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Journa­lismus und Moral

vorgängevorgänge 13212/1995Seite 89-97

aus: vorgänge Nr. 132 (Heft 4/1995), S. 89-97)

Mir wurde das Thema gestellt: Journalismus und Moral. Kann ich das zusammenbringen? Ich fand keine Zeitung, die sich so moralisch gibt wie die „Bild“-Zeitung aus dem Hause Springer/Kirch. Keine, die in fetterer Schrift ihre moralische Empörung herausschreit. Sie prangert an, was schlecht, was böse ist bzw. was ihre zahlreiche Leserschaft für schlecht, für böse halten soll. Und sie läßt regelmäßig Tränen des Mitleids für die schwer geprüften Guten fließen: Ich habe mich in den Medien umgeschaut. Da steht kaum eine Geschichte, in der nicht klar unterschieden würde zwischen gut und schlecht, gut und böse. „Bild” zieht Fronten – mit allen erdenklichen Mitteln der Sprachmagie. Ausdauernd schafft dieses Blatt Freund- und Feindbilder. Grundregel: Unmoralisch, böse, schlecht sind immer die anderen. Wir dagegen – wenn auch leider oft unverstanden – sind gut.

Wir: die deutsche Volksgemeinschaft, für die „Bild” spricht. Als „die deutsche Volkszeitung” hat sich das Blatt einmal in einer Selbstdarstellung bezeichnet, und daran ist sicher etwas Wahres, jedenfalls hinsichtlich der Auflage, die um ein Mehrfaches höher liegt als die der zweitgrößten deutschen Tageszeitung. Die gemeinschaftsbildende Kraft der „Bild“-Zeitung zeigt sich besonders deutlich in ihrem zentralen Teil, dem Sportteil. Über eine ausländische Fußballmannschaft konnten wir da z.B. lesen, sie sei „ein Haufen giftiger Zwerge”. Deutsche Sportler dagegen, versteht sich, sind groß und edel, auch wenn es ihnen nicht immer gelingt, das verständlich zu machen. Nun besteht aber der Fußballsport (ich meine nicht den aktiven, sondern den medialen) nicht nur aus Nationalspielen, sondern hauptsächlich aus Spielen der Bundesliga. Dafür hat die „Bild“-Zeitung ihre Regionalausgaben. In der Frankfurter Ausgabe, versteht sich, wären die Spieler der Eintracht Frankfurt niemals ein „Haufen giftiger Zwerge”.

„Bild“-Gründer Axel Springer sagte einmal, es müsse gelingen, das Zusammengehörigkeitsgefühl, wie es im Fußballstadion herrsche, auf den Alltag zu übertragen. Zur Herstellung und Festigung solchen Einverständnisses müssen die damit beauftragten Blätter wie „Bild” immerzu einen Feind evozieren, eine Bedrohung. Ich will das an einem einzigen Thema exemplifizieren, wie es in den letzten drei, vier Jahrgängen der „Bild“-Zeitung behandelt worden ist.

„Immer mehr Asylbewerber – immer mehr Kriminelle” lautete eine einprägsame fette Überschrift. Ausländer sind unmoralisch, kriminell, gefährlich, wir Deutschen dagegen anständig – das ist die vielfach variierte Botschaft. Es gibt zwar auch anständige Ausländer: die schwedische Königin (die aus Deutschland stammt), den Papst, Sir Yehudi Menuhin. Das sind Ausländer, die gelegentlich zu Besuch kommen dürfen. Weniger beliebt sind hier lebende Ausländer, selbst wenn sie für deutsche Fußballclubs spielen (dürfen, solange sie gut spielen). Der typische böse Ausländer ist der Drogendealer, der unsere Kinder verdirbt – ganz anders als ein deutscher Bierbrauer oder Schnapsfabrikant, der Fußballclubs sponsert und vor allem viele große Anzeigen aufgibt. Drogendealer als solche, speziell ausländische, geben keine Anzeigen auf.

