder, sonder jugendliche Punks sind es, die für Aufregung im Land sorgen und Hannover negative Schlagzeilen bescheren.
Zwischen dem 3. und 5. August 1995 war es wie nahezu an jedem ersten Augustwochenende seit 1982 zwischen Polizei und Jugendlichen zu Auseinandersetzungen gekommen, in deren Verlauf 244 Polizisten und etwa 200 Jugendliche verletzt, ein Geschäft geplündert und Sachschäden in Höhe von 550.000 DM angerichtet worden sein sollen. 1200 Jugendliche wurden in Gewahrsam, etwa 40 festgenommen. Insgesamt wurden 269 Strafverfahren eingeleitet. Der hannoversche Polizeipräsident – der die ihm zugewiesene Verantwortung mit der Bemerkung, er sei nur ein einfacher Beamter, zurückweisen wollte – mußte drei Wochen nach den Ereignissen seinen Rücktritt einreichen. Wenig später beschloß der niedersächsische Landtag mit den Stimmen von CDU und Grünen die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Polizeiführung und ihre Taktik sahen sich heftigen Vorwürfen ausgesetzt.
Allgemeines Erstaunen rief die lokale SPD hervor, die sich auf ihrem Unterbezirksparteitag, 14 Tage nach den turbulenten Ereignissen, jeglicher Debatte der hannoverschen „Chaos-Tage” verweigert hatte. Von Vertretern der CDU wurde dies weidlich genutzt, die bisher eher konturlos wahrgenommene eigene Oppositionsrolle entlang von law-and-order-Forderungen populistisch zu profilieren.
Allein schon diese Ereignisskizze läßt erkennen, daß die von den Medien zusätzlich hochgespielten Vorfälle ausschließlich unter ordnungspolitischen bzw. polizeitaktischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Diesem Sog publicityträchtiger Gewaltszenarien scheint sich auch die lokale Politik nicht entziehen zu können, zumal 14 Tage nach der unvermeidlich erscheinenden Neuauflage der „Chaos-Tage” im nächsten Jahr sich die Kommunalwahlen anschließen werden, die angesichts des stetigen Abwärtstrends der hannoverschen SPD den Genossen eher als Drohung denn als Auftrag erscheinen. Daß es beim nächsten Mal mit den Punks ganz anders ablaufen wird, weil auf eine Verstärkung der Polizeikräfte gesetzt werden soll, so der designierte neue Polizeipräsident, und damit zugleich die Profilierung als politischer Garant für Sicherheit und Ordnung möglich wird, scheint in Hannover eine weitverbreitete Illusion zu sein. Nachfragen im Sinne einer kritischen Bestandsaufnahme scheinen derzeit kein Gehör zu finden. Dazu hier nur einige Anmerkungen, bevor ich zur Charakterisierung der jugendlichen Punk-Szene und zu möglichen alternativen Umgangsweisen mit deren Provokationen komme.

Die „Chaos-Tage” haben sich mittlerweile zu einem Mythos verselbständigt, der über den kleinen Kreis der seit 1982 agierenden lokalen Jugendszene weit hinausreicht und eine überregionale Anziehungskraft und Dynamik entwickelt. Angelegt wurde der Mythos bereits 1984, als der damalige niedersächsische Innenminister Egbert Möcklinghoff CDU eine polizeiliche „Punker-Datei” einrichten ließ, in der Personen registriert wurden, von denen erwartet wurde, daß sie gegen öffentliche Sicherheit und Ordnung verstoßen werden. Im öffentlichen, auch von der damaligen SPD begleiteten Protest gegen diese Datei erhielten die hannoverschen Jugendlichen rege Unterstützung aus anderen Städten, so daß Hannover auch in den Folgejahren regelmäßig von 500 bis 1000 Punks „heimgesucht” wurde. Bei Musik und viel Bier waren diese von der lokalen Öffentlichkeit mißtrauisch bis feindselig beobachteten Treffen immer wieder mit Auseinandersetzungen zwischen Punks und Polizei oder Punks und Skinheads verbunden. Das nachrichtenarme Sommerloch des ersten Augustwochenendes ist für die öffentlichkeitswirksame Selbstdarstellung der Punks wie geschaffen. Wenn auch mit gegenteiligen Intentionen und Aufgaben betraut, gilt dies nicht minder für das sorgsam beobachtete Agieren der Polizei. Mangels politischer organisatorischer Alternativen im Umgang mit den Jugendlichen, blieb ihr nichts anderes übrig, die ihr sowohl von den Punks als auch von der Öffentlichkeit zugewiesene Ordnungshüter-Rolle zu akzeptieren und so zum jährlichen Gelingen der „Chaos-Tage” beizutragen. Die Medienöffentlichkeit erfreut sich regelmäßig über die Abwechslung während der Saure-Gurken-Zeit und hat diesen Termin seit Jahren fest gebucht.
