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Politik und mehr.

Zum 20. Todestag von Hannah Arendt

aus: vorgänge Nr. 132 (Heft 4/1995), S. 23-26

Auch ein deutsches Leben: 1906 hineingeboren in diese unsere Moderne mit ihren Welt- und Weltanschauungs- und Weltvernichtungskriegen, aufgewachsen im ostpreußischen Königsberg, in einem liberalen deutsch jüdischen Milieu. Die junge Frau studiert in Heidelberg und auch bei Karl Jaspers, Martin Heidegger und Edmund Husserl. Sie engagiert sich nach ihren flinken Doktorat 1928 in der zionistischen Bewegung in Deutschland. Das ist den neuen deutschen Herren nicht genehm: Flucht also schon 1933 nach der Machtübergabe, -übernahme und -ausübung durch die Nationalsozialisten. Illegalität im Nachbarland Frankreich. Dort wieder aktiv in der jüdischen Rescue-Arbeit, um zu retten, wer immer aus Deutschland zu retten ist. Günther Anders – später bedeutender sozial-philosophischer Kritiker des Atomzeitalters – ist ihr Lebensgefährte. Beide können nach der Besetzung des größten Teils von Frankreich durch deutsche Truppen in die USA fliehen. Wieder Arbeit in jüdischen Hilfskomitees, aber auch: intellektuelle Aufarbeitung all dessen, was geschah; und warum es so geschehen konnte, zäh, verbissen, gegen Widerstände.

Das bis heute wichtigste Ergebnis diverser Jahre auch des Zweifels an allen Möglichkeiten der conditio humana und Mit-Menschlichkeit ist ein Buch, das als Bibel des Antitotalitarismus gilt; Hannah Arendts 1961 erschienene wissenschaftliche Trilogie The Origins of Totalitarism (dt.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft). Auch diesem Buch fehlt, wie Manès Sperber als Zeitgenosse in seinem Epochenroman Wie eine Träne im Ozean einleitet jede „tröstliche Moral”. Denn auch für Hannah Arendt’s Studie zur totalitären Herrschaft gilt als Angebot für uns Leser: Mit der Autorin „die Einsamkeit teilen”, also an einer paradoxen Form von Gemeinschaft teilhaben in der, so Manès Sperber, „jene zueinanderfinden, die aus der gleichen Quelle den Mut schöpfen müssen, ohne Illusionen zu leben.”

In den Kalten-Kriegs-Jahren der Fünfziger wird Hannah Arendt bekannter, schließlich prominent und Professorin an der New School for Social Research in New York. Bis sie, nach zwei Jahrzehnten produktiver akademischer Lehr- und politischer Publikationstätigkeit, neunundsechzigjährig, stirbt.
Auschwitz – was das war, wie es dazu kommen konnte und wie es künftig verhindert werden kann: Das bestimmte Hannah Arendts Denken und Handeln. Und das Wissen um die und ihre eigene Vergänglichkeit war die einzige und letzte Gewißheit der politischen Zeitgenossin, Soziologin und Philosophin.

Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft kann auch als ausgreifende Zeitdiagnose gelesen werden. Was die Autorin etwa zum Imperialismus ausführt, behandelt die auch ideengeschichtlich hergeleitete Zerstörung des alten Europa durch den und im Ersten Weltkrieg. Und der zweite Teil des 750-Seiten-Werks läßt sich immer noch lesen als kundige Variation über einen geschichtlich-allgemeinen Prozeß der Entbindung von Traditionsbeständen, Verweltlichung und Modernisierung, kurz: Es geht um „Entzauberung” (Max Weber). Ein Prozeß, der im totalitären Zeitalter von Massen und Zerfall wohl beschreibbar, aber nach Hannah Arendt nicht erklärbar ist: „Zu erklären ist das totalitäre Phänomen aus seinen Elementen und Ursprüngen so wenig und vielleicht noch weniger als andere geschichtliche Ereignisse von großer Tragweite.”
Und auch wenn, oder vielleicht gerade weil, die politische Wissenschaftlerin und Publizistin Hannah Arendt immer einem beschreibend-identifizierenden Zugriff zum Totalitären verpflichtet blieb, insofern Erscheinungen beschrieb und phänomenologisch verfuhr, so können doch auch heute noch einzelne Seiten, Hinweise und Facetten ihrer kritischen Einschätzung von totalitärer Politik im 20. Jahrhundert wenn nicht in jeder Einzelheit, so doch wenigstens in der allgemeinen Tendenz stimmig klingen: „Totalitäre Politik ist nicht Machtpolitik im alten Sinn, auch nicht im Sinn einer noch nie da gewesenen Übertreibung und Radikalisierung des alten Strebens nach Macht nur um der Macht willen, hinter totalitärer Machtpolitik wie hinter totalitärer Realpolitik liegen neue, in der Geschichte bisher unbekannte Vorstellungen von Macht und Realität überhaupt. Auf diese Begriffsverschiebung kommt alles an, denn sie, und nicht bloße Brutalität, bestimmt die außerordentliche Schlagkraft wie die ungeheuerlichen Verbrechen der totalen Herrschaft. Es handelt sich bei totalitären Methoden nicht um Rücksichtslosigkeit, sondern um die völlige Nichtachtung aller berechenbaren äußeren Konsequenzen, nicht um chauvinistische Gräueltaten, sondern um die Nichtachtung aller nationalen Interessen und die völlige Wurzellosigkeit derer, die sich der Bewegung als solcher verschrieben haben, nicht um die vulgäre Durchsetzung irgendwelcher personaler oder Cliqueninteressen, sondern um die ruchlose Verachtung aller Zweckmäßigkeitserwägungen … . Der unerschütterliche Glaube an eine ideologisch-fiktive Welt, die es herzustellen gilt, hat die politischen Verhältnisse der Gegenwart tiefer und entscheidender erschüttert, als Machthunger oder Angriffslust es je hätten tun können.” „Der Machtbegriff der totalen Herrschaft” – so faßte Hannah Arendt seine Wirksamkeit zusammen – „beruht ausschließlich auf der Kraft und der Stärke, welche durch Organisation und reibungsloses Funktionieren zu erreichen ist.”
In ihrem 1964 in Deutschland veröffentlichten Eichmann -Prozeß hat Hannah Arendt in der Eichmann-Figur als tüchtigem SS Bürokraten und Völkermord-Organisator ihren Kerngedanken zur Beschreibung von Genozid und Massenmord, seiner Planung, Organisation und Durchführung im arbeitsteiligen Verfahren popularisiert; grad so, als wollte sie als Überlebende am zwei Jahrzehnte vor Auschwitz und Treblinka verstorbenen Prager Juden Franz Kafka, über den Hannah Arendt schon 1948 schrieb und aus dessen künstlerischen Visionen und Negativutopien sie als Wissenschaftlerin und Publizistin viele Anregungen erfuhr, eine moralische Schuld abtragen. Geht es doch im Romanfragment Der Prozeß auch um die Festnahme eines Unschuldigen durch eine mächtige Organisation, die gegen einzelne Menschen ein sinnloses Gerichtsverfahren organisiert. Dies ist – so Franz Kafka – „Eine Organisation, die nicht nur bestechliche Wächter, läppische Aufseher und Untersuchungsrichter beschäftigt, sondern die weiterhin jedenfalls eine Richterschaft hohen und höchsten Grades unterhält, mit dem zahllosen, unumgänglichen Gefolge von Dienern, Schreibern, Gendarmen, vielleicht sogar Henkern …”