„Miethai kündigt Deutschen für Asylanten”, lautete eine „Bild“-Schlagzeile, die fast die ganze obere Hälfte der Titelseite füllte. Das klassenkämpferisch klingende Wort „Miethai” gehört normalerweise nicht zum Vokabular dieses Blattes. Aber wenn ein Hausbesitzer (ob der Fall überhaupt zutreffend dargestellt wurde, lasse ich dahingestellt) Deutschen für Ausländer kündigt, gar für Asylbewerber, dann wird er zum „Miethai”. „Bild” stellt ihn an den Pranger. Überantwortet ihn der moralischen Empörung des Volkes von mehr als zehn Millionen „Bild“-Lesern. Mit der Schlagzeile beeinflusst das Blatt sogar noch viel mehr Menschen als seine Leser: Am Kiosk, im Supermarkt, in der U-Bahn, überall begegnen wir der täglichen „Bild“-Schlagzeile, einer Parole, der wir schwerlich ausweichen können. Und besonders wirksam wird eine Parole durch Wiederholung. „Deutsches Mietrecht: Rentner muß raus für Asylanten”, lautete die Schlagzeile an einem anderen Tag. Mit solchen Schlagzeilen wurden dem Volk Urängste eingeprügelt.

Die SPD hatte, wer erinnert sich noch daran? – eigens zu diesem Thema eine Broschüre verfasst und verbreitet, in der der Parteivorstand unter der Überschrift „Grundrecht auf Asyl. Das anständige Deutschland zeigt Flagge” am Schluß versicherte: „Einer Änderung des Grundgesetzes stimmt die SPD nicht zu.” Kurz bevor die SPD umkippte, veröffentliche „Bild” eine Serie „Die Asylanten”. Aus einer Folge dieser Serie seien hier einige Sätze zitiert: „Stellen Sie sich diesen Fall vor: Ein Mann klingelt bei Ihnen, möchte hereinkommen. Der Mann sagt, daß er mächtige Feinde habe, die ihm ans Leben wollen. Sie gewähren ihm Unterschlupf. Doch schnell stellen Sie fest, der Mann wurde gar nicht verfolgt, er wollte nur in Ihrem Haus leben. Und er benimmt sich sehr, sehr schlecht, schlägt ihre Kinder, stiehlt Ihr Geld, putzt sich seine Schuhe an Ihren Gardinen. Sie würden ihn gerne los. Sie werden ihn aber nicht los. Deutsche Asyl-Wirklichkeit …” Wenn so massiv an die Angst appelliert wird, dass Fremdheit, Unordnung, Unsauberkeit in das saubere, gepflegte Reich der deutschen Hausfrau eindringen, wenn sie also befürchten muß, daß alle Pflege, alles Säubern und alles Anschaffen umsonst waren, dann kann sie kaum anders reagieren als mit Aggressionen – und erst recht der Ehemann: Haustür zu, Hunde raus, Stacheldraht drum, Polizei. Die Wohnung wird zur Festung. Das Haus, die Siedlung, die Stadt, alles muß zur Festung werden.

In einer anderen Folge dieser Serie hieß es: „Was ist schlimmer: die Skinheads, die Brandsätze gegen Asylantenheime schleudern, oder die Politiker, die schlau reden und tatenlos zusehen? Die CDU schlägt auf die SPD ein, die SPD schlägt auf die CDU ein, die FDP schlägt auf beide ein, und inzwischen strömen jeden Tag 800 neue Asylanten ins Land. Die Ticker der Agenturen rattern ihre Meldungen auf Endlospapier, viele tragen den Zusatz ,Anschlag`, wenige den Zusatz ,Politik`. Das zeigt, wer in diesem Herbst handelt und wer abwartet.”

Diese Beispiele dürften schon genügen, um zu zeigen, mit welchen moralischen Maßstäben die größte deutsche Zeitung das Tagesgeschehen präsentiert Ich finde, es gibt nichts Unmoralischeres im Journalismus als das Produzieren von Feindbildern, das immer die Funktion hat, von gesellschaftlichen Mißständen abzulenken.
Quintessenz solcher Kampagnen ist allemal, daß wir strengere Gesetze brauche, mehr Polizei, mehr Vollmachten und Ausrüstung für die Sicherheitskräfte, einen stärkeren Staat. My horne is my castle. Deutschland, Europa aber müssen zur Festung werden gegen die Gefahren, die vorgeblich allemal von außen kommen.