Hinzu kommt, daß der Termin der „Chaos-Tage” auf einen verkaufsoffenen Samstag des Sommerschlußverkaufs fällt und darüber hinaus in dieser Zeit das in Hannover beliebte Maschseefest gefeiert wird; zwei vom Kommerz geprägte Ereignisse, die im Licht der gegen „konsumistische Spießbürger” gerichteten Ideologie der Punks keine bessere Kontrastfolie zu den auf „Spaß und Action” zielenden Provokationen der bunt haarigen Jugendlichen liefern können. Entsprechend war von den Jugendlichen kalauernd angekündigt worden, „Hannover in Schutt und Asche zu legen“ und dabei auch Atombomben und C-Waffen mitzubringen. Einige schon frühzeitig in die Stadt gereiste Punks setzten diese Drohung um, indem sie etwas mitgebrachte Asche und Schutt auf Hannovers erste Einkaufsstraße streuten.

Wie schon in den Jahren zuvor, war von Seiten der Politik oder der Jugendverwaltung auch 1995 wenig zu erfahren, wie denn nun mit den Punks über polizeiliche Sicherungsmaßnahmen hinaus umgegangen werden sollte. Das sonst sich so gern selbstdarstellende offizielle Hannover schien auf Tauchstation im Urlaub oder weilte, wie der Oberbürgermeister nebst Oberstadtdirektor, in der japanischen Partnerstadt Hiroshima, um den Opfern des Atombombenabwurfes zu kondolieren. An kleinere Schlägereien und Sachbeschädigungen offenbar seit zwölf Jahren gewöhnt, vertraute man allein auf die Erfahrung der Polizei, die zuletzt 1994 600 von 800 Jugendlichen kurzfristig in Gewahrsam genommen hatte und für dieses Jahr eine flexible Strategie der Deeskalation vorgesehen hatte. Experten des hannoverschen Jugendamtes, die sich an dieser Strategie mit eigenen vertrauensbildenden Maßnahmen beteiligen wollten, direktes Ansprechen der anreisenden Punks über die hannoverschen Jugendszenen und das Bereitstellen von Plätzen und Unterkünften, wurden zurückgepfiffen, da niemand aus dem Politikbereich dafür öffentlich geradestehen wollte. Ungewöhnlich war im Vorfeld die rege Betriebsamkeit in den informellen Kommunikationsnetzen der Jugendszenen. Auf Flugblättern, in Fanzines und wohl erstmalig auch im Internet wurde für das Treffen in Hannover massiv geworben. Der Kreis der Angesprochenen ging über die engeren Punk-Szenen hinaus. Sogar Punk-Bands aus den USA und aus England hatten sich angekündigt. Auch waren bereits eine Woche zuvor sogenannte „Autonome” angereist, die die hannoversche Szene um Hausbesetzer und Punks massiv unter Druck setzten, sich auf militante Aktionen vorzubereiten. Auch glaubte man, Skinheads und Hooligans aus dem europäischen Ausland unter den letztendlich etwa 2500 angereisten Jugendlichen gesehen zu haben.