Kafka wird auch das mit Blick auf Hannah Arendts Bürokratie-Kritik nicht einmal unzutreffende Bonmot, daß viele sogenannte Wissenschaftler, wenn sie nur die Welt von Dichtern und Künstlern auf eine andere Ebene transponierten, zu Ansehen Ruhm und Bedeutung gelangten, zugeschrieben. Nur: Diese Kritik träfe keineswegs nur Hannah Arendt. Und auch ihre wissenschaftlichen Wissensdefizite gerade in ihrem Hauptfeld Totalitarismus- und Völkermord-Beschreibung, -Analyse und -Kritik sind unverkennbar. Etwa immer dann, wenn Hannah Arendt alle Vorformen des später Holocaust genannten staatlich geplanten, organisierten und exekutierten, fabrikmäßig ablaufenden Vernichtungskrieg und Massenmord gegen europäische Juden durch deutsche Staatsfunktionäre für einzigartig erklärt. Und damit auch so gar nichts von Vorläufern, also Deutschsüdwest vor dem Ersten Weltkrieg, während des Ersten Weltkriegs gegen Armenier „hinten in der Türkei” und während des Zweiten Weltkriegs gegen Serben im kroatischen Separatstaat wissen will …
Für intellektuell bedeutungsvoll, damit über bloß publizistisch -aktuelle Zeitdiagnose hinausgehend halte ich nicht nur Hannah Arendts Antitotalitarismus -trilogie wie ihren Eichmann -Prozeßbericht, sondern auch ihr zuerst 1958 veröffentlichtes Lese-Buch, The Human Condition (dt.: Vita Activa oder Vom Tätigen Leben). Hier geht es um Bedingungen unseres im Kleinen vergemeinschafteten und im Großen vergesellschafteten Lebens, damit unserer conditio humana. Etwa, wenn die politische Philosophin im geschichtlichen Teil über die soziale Ordnung mittelalterlicher Ständegesellschaften ausführt: „Kein Eigentum haben hieß, keinen angestammten Platz in der Welt sein eigen zu nennen, also jemand zu sein, den die Welt nicht vorgesehen hatte.” Und wer „Eigentum” durch bezahlte Erwerbsarbeit ersetzt, befindet sich, nolens volens, plötzlich in unserer Moderne. Ähnlich „modern” präsentiert sich Hannah Arendts Hinweis zur zentralen Rolle des Konformismus als Merkmal aller Gesellschaft, damit jeder Vergesellschaftung von Menschen. Es geht immer um „zahllose Regeln, die alle darauf hinauslaufen, die Einzelnen gesellschaftlich zu normieren, sie gesellschaftsfähig zu machen, und spontanes Handeln wie hervorragende Leistungen zu verhindern.”

Hannah Arendts Zwischenlage zwischen Innen und Außen nicht ausgeschlossen zu sein und auch nicht völlig dazugehören, ist es, die etwas, das ich für moralisch und erkenntnispraktisch zentral wichtig halte, ermöglicht: Intellektuell Unannehmbares annehmen, Unaussprechliches aussprechen und letztlich damit Undenkbares denken. Denn ohne das, was in der internationalen sozialwissenschaftlichen Destruktionsforschung, etwa zum Völkermord/Genozid, thinking the unthinkeable genannt wird, lassen sich gerade heute epochale Vernichtungsprozesse und Destruktionsereignisse wie Genozid/Völkermord nicht angemessen beschreiben, erklären und begreifen.
Wenn es eine Kernfunktion von Sozialwissenschaften ist, bisher unsichtbare Prozesse in der Welt des Sozialen sichtbar zu machen und bisher unverstandene soziale Vorgänge zu beschreiben, verstehen und begreifen zu lernen, dann war Hannah Arendt eine bedeutende politische Wissenschaftlerin des 20. Jahrhunderts. Und daß Staaten in unserer Zeit, namentlich der Holocaust-nationalistische und der Gulag-stalinistische, als solche und aktiv und bewußt Verbrechen begehen, nicht irgendwelche, sondern Verbrechen an der Menschheit, daß also Staaten als solche kriminell handeln und Kapitalverbrechen begehen, diese scheinbare Paradoxie mußte auch erstmals wissenschaftlich durchdacht, intellektuell bewältigt und öffentlich ausgesprochen werden, ohne daß die moralische Persönlichkeit an ihren Einsichten selbst verzweifelt.

Der Preis ist die Preisgabe verbindlicher staatsbürgerlicher Sicherheiten und Gewißheiten. Hinter der glatten Fassade der Normalität steckt, wie Hannah Arendt vorführt, der Abgrund, das Böse, das auch als Banalität daherkommen kann. Jede totalitäre Welt ist eine ungebändigt -furchtbare soziale Welt,  und zugleich eine verkehrte Wirklichkeit, die doch erweislich wirklich war und ist und, weil strukturell eingelassen in jede bürgerliche Ordnungsnormalität, werden könnte. So gesehen, gibt es, zuendegedacht, nur eine letzte human-bürgerliche Gewissheit: Daß unser Leben endlich ist und unsere Leben erst mit dem Tod zuende sind. Auch das Leben der Hannah Arendt ging zusende, am 4. Dezember 1975.

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