1995 haben wir uns 50 Jahre zurückerinnert an das, was das Nazi-Regime damals zurückgelassen hatte. Nach meinem Eindruck blieb das öffentliche Gedenken meist oberflächlich. Ich hätte vor allem gewünscht, daß gründlich reflektiert worden wäre, was die einzelne gesellschaftliche Institution, die einzelne Profession, also in unserem Fall der Journalismus, dazu beigetragen hatten, das deutsche Volk zu jeglichen Verbrechen zu befähigen. Gewiß, 1933 waren jüdische Redakteure entlassen, kommunistische und bald auch sozialdemokratische Blätter verboten worden. Aber die Generalanzeigerpresse und ihre Redakteure waren geblieben, sie arbeiteten weiter, ohne sich plötzlich verrenken zu müssen. Sie schrieben, was sie schreiben durften und vor allem was von ihnen erwartet wurde. Sie gewöhnten sich daran, daß sie mit dem einen Thema mehr, mit dem anderen weniger Anklang fanden, daß einzelne Vokabeln aus der Mode kamen, andere dagegen flotter, frischer, zeitgemäßer wirkten. Sie verbreiteten, was die gesellschaftlichen Institutionen verlautbarten, und sie gaben sich Mühe, die Verlautbarungen möglichst verständlich, möglichst wirksam zu präsentieren. So beteiligten sie sich an der Propaganda des Nazi-Regimes – bis zum Ende, bis zu den letzten Durchhalteparolen. Sie halfen, dafür zu sorgen, daß sich das Volk mit der Führung identifizierte oder sie zumindest widerstandslos, widerspruchslos ertrug.
Nach der Kapitulation der Großdeutschen Wehrmacht 1945 waren sie alle schnell wieder da, auch die alerten jüngeren Männer, die in ihren Propagandakampagnien ihr journalistische Karriere begonnen hatten. Sie lernten schnell, auf welche Themen, welche Vokabeln es nun ankam. Nach kurzer Pause durften die alten Generalanzeiger-Verleger, die Goebbels dienstbar gewesen waren, ihre alten Blätter wieder verlegen; diejenigen Zeitungen dagegen, die 1933 verboten worden waren, hatten kaum Chancen wiederzuerstehen. (Für Kontinuität auch in der Publizistikwissenschaft sorgten Emil Dovifat, Elisabeth-Noelle-Neumann u.a.) Das Jahr 1933 hatte für die meisten deutschen Journalisten keinen Bruch markiert, das Jahr 1945 markierte für sie nur eine kurze Unterbrechung.
Die Propagandisten des Nazi-Regimes waren keine Unmenschen, keine Monster, keine Ausnahmeerscheinungen, die 1933 plötzlich aufgetaucht und 1945 ebenso plötzlich verschwunden wären, sondern ganz normale Journalisten, die sich je nach den Umständen zur äußersten Unmoral fähig und bereit zeigten. Darauf wies ich zu Beginn des Gedenkjahres 1995 in einer Kolumne der Zeitschrift „M” hin, des medienpolitischen Organs der IG Medien. Ich knüpfte daran die Frage, was uns heutige Journalisten hindere, uns ebenso konformistisch zu verhalten. Größeres Wissen? Bessere Einsicht? Höhere Moral? Oder was? Etwa strukturelle Hindernisse in den heutigen Medien? Irgendeine gesellschaftliche Institution? Ich schloss die Kolumne mit der Bitte um Zuschriften. Nach anderen Kolumnen in „M” bekam ich unaufgefordert Zuschriften, nach dieser dagegen trotz ausdrücklicher Aufforderung keine einzige. Warum gab keine Kollegin, kein Kollege Antwort auf meine Frage, was uns hindert, uns je nach Umständen ebenso für Propagandazwecke herzugeben wie die Journalisten in der Nazi-Zeit? Ich vermute, den Leserinnen und Lesern von „M” ging es wie mir: Ihnen fiel einfach keine Antwort ein.
Ich erwähne diese Erfahrung nicht in resignierter Haltung. Ich sehe darin vielmehr einen Anlaß zu intensiverem Nachdenken über die Bedingungen, unter den Journalistinnen und Journalisten arbeiten, und über die Zwecke journalistischer Arbeit. Beides soll mich im folgenden beschäftigen: Erst die Zwecke, davon ausgehend die Bedingungen und in diesem Zusammenhang auch ein wenig die Methoden.

Nach meinem Verständnis soll Journalismus Öffentlichkeit herstellen, Kommunikation ermöglichen, für Aufklärung sorgen.
Öffentlichkeit herstellen – wofür? Für einen Menschenfresser in Rußland? Für Selbstmorde von Kranken? Das geschieht täglich. In „Bild” und anderswo. Privatestes wird an die Öffentlichkeit gezerrt, Öffentliches aber wird privatisiert. Dienstgeheimnis, Amtsgeheimnis, Betriebsgeheimnis, Geschäftsgeheimnis. Angebliche Staats-, Standes- oder Konzerninteressen stehen angeblich der Veröffentlichung entgegen. Und es gibt Journalistinnen und Journalisten, die auch noch stolz darauf sind, wenn sie „unter 3” ins Vertrauen gezogen werden – mit der Selbstverpflichtung, nicht darüber zu berichten.