Daß sich schließlich in diesem Jahr die schon üblichen Scharmützel zwischen Polizei und Jugendlichen zu regelrechten Straßenschlachten ausweiteten, scheint sich nicht auf eine einzige der möglichen Ursachen zurückführen zu lassen. Vielmehr ist davon auszugehen, daß erst die verschiedenen Bedingungen in einem spezifischen Zusammenspiel dem Mythos zu einer unerwartet gewalttätigen Dynamik verhalfen. Dieses Zusammenspiel war nach dem schon gewohnten Abtauchen von Politik und Verwaltung vom polizeistrategischen Wechsel zwischen Eingreifen und Tolerieren geprägt. Dieses erfolgversprechende Konzept der Polizei wurde allerdings in den eigenen Reihen blockiert. Beobachter ließen durchblicken, daß Gegner der niedersächsischen Polizeireform die ,“Chaos-Tage” dafür benutzten, die Reformbefürworter „auflaufen” zu lassen. Sie gaben die Anweisungen der Einsatzleitung in zynischer und widersprüchlicher Form an die Einsatzkräfte weiter und trugen so zum allgemeinen Chaos erheblich bei. Zwar wurden die citynahen Einkaufsstraßen sowie auch das gleichzeitig stattfindende Maschseefest von Jugendlichen „freigehalten”, doch dafür wurden diese von der Polizei in die ohnehin mit sozialem und politischem Zündstoff beladene Nordstadt abgedrängt. Viele der angereisten Punks, die nach eigenen Aussagen „keinen Stress wollten”, wurden, mal sanfter, mal härter, unfreiwillig in das Zentrum der nachfolgenden Turbulenzen „geleitet”. Obwohl Jugendzentren und die Hausbesetzer-Szene der Nordstadt im Vorfeld ihre Distanz zu den „Chaos-Tagen” signalisiert hatten, wurden ihnen die Punks und vor allem die angereisten „Straßenkämpfer” von der entsprechend chaotisierten Polizeitaktik nahezu aufgenötigt, so daß es in der Konsequenz zu unbeabsichtigten Solidarisierungseffekten zwischen den verschiedenen Jugendlichen kam. In dieser unübersichtlichen Gemengelage der ohnehin engen Nordstadt fiel es kleineren, zweifellos auf gewalttätige Auseinandersetzungen ausgerichteten Gruppierungen nicht schwer, zwischen Zuschlagen und Abtauchen zu changieren und dabei die allgemeine Unübersichtlichkeit sowohl für die Polizei als auch für die übrigen Jugendlichen noch zu verstärken. Der Konflikt nahm seinen Lauf.
Abseits der spektakulären Bilder brennender Straßenbarrikaden und verletzter Menschen wurde nur ganz selten ein Blick riskiert, der auf die Kultur der Punks und somit auf die möglichen Intentionen der Jugendlichen gerichtet war. Dies scheint mir unerläßlich zu sein, um in der Distanz zu den Ereignisse Reflexion zu ermöglichen und somit dem scheinbaren „Wiederholungszwang” „Chaos-Tage” angemessen entgegenwirken zu können. Allein die Tatsache, daß Jugendliche sich auch heute noch der Punk-Szene zurechnen, mag manches Erstaunen hervorrufen. Denn der auch als Müllkultur der Arbeiterjugend“ charakterisierte Punk war ursprünglich 1976/77 mit den „Sex Pistols” u.a. Jonny Rotten und dem Punk-Rocker Sid Vicious »live fast, die young“ verbunden, mit einer Musik, die als kollektiv-stiftender Hintergrund fungierte für mehr oder minder selbstbestimmte Milieus arbeitsloser englischer Jugendlicher. Die Musik war einfach bis Primitiv, ohne aufwendige technische Anlage und symbolisierte die Idee eines sich selbstorganisierenden Chaos, in dem keiner über dem anderen stehen und somit keinerlei hierarchische Strukturen existieren sollten. Angesichts der damals wie heute aussichtslosen Berufsperspektive vieler Jugendlicher galt es, eingefleischte Formen der industriegesellschaftlichen Arbeitsethik zu demontieren, Hörgewohnheiten und Moden eingebildeter Kunst- und Kulturexperten so Phisticates zu beleidigen und sich dabei auch nicht von der Vermarktung des eigenen neuen Stils irritieren zu lassen. Ob in Musik, Mode, Tanz Pogo und Alltagsethik der Jugendlichen, überall stand Dilletantismus vor Perfektion, Schäbigkeit vor Snobismus, Anarchie vor Subordination und „no future” vor Karrieredenken. Den ihr zugewiesenen gesellschaftlichen Rand durchaus phantasievoll und kreativ besetzend, dabei der übrigen Gesellschaft das auf den Kopf gestellte Spiegelbild vorhaltend, schwappte der Punk über die Berliner Hausbesetzer-Szene zu Beginn der 1980er Jahre auch nach Deutschland über.

