Der bayerische Bürgerentscheid-Volksentscheid
In: vorgänge 132 (Heft 4/1995) S. 12/13
Wovon andere Bundesländer nur träumen, die Bayern haben’s geschafft: Am 1. Oktober war der Volksentscheid Mehr Demokratie in Bayern erfolgreich.
In der Bayerischen Verfassung (Art. 7 und Art. 74) waren bisher nur landesweite Volksbegehren und Volksentscheide vorgesehen, nicht aber solche auf kommunaler Ebene. In den letzten vierzig Jahren waren in Bayern sechs Volksentscheide durchgeführt worden. In diesem siebenten, vom Oktober 1995, entschied sich das bayerische Volk dafür, daß in Zukunft auch Bürgerbegehren und Bürgerentscheide auf kommunaler Ebene durchgeführt werden können. So lautet der neue Art. 7 Absatz 2 der Bayerischen Verfassung: Der Staatsbürger übt seine Rechte aus durch Teilnahme an Wahlen, Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden sowie Volksbegehren und Volksentscheiden.
In die Wege geleitet wurde dieser Volksentscheid von der Bürgeraktion Mehr Demokratie in Bayern, die von allen möglichen Parteien und Vereinigungen unterstützt wurde, von der SPD über die Grünen zur Bayernpartei, vom Bund Naturschutz – über die Katholische Landjugendbewegung bis zur Humanistischen Union, die von Anfang an aktiv mit von der Partie war. Schließlich wurde das Volksbegehren auch von vielen Wissenschaftlern unterstützt, die das Münchner Manifest unterzeichneten.
Die erste Hürde – das Volksbegehren – wurde im Februar glatt mit den Unterschriften von 1 ,2 Millionen Bürgerinnen und Bürgern,also 13,7 Prozent der Wahlberechtigten genommen. Eine Partei allerdings hatte das Volksbegehren nicht unterstützt: die regierende CSU. Ihr passte die kommunale Mitbestimmung gar nicht ins Konzept. Um – aus ihrer Sicht – Schlimmstes zu verhindern, nutzte die Landtagsmehrheit die Möglichkeit des Art. 74, Absatz 4 der Bayerischen Verfassung: Wenn der Landtag das Volksbegehren ablehnt, kann er dem Volk einen eigenen Gesetzentwurf zur Entscheidung mit vorlegen.
Im Juli 1995 beschloß also die CSU-Landtagsmehrheit einen Gesetzentwurf, der so gestaltet ist, daß Bürgerentscheide in der Praxis kaum vorkommen können. Ohne auf die Unterschiede im einzelnen einzugehen, seien doch die wichtigsten genannt.
Die CSU wollte die Volksentscheide nicht in der Verfassung verankern, so daß – wäre der Landtags-Entwurf angenommen worden – das Gesetz ohne weiteres durch eine einfache Mehrheit im Landtag hätte geändert werden können.
Die CSU wollte dem Bürgerbegehren noch die Hürde eines Bürgerantrags vorschalten. Die CSU wollte die Unterschriftsleistung der Bürgerbegehren zeitlich und örtlich begrenzen (z.B. sollte nur in Eintragungsräumen der Gemeinde gültig unterschrieben werden dürfen).
Die CSU wollte ein 25-Prozent-Zustimmungsquorum einführen, d.h. Mehrheitsentscheidungen sollten ungültig sein, wenn diese Mehrheit nicht mindestens 25 Prozent aller Stimmberechtigten ausmacht. Damit sollte verhindert werden, daß eine Minderheit das Sagen habe und ihre Wünsche durchsetze (Mehr Demokratie in Bayern sieht kein Quorum vor).
Nun. Das Gegenteil wäre der Fall, wie Beispiele aus anderen Bundesländern zeigen, z.B. aus Baden-Württemberg: Dort gilt ein 30-Prozent-Quorum, das verhinderte, daß bei einer ganzen Reihe von Bürgerentscheidungen der Mehrheitswille mißachtet wurde. Nur zwei Beispiele: In der Gemeinde Rottenburg sollte ein katholisches Gymnasium gebaut werden. Dagegen wandten sich Bürger und forderten statt dessen ein zweites städtisches Gymnasium; beim Bürgerentscheid vom 5.9.93 stimmten 5484 (60,8%) für das städtische Gymnasium, 3531 dagegen. Gebaut wurde statt dessen das katholische Gymnasium, weil die Ja-Stimmen für das Bürgerbegehren und damit das städt. Gymnasium nur 22,3 Prozent aller Stimmberechtigten ausmachten. Die Abstimmungsbeteiligung war bei 36,8 Prozent gelegen; klar: viele Bürger – vor allem ältere – tangierte die Frage nicht. Das Quorum verhinderte hier die demokratisch sinnvolle Mehrheitsentscheidung der Betroffenen und Interessierten. Die Minderheit setzte sich durch. Noch deutlicher und gravierender geschah solches 1986 in Reutlingen: Der dortige Stadtrat wollte einen Atombunker bauen. Eine Bürgerinitiative suchte das zu verhindern. Beim Bürgerentscheid stimmten 16.784 gegen den Bunker und nur 2126 dafür. Für das Bürgerbegehren hatten damit 24 Prozent gestimmt (gegenüber 3 % Bunkerbefürworter), das Quorum wurde damit nicht erfüllt, der Atombunker daraufhin mit 5 Millionen Mark gebaut. 11,2 Prozent der Abstimmenden hatten sich gegen 88,2 Prozent durchgesetzt!
Im übrigen: Gäbe es ein entsprechendes Quorum auf Landesebene und bei anderen politischen Entscheidungen, wären fast alle Volksabstimmungen in Bayern gescheitert, und es gäbe in vielen Gemeinden keinen Bürgermeister. Und: Man vergißt nur allzu leicht, und die CSU vergißt es nur allzugern, daß sie selbst, die sich so sehr mit ihrer absoluten Mehrheit im Bayerischen Landtag brüstet, bei der letzten Landtagswahl nicht einmal die Stimmen von 35 Prozent aller Wahlberechtigten hinter sich brachte.
Die Bayerische Staatsregierung und die CSU machte in den Wochen vor dem Volksentscheid massiv Stimmung gegen den Gesetzesentwurf des Volksbegehrens und suchte Panik zu machen: Bürgerentscheide ohne die CSU-Hürden würden zum Abbau von Arbeitsplätzen und – zur Blockierung des sozialen Fortschritts etc. führen, und sie seien undemokratisch, denn – so heißt es in der Stellungnahme der Bayerischen Staatsregierung vom 11.4.95: Es genügt also im Extremfall, wenn nur eine Person zur Abstimmung geht und für den Antrag stimmt. Nun: Das gilt ebenso für jede Wahl! Noch ein Faktor wird von Kritikern am Gesetzentwurf Mehr Demokratie ins Feld geführt: Bürgerinnen einzelner Gemeinden könnten nach dem St.-Florians-Prinzip entscheiden und alles, was lästig ist oder stören könnte oder was stinkt etc., ablehnen und anderen Gemeinden aufbürden. Diese Gefahr besteht in der Tat! Nur. Sie bestand schon immer. Und sind vielleicht Gemeinderäte davor in ihren Abstimmungen gefeit? Und: Für manches unsinnige und kostenintensive Projekt könnten eher Gemeinderatsmehrheiten gewonnen werden als Bürgerentscheidszustimmungen.
Für interessierte Unternehmen ist es leichter und billiger, die paar Gemeinderäte durch Einladungen und Geschenke (um es nicht drastischer auszudrücken) zu gewinnen als Hunderte oder Tausende von Bürgerinnen.