Kommunikation ermöglichen – geschieht das dadurch, daß unsere Leser, Hörer, Zuschauer von einem Wirbelsturm auf den Philippinen erfahren oder über tausend Kilometer hinweg zusehen dürfen, wie ein afrikanischer Universitätspräsident dem Bundeskanzler einen Doktorhut aufsetzt? Ist es Kommunikation, wenn Millionen Menschen einzeln stundenlang vor dem Bildschirm sitzend einen großen Teil ihrer Freizeit verbringen? Ist es nicht eher das Gegenteil? Bewirkt es nicht Vereinsamung, kulturelle Verödung? Durch bloßes Glotzen nimmt man nicht am öffentlichen Leben teil, man wird vielmehr davon ferngehalten. Die vom Fernseher angebotene Teilnahme an Quiz-Ratespielen ist billiger Ersatz. Veralberung.

Für Aufklärung sorgen – wer erwartet das noch von uns, wenn z.B. Martin Walser in schlechtester deutscher Tradition Aufklärung als eine abgetane Sache des 18. Jahrhunderts darstellt? Ich will das vieldeutige Wort Aufklärung hier in dreifacher Bedeutung verwenden, um zu zeigen, was Journalismus m.E. leisten soll.

Erstens: Journalismus soll informieren. Das ist eine ganz banale Bedeutung von Aufklärung. Aber für den heutigen Journalismus ist es keine Selbstverständlichkeit. Zum Beispiel hat vieles, was im Rundfunk gesendet wird, mit Information nichts zu tun. Ein wachsender Teil des Programms ist Gedudel und Wortanteil von der Art, daß er „nicht als störend empfunden” wird (um eine kürzlich von der Niedersächsischen Landesmedienanstalt vorgelegte Untersuchung zu zitieren, die sich nicht nur auf kommerzielle, sondern auch auf öffentlich-rechtliche Programme erstreckt).

Ein Beispiel aus den Druckmedien: Der ehemalige „Bild“-Chefredakteur Heinz-Hermann Tiedje nannte „Focus” ein „Nachrichtenmagazin ohne Nachrichten”. Der Informationsgehalt der meisten Zeitschriften, die wir an den Kiosken angeboten finden, ist minimal – es sei denn, wir hielten den Blättern zugute, daß viele von ihnen eine Fernsehprogrammvorschau enthalten. Diese präsentieren sie uns zumeist so, daß wir angehalten werden, bestimmte Sendungen einzuschalten; im Hintergrund stehen Interessen von Medienkonzernen, die sowohl Zeitschriften herausgeben als auch Fernsehen veranstalten. Vor allem aber sind die Zeitschriften, die in der Branche Publikumszeitschriften heißen, mit Anzeigen gefüllt, mit Produktwerbung. Das ist ihr tatsächlicher Zweck, dafür sind sie konzipiert. Der redaktionelle Teil wird im Fachjargon „Umfeld” der Anzeigen genannt. Der Zweck vieler Medien – der meisten – ist nicht Information, sondern Zurichtung von Konsumenten im Interesse derer, die möglichst viel Schnaps verkaufen. Deswegen inserieren sie. Medienunternehmen wollen möglichst viel Anzeigeplatz bzw. Sendezeit für Werbung verkaufen. Mit Aufklärung hat das nicht zu tun.

Zweitens verstehe ich unter Aufklärung wahrhaftige Information. Das ist ganz und gar nicht selbstverständlich. Ich kann das insofern recht gut beurteilen, als ich selbst gelegentlich Gegenstand journalistischer Berichterstattung geworden bin. Ich erinnere mich an keinen einzigen Artikel, der vom ersten bis zum letzten Wort korrekt gewesen wäre. Die Fehler können aus vielen Quellen einfließen: Vielleicht war der Journalist/die Journalistin unaufmerksam, oder ein Vorurteil hat sie gehindert, die Sache richtig wahr-zunehmen. Oder ihr Informant hat sich geirrt. Oder ein Redakteur hat den Text falsch bearbeitet. Die Fehlerquellen häufen sich, wenn die Verleger bzw. Rundfunkveranstalter rabiat am journalistischen Aufwand sparen (womit ich einen wesentlichen Faktor der Arbeitsbedingungen anspreche). Wenn mit einem Minimum an journalistischer Arbeits-kraft die Seiten bzw. Programme gefüllt werden sollen, dann ist kaum zeit zu gründlicher Recherche; die Journalistinnen und Journalisten hasten vielmehr von Termin zu Termin, lassen sich vorgedruckte Verlautbarungen geben, verzichten auf Nachfragen oder halten unvorbereitet einem Interviewpartner das Mikrofon unter die Nase. Dieser Billig-Journalismus ist gang und gäbe.