So auch nach Hannover, an dem wie an allen übrigen deutschen Provinzmetropolen keine der verschiedenen sozialen Bewegungen und Jugendkulturen spurlos vorbeigegangen ist. Die föderalistische Besonderheit großstädtischer Infrastrukturen bei relativer Überschaubarkeit und sozialer Kontrolle war und ist in diesen Städten immer mit einer Aufwertung des Abweichenden verbunden. Mit ablehnenden Reaktionen und Vorurteilen gegenüber einigen wenigen sich zum Punk bekennenden Jugendlichen wurde und wird deren angestrebte negative Identität immer wieder durch die lokalen Öffentlichkeiten bestätigt.
Unabhängig von der Frage, ob die heutigen Generationen der Punk-Jugendlichen mit der Geschichte und den Ikonen des Punk etwas anzufangen wissen, scheint mir von Bedeutung zu sein, daß die gesellschaftlichen Bedingungen, die den Punk seinerzeit hervorgebracht haben, aus der Perspektive der Jugendlichen keine gravierenden Veränderungen erfahren haben, 1995 sehen sich in Deutschland mindestens 1,4 Millionen junge Leute in prekären sozialen Situationen: sei es, daß sie keine Lehrstelle haben, ohne Job nach der Lehre dastehen, sich als Sozialhilfeempfänger durchschlagen oder gar als Obdachlose umherirren. Insofern spiegeln die in Jugendkulturen ständig fluktuierenden kulturellen Ausdrucksformen eines von seinen Ansprüchen ohnehin nie authentischen Punk einen Realismus wider, der durch alle Vermarktungsstrategien hindurch Formen und Lebensstile negativer Identität auf Dauer gewährleistet, Entgegen der selbst von der häufig altbacken und elitär argumentierenden gesellschaftlichen Linken vorgebrachten Klage von der „Armanisierung” der Jugend mit ihren individualistisch-vagabundierenden Lebensstilen abseits realistischer politischer Partizipation, wie noch zu Zeiten der neuen sozialen Bewegungen, birgt die jugendliche Praxis negativer Identität offenbar attraktive Möglichkeiten symbolischer Kreativität. Statt nun über Politikverdrossenheit zu jammern, sollten diese Möglichkeiten ausgelotet werden, um so vielleicht den von Jugendlichen als überkommen wahrgenommenen traditionellen Begriff des Politischen und der Partizipation mit neuem Leben füllen zu können. Dazu gehört allerdings, die unterschiedlichen Perspektiven der vielfältigen Jugendkulturen, hier insbesondere des Punk, erst einmal wahrzunehmen. Nicht zuletzt auch im Interesse einer Profanisierung des Mythos „Chaos-Tage” Tage“ sollten dabei mindestens vier Dimensionen berücksichtigt werden, die ich abschließend nur skizzieren kann.
Wie bei allen Jugendkulturen sollte auch bei den Punks die entwicklungspsychologische Dimension des jugendlichen Verhaltens nicht vergessen werden. Obwohl häufig als altbekannte Tatsache hingestellt, findet sich diese im alltäglichen Umgang mit Jugendlichen immer wieder zu wenig berücksichtigt. Jugendliche im Alter von 14 bis 20 Jahren durchlaufen eine Stufe der Orientierung, an der sie das sogenannte Drama der Individuation zu bewältigen haben. Sie sind gezwungen, sich als relativ autonome Individuum wahrnehmen zu müssen, und sie fühlen sich herausgefordert, dabei von anderen Menschen als solche auch anerkannt zu werden. In diesem überaus widersprüchlichen und schwierigen Prozeß können sich auf Seiten der Jugendlichen heftige Reaktionen der Identifizierung wie auch der Ablehnung und Abgrenzung zur Welt der Erwachsenen und deren Normen ergeben. Zu dieser Phase der Selbstvergewisserung und Identitatsfindung gehört das Kokettieren und Spielen mit umstrittenen Symbolen der Gewalt, der Sexualität oder auch politischer Ideologien. In der Regel handelt es sich um gesellschaftlich negativ wie positiv hoch besetzte Symbole, bei deren Handhabung sich die Jugendlichen sicher sein können, daß die Erwachsenenwelt darauf  „anspringt“.