Die zuverlässigsten Informationen erhalten wir nach meiner Erfahrung im Lokalteil der Tageszeitungen. Hier scheitert die Recherche nicht an Kosten, die dem Verleger zu hoch wären hier kann die Leserschaft das Gedruckte unmittelbar nachprüfen. Dennoch ist auch hier vor Vertrauensseligkeit zu warnen: Vielfach kommen nur die örtlichen Machteliten zu Wort. Was wir aus ihrer Perspektive von oben herab, wahrnehmen, kann in der Regel nicht mehr sein als die halbe Wahrheit.

Am wenigsten sollten wir uns auf den Wahrheitsgehalt der Berichterstattung verlassen, wenn es um das Allerwichtigste geht: Krieg und Frieden. Immer wieder bestätigt sich die Erfahrung: Alle Kriege beginnen mit Lügen. Ein typisches Beispiel ist Hitlers Rundfunkansprache am 1. September 1939: „Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen.” Daran stimmte noch nicht einmal die Uhrzeit. Vor allem wurde nach altem Propaganda-Muster der Angriff zur Verteidigung umgelogen. Der angebliche polnische Überfall auf die Radiostation Gleiwitz war in Wirklichkeit eine Inszenierung der Nazis. Frei erfunden war ein nordvietnamesischer Überfall auf Schiffe in der Bucht von Tongking, den die USA als Grund für den Beginn ihres Bombenkrieges gegen Nordvietnam angaben.

Die US-amerikanischen Nachrichtenagenturen, auf die sich die Berichterstattung der bundesdeutschen Medien stützte, interessierten sich nie für das, was die andere Seite, der vietnamesische Kriegsgegner, sagte. Aber auch die bundesdeutschen Fernsehkorrespondenten berichteten einseitig aus der Sicht der US-Streitkräfte. Ein Jahr nach Kriegsende gestanden vier von ihnen in einer Sendung des Dritten Programms diese Einseitigkeit ein, die dazu geführt hatte, daß das bundesdeutsche Publikum jahrelang irregeführt worden war. In den USA erfuhr nun auch der Kongreß, daß der „Tongking -Zwischenfall” eine geheimdienstliche Propaganda-Lüge gewesen war; das Eingeständnis wurde zu den Akten genommen. Im Golfkrieg wurden die Medien instrumentalisiert – oder ließen sich instrumentalisieren – wie nie zuvor. In Raketen eingebaute Fernsehkameras verschafften uns die Illusion, die Bombardierung Bagdads unmittelbar mitzuerleben. Alle Wahrheiten dieses Krieges blieben uns verborgen.
Jede Wahrheit hat mindestens zwei Seiten, gerade im Krieg. Einseitige Berichterstattung ist Falschberichterstattung. Die Meldungen aus Jugoslawien bestätigen das Tag für Tag. Zwar haben sich für Frieden, Verständigung und Wahrheit engagierte Kolleginnen und Kollegen aus allen Teilen des zerfallenen Landes zusammengetan, um gemeinsam einen Informationsdienst zu beliefern, der in Paris erscheint; aber diese vorbildliche Initiative bleibt in Deutschland ohne Resonanz, der Informationsdienst wird ignoriert.

Weil man glaubt, was man mit eigenen Augen gesehen hat, läßt sich das Publikum durch nichts so wirkungsvoll manipulieren wie durch Bilder. Die Annahme „Bilder lügen nicht” ist ein fataler Irrtum. Ein Bild braucht nicht gefälscht zu sein, um beim Betrachter eine falsche Vorstellung auszulösen. Jedes Foto eines Ereignisses zeigt nur einen räumlichen und zeitlichen Ausschnitt und vieles was fotografiert oder gefilmt wird, ist eigens für diesen Zweck inszeniert worden. Zudem eröffnen die heutigen elektronischen Techniken neue Möglichkeiten der Manipulation. So veröffentlichten im Sommer zwei hannoversche Zeitungen Aufnahmen von einem Zugunglück. Der Vordergrund mit Verletzten und Sanitätern war identisch. Im Hintergrund sah man in der „Bild“-Zeitung – in diesem Fall war nicht sie es, die manipuliert hatte – Bäume. Viel dramatischer, ja echter wirkte das Bild in der „Neuen Presse”. Sie hatte beschädigte Waggons ins Bild montiert. Den Lesern wurde nicht mitgeteilt, daß das Bild eine Montage war. Ein Fall, der in der Öffentlichkeit kaum Schaden anrichten konnte. Aber gewiß kein Einzelfall.

Drittens hat aufklärerischer Journalismus nach meinem Verständnis die Aufgabe, Zusammenhänge auszuleuchten, Interessenstrukturen und Machtverhältnisse durchschaubar zu machen. Auch dies ist nicht selbstverständlich. Informationen werden in immer kleineren Fetzen vermittelt. Der „Bild“-Journalismus macht Schule: Große Überschriften, wenig Text. Auch Wortbeiträge im Hörfunk werden immer kürzer. Die Auftraggeber der Journalisten verlangen, daß die Informationen flott und locker präsentiert werden – der Werbung angepaßt, die durch redaktionelle Beiträge nicht beeinträchtigt werden soll. In zehn Zeilen oder 30 Sekunden lassen sich Ursachen, Umstände und Folgen eines Ereignisses nicht darstellen.
Wir alle brauchen Informationen hauptsächlich zu dem Zweck, unsere eigenen Interessen wahrnehmen zu können. Aufklärung in diesem Sinne will emanzipatorisch wirken. Sie richtet sich gegen Fremdbestimmung. Medien sollen Informationen verbreiten, die es den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das Bundesverfassungsgericht formulierte einst im „Spiegel“-Urteil den Grundsatz, eine freie Presse sei „schlechthin konstituierend für die Demokratie”.

Erinnern wir uns daran, unter welchen historischen Bedingungen der Ruf nach Pressefreiheit laut geworden ist: in der Auseinandersetzung mit dem Absolutismus, mit den Methoden von Staat und Kirche, Menschen unmündig zu halten, und mit der eigenen Untertanengesinnung. Ihre erste Blüte hatte die Presse zur Zeit der Reformation und der damaligen gesellschaftlichen Umwälzungen erlebt. Die Erfindung Gutenbergs wurde für antiautoritäre Zwecke gebraucht. Ein starkes Verlangen nach Pressefreiheit entstand dann gegen Ende des 18. Jahrhunderts vor allem im revolutionären Paris. Es galt, über bestehende Machtverhältnisse aufzuklären. Aufklärerischer Journalismus richtete sich gegen die Interessen der Machthaber, die ihn deswegen zu unterdrücken versuchten, Pressefreiheit hätte nicht gefordert und erkämpft werden müssen für die Verbreitung von Hofnachrichten über die glückliche Geburt eines Prinzen, auch nicht für die Verbreitung von Greuelgeschichten. Solcher Journalismus war schon im Absolutismus erlaubt und bei Hofe wohl gelitten. Die Herrschenden aller Zeiten delektieren sich geradezu an Greuelgeschichten, die dem Volk Angst machen. Einschüchterung dient der propagandistischen Zurichtung von Untertanen.

Aufklärung ist das Gegenteil von Propaganda. (Goebbels, der alle Begriffe emanzipatorischer Bewegungen umzudrehen versuchte, nannte sich Minister für Volksaufklärung und Propaganda.) Propaganda ist autoritär, Aufklärung antiautoritär.

Was ist aus dem Journalismus seit seiner stürmischen Entwicklung Ende des 18. Jahrhunderts geworden? Er geriet unter doppelten Druck: von der nimmermüden Restauration und vom übermächtigen Kommerz, die sich bald verbündeten. Es entstanden Verlage, Konzerne, Monopole, die kritischem, aufklärerischem Journalismus wenig Raum ließen. Der schwedische Schriftsteller Perr Wahlöö hat in seinem Roman „Der 31. Stock” diese Entwicklung zu Ende gedacht: Nachdem sich ein Konzern die gesamte Presse des Landes angeeignet hat, läßt er zwar einige nonkonformistische Journalisten in der obersten Etage des Konzerngebäudes weiterarbeiten, aber diese Etage ist gegen die anderen abgeriegelt. Nichts, was hier geschrieben wird, dringt nach außen. Alles, was in dieser Abgeschiedenheit geschieht, ist 1’art pour 1’art. Wie weit ist die deutsche Wirklichkeit noch von diesem literarischen Schreckbild entfernt?