Die schräg-schrille Musik, die scheinbar rücksichtslose Körperlichkeit des Pogo-Tanzens, die allen Konventionen zuwiderlaufende Kleidung sowie das öffentliche Bier-Saufen und Schnorren der Punks ist zwar den konventionellen Regeln des sozialen Lebens entgegengesetzt, birgt zugleich aber in ihrem spezifischen Hedonismus auch eine ästhetisch-kulturelle Dimension, die sich den Jugendlichen offenbar als Attraktion darstellt. Nach dem Motto „I don`t know what I want, but I know how to get it” läßt sich jeder bekennende Punk-Jugendliche in der Öffentlichkeit auf unsichere und häufig auch spannungsgeladene Situationen ein. Es sind die in der Regel prompten Gegenreaktionen der sich von den Punks provoziert fühlenden Öffentlichkeit die als Salz in der Suppe das tägliche Einerlei der Jugendlichen aufwerten. Ohne den jeweiligen konventionell-bürgerlichen Gegenpart auf der öffentlichen Bühne würde diese jugendspezifische Form des absurden Theaters ins Leere laufen.
Im Unterschied zur distanzierten, kontemplativen Betrachtung von Gegenständen der Kunst und Kultur gestalten sich die Punks damit einen Erlebnisraum, der über die symbolische Darstellung bzw. über das spielerische Probehandeln hinausführt. In der nicht selten schockierenden Selbstinszenierung des Einbringens der gesamten Person mit all ihrer sinnlichen Körperhaftigkeit bewegen sich Punks im Grenzbereich von abstrakter Militanz, abgrenzender Symbolik und ästhetischer Raffinesse. Sie erinnern an die Tradition der sich selbst zu Kunstwerken stilisierenden und dabei den herkömmlichen Kunstbegriff demontieren – den Situationisten der 1920er Jahre, deren gegen die Ästhetik der Langeweile gerichteten subversiven Provokationen, ebenso wie die der heutigen Punks, ohne die Abwehrbereitschaft des Establishments verpufft wären.
„Spaß haben”, „verschärfte Abenteuer erleben”, sich dabei inmitten abgelegter Accesoires der Umwelt stilistisch als „Müllkultur” positionieren und vor allem die gewohnte Unterdrückung der Aggressivität bei Bier und Pogo ausleben zeichnen das geläufige Bild des Punk-Hedonismus. Nun erscheint jede an diese Kultur herangetragene Interpretation, die deren politische Dimension zu fixieren sucht, den Jugendlichen als fremdbestimmt und als Versuch, die negative Identität des Punk zu neutralisieren. Andererseits ist nicht von der Hand zu weisen, daß der Punk als negative Kontrastfolie des konventionellen gesellschaftlichen Lebens auf diese Gesellschaft angewiesen ist, weil er auf deren uneingelöste Versprechen abgrenzend reagiert und sich zudem in gesellschaftlicher Kritik auf der Ebene der übrigen Außenseiter bewegt. Im Unterschied zu ideologisch verquer aufgeladenen Skinheads mit ihren stumpfsinnigen Ressentiments gegen alles sozial Schwache stellt sich im demonstrativen Außenseitertum der Punks gleichsam eine alltägliche Nähe und Sensibilität mit den gesellschaftlichen Verlierern her. Diese vielen Jugendlichen eher unbewußte gesellschaftskritische Dimension des Punk kann von ihnen nie ausdrücklich ideologisch oder traditionell-organisatorisch bekundet werden, da dies einer gesellschaftlichen Gleichschaltung bzw. Neutralisierung der für die Punk-Kultur existentiellen negativen Identität gleichkäme. Insofern muß auch jedes pädagogische oder politische Integrationsangebot die Existenzberechtigung des Punk in Frage stellen, obgleich sowohl Politik wie Pädagogik zur Zeit alles andere als ein handlungs- und gestaltungsfähiges Bild liefern. Stattdessen läßt sich der Eindruck gewinnen, daß das anwachsende Legitimations- und Machtvakuum des politischen Systems gerade im Punk eine jugendspezifische Antwort erfährt. Denn wer sonst als die Punks schafft es heute auf der hedonistischen Grundlage musikalisch-körperlicher Selbstinszenierungen, nachhaltige gesellschaftliche Konflikte zu provozieren?