Auf Verlagszusammenschlüsse in den sechziger Jahren, die vor allem den Springer-Konzern immer mächtiger werden ließen, antwortete der Ruf nach Innerer Pressefreiheit. Vor allem das Aufkommen regionaler Pressemonopole – so argumentierte ich selber damals als Sprecher der gewerkschaftlich organisierten Journalisten – sei nur unter der Voraussetzung akzeptabel, daß die Monopole nicht einer vom Verleger vorgegebene Tendenz verpflichtet bleiben dürften, sondern daß die Redaktion die Freiheit haben müsse, nach bestem Wissen und Gewissen umfassend zu informieren. Die Hoffnung auf gesetzliche Garantien für die Innere Pressefreiheit verstärkten sich 1969 bei Bildung der sozialliberalen Koalition in Bonn. Bundeskanzler Willy Brandt versprach in seiner ersten Regierungserklärung ein Presserechtsrahmengesetz. 1973 in seiner zweiten Regierungserklärung wiederholte er das Versprechen. Sein Nachfolger Helmut Schmidt griff es 1976 in abgeschwächter Form auf. 1980, als er die letzte sozialliberale Regierung bildete, erwähnte er es nicht mehr. Da Presserecht eigentlich Ländersache ist, bemühten wir uns in SPD-regierten Ländern um die Novellierung der Pressegesetze. Hier und da erhielten wir Zusagen, z.B. 1990 in Niedersachsen, als dort Sozialdemokraten und Grüne koalierten. Aber Ministerpräsident Gerhard Schröder folgte dem Beispiel Willy Brandts und Helmut Schmidts: Er hielt sein Versprechen nicht. Der Springer-Konzern, für dessen Enteignung die Außerparlamentarische Opposition 1968 demonstriert hatte, wuchs weiter und setzte mit beharrlichem Druck auf die Politiker nicht nur der CDU, CSU und FDP, sondern auch der SPD durch, daß ihm auch die Tür zum Rundfunk geöffnet wurde. Inzwischen erleben wir die systematische Kommerzialisierung von Hörfunk und Fernsehen unter der Regie des Springer/Kirch- und Bertelsmann-Konzerns. Dabei fielen in beiden Konzernen wohldotierte Managerstellen für zwei ehemalige SPD-Bundesminister ab: für Manfred Lahnstein bei Bertelsmann und für Volker Hauff bei Springer. Das hat die Konzerne nicht sozialdemokratisch gemacht, verstärkt aber, wie mir scheint, die Hemmungen in der SPD, sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen.
Nach wie vor fehlt es in der Gesellschaft nicht an Ideen für eine medienreformerische Politik. Aber wo gibt es noch medienpolitischen Reformwillen?

Karl Marx schrieb, die erste Freiheit der Presse sei es, kein Gewerbe zu sein. Ferdinand Lassalle äußerte sich besonders eindrucksvoll über die Notwendigkeit, den Journalismus vom Anzeigengeschäft zu trennen. In diesem Sinne machte die IG Medien gelegentlich den Vorschlag, für die Presse öffentlich-rechtliche Anzeigenmonopole zu gründen. Alle Redaktionen in einer Region würden dann für ihre Blätter einen einheitlichen Anzeigenteil erhalten und je nach Auflage davon profitieren; über die Höhe der Auflage würde allein die Nachfrage der Leserschaft entscheiden. Warum nicht?

Aber die Hoffnung auf Demokratisierung der Medien durch die Politiker ist auf den Nullpunkt gesunken. Wenn Veränderungen überhaupt noch möglich erscheinen, dann im Wege der Selbstaufklärung und Selbstorganisation der Journalisten. In den Redaktionen muß dringend über Arbeitsinhalte und Arbeitsbedingungen diskutiert werden, was bisher kaum geschieht. Worüber berichten wir, worüber nicht? Worüber schreiben wir respektvoll, worüber hämisch? Wen lassen wir zu Wort kommen, wen nicht? Welche Themen setzen wir auf welche Seite? Wieviele Zeilen oder Sendesekunden widmen wir dem einen, wie viele dem anderen Thema? Nach welchen ungeschriebenen Regeln entscheiden wir darüber? Von welchen Interessen sind diese Regeln vorbestimmt? Wie erklärt es sich also, daß wir z.B. den Krieg in Angola nicht wahrgenommen haben und den Krieg in Afghanistan nur, solange die Sowjetunion verwickelt war, aber nicht mehr nach dem Abzug der sowjetischen Truppen, obwohl der Krieg seitdem weiter tobt? Sind wir uns der Steuerung überhaupt bewußt, die in jeder Sekunde bis in die Wortwahl eingreift?

Unter dem Stichwort Arbeitsbedingungen ist zu diskutieren, in welchem Maße wir recherchieren oder uns auf Verlautbarungsjournalismus beschränken. Wie verlaufen Pressekonferenzen? Stellen wir dort Fragen? Wie berichten wir über Parteitag, auf denen doch innerparteiliche Willensbildung als demokratischer Prozeß von unten nach oben stattfinden soll? Was nehmen wir dort außer den Reden und Rivalitäten der Spitzenpolitiker wahr? Warum berichten wir so Autorität? Warum machen wir es zur Hauptfrage, wie sich die Politiker X und Y„verkaufen“? Notwendig wäre stattdessen eine öffentliche Diskussion über die realen gesellschaftlichen Probleme. Warum beteiligen wir uns und unser Publikum so wenig daran?

Moral im Journalismus, journalistische Moral, Moral der Journalistinnen und Journalisten muß sich täglich neu entwickeln, beweisen, bewähren – vor allem in der Wahl der Themen und der Wortwahl. Unkritische Weitergabe dessen, was von oben kommt, erfordert wenig Mühe, wenig Zeitaufwand, erregt kaum Anstoß, jedenfalls nicht bei denen, die gesellschaftliche Macht besitzen oder verwalten oder repräsentieren, auch nicht beim Medien-Unternehmer, unserem Arbeitgeber. Solcher unkritischer Journalismus wird durch kritische Attitüde nicht besser, sondern gefährlicher – etwa wenn sich ein Fernsehmoderator über den nicht endenden Kleinkrieg an der SPD-Spitze mokiert, um dann seinerseits nichts anderes zu präsentieren als eben diesen Politikersatz, oder wenn er die Schaulust des Publikums kritisiert, um sie zu kitzeln. Das wissende Lächeln, der flotte Spruch, der sarkastische Schlenker machen keinen kritischen, antiautoritären, aufklärerischen Journalismus; sie sind nicht mehr als Gleitmittel für eine Propaganda, die dem Volk sonst nicht so glatt heruntergehen würde. Was aber macht den aufklärerischen Journalismus? Ich kann dafür keine allgemeingültige, jeden Tag in jeder Situation anwendbare Regeln aufstellen. Das muß täglich neu mit Mut, Widerspruchsgeist, Witz und Verstand erarbeitet, erprobt, diskutiert werden. Aber es gibt Orientierungspunkte. Einen möchte ich nennen: Wir Journalistinnen und Journalisten sollten alles von der Seite der Opfer aus zu sehen versuchen.

Ich könnte auch einfacher sagen: Moral im Journalismus ist Vermeidung von Unmoral, nämlich von Angstmache, Unwahrhaftigkeit, Verschleierung, Ablenkung, Personalisierung (die etwa das ganze Verbrechen des Nazi-Regimes dem „Dämon” Hitler zuschreibt oder so tut, als würden gesellschaftliche Probleme durch Auswechslung von Figuren auf der politischen Bühne gelöst). Ebenso verwerflich erscheinen mir Einschüchterungs-, Entrechtungs- und Ausgrenzungskampagnen (z.B. nationalistische „Standort“-und andere Kampagnen zur Senkung sozialer Standards der abhängig Beschäftigen oder verlogen. „Es ist kein Geld da“-Kampagnen zum Abbau von Sozialstaatlichkeit), Bedienen von Vorurteilen, Produzieren von Feindbildern, Anstacheln von Aggressionen gegen Schwächere.

Guter Wille der einzelnen Journalistin und Journalisten reicht freilich nicht aus, um Medien zu moralischen Anstalten zu machen. Gesellschaftliche Mißstände lassen sich nicht hinreichend aus Mangel an individueller Moral erklären.

In den heutigen Medienkonzernen verkörpert sich die Autorität, die Macht, die Herrschaft, mit der sich aufklärerischer Journalismus kritisch auseinandersetzen muß. Aufklärung über die Machtverhältnisse in den Medien erscheint mir also als eine vordringliche Aufgabe; für die Journalistinnen und Journalisten ist es aber gewiß eine der schwierigsten Aufgaben. Unterstützung wird hiermit erbeten.

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