Wollen jedoch gesellschaftliche Kräfte die ihr von den Punks, bei Gelegenheiten wie den hannoverschen „Chaos-Tagen”, zugewiesene Komplizenschaft zurückweisen, und wollen sie gar das auch in anderen Jugendkulturen latente gesellschaftskritische Moment aufgreifen, bedarf es des Muts zum Risiko. Zunächst einmal muß die ohnehin unabweisbare Existenz offener Jugendkulturen auch wirklich anerkannt werden. So muß sich z.B. die hannoversche Öffentlichkeit darüber im Klaren sein, daß mit den Punks, die keine offiziellen Ansprechpartner und Strukturen repräsentieren, nicht so umgegangen werden kann, wie mit straff organisierten Schützenvereinen oder traditionellen Jugendverbänden. Schon gar nicht reicht es aus, sich allein hinter der Polizei zu verschanzen, da dies nur die gängige Pflege des Mythos „Chaos-Tage” fortsetzen würde.

Stattdessen ist auf eine offenere politische Kultur zu setzen, die immer auch Rückschläge und Ablehnungen einkalkuliert. Der Vielfalt jugendkultureller Selbstdarstellungen ist unter Beachtung von Mindeststandards gesellschaftlicher Regeln öffentlicher Raum zuzugestehen, um so überhaupt die Grenzbereiche des Zumutbaren, auf die ein Großteil der Punk-Inszenierungen abzielt, ausloten zu können. Wenn im Jahr 2000 im Interesse der Weltausstellung in Hannover für mindestens sechs Monate in nahezu jeder Beziehung ein Ausnahmezustand in Kauf genommen werden wird, sollte die Stadt in der Lage sein, jährlich ein Wochenende so vorzubereiten, daß der Besuch einiger Hundert Punks als gegenseitige Bereicherung erfahren werden kann. Dazu gehört die Bereitstellung einer angemessenen Infrastruktur von Plätzen und Räumen, um wenigstens dem „stressfreien” Teil der Punk-Aktivitäten, Musik und Tanz, ein Angebot zu machen. Wichtig sind vor allem lokale Initiativen, die ohne jede Umarmungstaktik sich für die Jugendlichen bereithalten, um ihnen bei Bedarf das bisher im Rücken der Polizeiketten verborgene Hannover zu öffnen. Und warum sollte es völlig auszuschließen sein, daß die hannoverschen Ratsmitglieder, mit Oberbürgermeister und Oberstadtdirektor an der Spitze, bei dieser Gelegenheit auf die finanzielle Notlage der Stadt hinweisen, indem sie die überwiegend symbolisch gefärbten Aktivitäten der Jugendlichen mit einer eigenen Performance ergänzen. Sie könnten dabei den anreisenden Punks entgegengehen und sie im Sinne von „Haste mal ne Mark, ey?” anschnorren. Sie würden unter Beweis stellen, daß abseits der nicht nur für Jugendliche langweilig inszenierten symbolischen Politik noch phantasievolle Risikobereitschaft bei Verantwortlichen existent ist. Auf die von jedem Politiker gemiedene Gefahr hin, sich der möglichen Lächerlichkeit auszusetzen, würden sie in Distanz zur gerade bei Jugendlichen ohnehin unglaubwürdig gewordenen Rolle der Politik ihre Bereitschaft dokumentieren, das Andere im Fremden überhaupt wahrnehmen zu wollen. Dem Image Hannovers würde dies nur gut tun. Allerdings wird mittlerweile keinem der hannoverschen Politiker dieser eigentlich alltägliche Mut zum Risiko mehr zugetraut, zumal die Kommunalwahlen 1996 jede polarisierende Profilierung zu verhindern scheinen.

Eines jedoch steht fest: Die Jugendlichen werden nicht einfach von der Bildfläche verschwinden.

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