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Litera­ri­scher Maulwurf LXXI

vorgängevorgänge 13212/1995Seite 118-124

Das Recht als Friedens- und Herrschaftsinstrument

in: vorgänge Nr. 132 (Heft 4/1995), S. 118-124

„Noch suchen die Juristen eine Definition zu ihrem Begriffe von Recht”, bemerkte schon Kant, ein Wort, das immer noch gilt (so Gustav Radbruch, 1914). Umfangreiche Bibliotheken rechtsphilosophischer Schriften wurden dazu geschrieben. Daß das Gesetz nicht Recht sein muß, ist seit dem Ende des Dritten Reiches auch in Deutschland kaum umstritten und wird durch die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte ständig neu bezeugt. Die vor allem in jüngster Zeit harsche Kritik an manchen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beweist zumindest, daß auch sie nicht stets als recht akzeptiert werden (wenn auch – wie bei der „Urteilsschelte” zu den Entscheidungen über Sitzdemonstrationen und Kruzifixe in bayerischen Schulzimmern – viel Populismus oft die Kritik entstellt). Immerhin gibt auch die Rechtsprechung gelegentlich früher verfochtene Ansichten auf und orientiert sich neu, denn das Recht unterliegt auch den gesellschaftlichen Änderungen und denen der Anschauungen darüber, was recht ist.
Als eine der wesentlichen Aufgaben des Rechts hat auch das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung vom 18.12.1953 die der Friedenssicherung hervorgehoben (BVerfGE 3, 225, 237). Einen entscheidenden Schritt hierzu unternahm der Staat in der frühen Neuzeit vor 500 Jahren: Am 7. August 1495 verkündete der Reichstag zu Worms unter dem Vorsitz von Maximilian I. den „Ewigen Landfrieden” und schuf zu seiner Sicherung das Reichskammergericht, das bis 1806 Recht sprach. Es hatte seinen Sitz zunächst in Frankfurt am Main, dann – nach häufigem Ortswechsel – in Speyer, zuletzt in Wetzlar. Vom 8.12.1994 bis 30.4.1995 stellte eine Ausstellung (Bonn und Frankfurt/Main) die Tätigkeit und Bedeutung dieses Gerichts vor, zu der ein umfangreicher und opulent ausgestatteter Katalog erschien:

Ingrid Scheurmann (Hrsg.): Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806 mit Beiträgen von zwanzig Historikern und Juristen, Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1994, 479 S., mit ca. 350 Abb., davon 43 auf 3 Farbtafeln, Leinen, DM 88,-

Die Bedeutung des Reichskammergerichts ist – trotz der Klagen über die Langwierigkeit der Verfahren, die mangelhafte Exekution und manche Mißbräuche – kaum zu über-schätzen. Es war besetzt durch einen Kammerrichter, dem 16 Beisitzer „Urteiler” zur Seite standen, von denen die Hälfte Rechtsgelehrte sein mußten, die andere Hälfte zumindest aus der Ritterschaft stammen sollten. Diese Regelung und der Amtseid des Kammerrichters und seiner Beisitzer, der sie zur Anwendung „des Reichs gemainen Rechten” (= römisches Recht) verpflichtete, förderte die Rezeption des römischen Rechts erheblich. Davon abweichende partikuläre Rechte mußten – mit Ausnahme von Gewohnheitsrecht und schriftlichen Statuten – bewiesen werden.
Das Reichskammergericht befaßte sich nicht mit Strafsachen, auch wenn es für Klagen wegen Bruchs des Landfriedens zuständig war und es gegen Friedensbrecher die Reichsacht verhängen konnte. Weitere erhebliche Bedeutung kam dem Gericht folglich darin zu, die Selbsthilfe zu Gunsten einer gerichtlichen Entscheidung von Streitigkeiten zurückzudrängen und so das Gewaltmonopol des Staates zu starken.
Das Gericht fungierte ferner u.a. als Appellationsinstanz für die Anfechtung von Urteilen territorialer und reichsstädtischer Obergerichte in Zivilsachen, es war auch zuständig für Klagen wegen Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung durch untere Gerichte, so daß diese erstmals zumindest der Möglichkeit einer Kontrolle unterworfen wurden.
Das Katalogbuch widmet sich allgemein Fragen der Friedenssicherung und Rechtsgewährung im Spannungsfeld von Geschichte und Gegenwart, es dokumentiert die Gründung, Organisation und äußere Geschichte des Reichskammergerichts und die Prozeßtätigkeit dort. In einem letzten Teil werden historische Obergerichte anderer Staaten vorgestellt: die obersten königlichen Gerichte in England, der Höchste Gerichtshof in Frankreich, der Große Rat von Mechelen, ferner Obergerichte in Italien, Schweden und Polen, jeweils in historischer Zeit. Die zahlreichen Illustrationen wie auch die einleitenden und begleitenden Essays vermitteln ein anschauliches Bild des Reichskammergerichts und seiner Tätigkeit im Laufe der Jahrhunderte.
Das Kernstuck des rezipierten römischen Rechts – überliefert als Corpus iuris civilis des oströmischen Kaisers Justinian 527-565 – sind die Digesten (auch Pandekten genannt), eine geordnete Sammlung kürzerer oder längerer Ausschnitte „Fragmente” aus rechtswissenschaftlichen Schriften von etwa 40 römischen Juristen der Zeit zwischen etwa 100 v.u.Z. und 250 n.u.Z. Eine moderne Übersetzung und erstmals eine zweisprachige deutsch-lateinische Ausgabe hat zu erscheinen begonnen:

Okko Behrends, Rolf Knütel, Berthold Kupisch, Hans Hermann Seiler (Hrsg.): Corpus Iuris Civilis. Text und Übersetzung, Band II, Digesten 1-10, mit Beiträgen weiterer Wissenschaftler, C.F. Müller Juristischer Verlag Heidelberg 1995, XXVII, 862 S., 1 Farbtafel, Großoktav, Buckram-Leinen, DM 398,-

Außer den Büchern 1-10 der Digesten enthält der Band die umfangreichen Einführungskonstitutionen, das Verzeichnis der zitierten Autoren und ihrer Werke, das Verzeichnis der Titel aller 50 Bücher der Digesten und das Epigramm, ferner ein Vorwort, Anmerkungen zur Übersetzung und zur Wirkungsgeschichte.
Wie der bereits hier vorgestellte Band I des Corpus iuris civilis (Instltutionen) folgt auch die Übersetzung der Digesten der „zielsprachlichen” Methode: „Es wurde ein deutscher Text angestrebt, der in der Sprache des heutigen Lesers natürlich wirkt und unmittelbar verständlich ist. Diese Methode gewährt gewisse Freiheiten, die behutsam genutzt wurden.” Den Herausgebern und weiteren Übersetzern ist es gelungen, dieses Ziel weitestgehend zu erreichen, gelegentliche Kritikpunkte schmälern das Verdienst nicht (so scheint es zweifelhaft, ob es sinnvoll ist, den Terminus „actio popularis” in D.9.3.13 mit „Popularklage” zu übersetzen, ein Begriff, der im modernen öffentlichen Recht eine ganz andere Bedeutung hat).
Als Rechtssammlung waren die Digesten für die Ausbildung und die Praxis ihrer Zeit bestimmt. Zu diesem Zweck wurde etwa ein Zwanzigstel der im 6. Jahrhundert noch überlieferten klassischen römischen Rechtsliteratur ausgewählt und von den Mitgliedern der von Justinian berufenen Kommission neu zusammengestellt. Dabei wurden überholte Rechtsfiguren weggelassen, die Fragmente wurden durch Texteingriffe aufeinander abgestimmt und dem geltenden Recht angepaßt. Kontroverse Ansichten unter den juristischen Schriftstellern wurden beseitigt, indem man sich bemühte, nur eine Meinung in das Digestenwerk aufzunehmen. Trotz eines strikten Kommentierungsverbots durch Justinian erschienen noch zu seinen Lebzeiten zahlreiche Kommentare in griechischer Sprache, die hauptsächlich eine freie, nur sinngemäße Übersetzung des lateinischen Originals, versehen mit griechischen Erläuterungen, brachten („Paraphrasen“).
Das 1. Buch beginnt mit rechtsphilosophischen Überlegungen über Gerechtigkeit und Recht, den Ursprung des Rechts usw. Die Bücher 2-10 befassen sich mit den unterschiedlichen Klagearten des römischen Rechts. „Die Gründe, die in Oberitalien seit der Jahrtausendwende dazu geführt haben, daß das corpus lurls und mit ihm die Digesten zum Gegenstand intellektueller Beschäftigung gemacht wurden und daß es zur Ausbildung einer die abendländische Rechtskultur prägenden Wissenschaft vom römischen Recht gekommen ist”, werden in der Einführung zur Wirkungsgeschichte kurz aber präzise erläutert. Seit der Wiederentdeckung des corpus iuris civilis im 11. Jahrhundert in Bologna prägte dieses Recht entscheidend die kontinental-europäische Rechtsentwicklung bis zu den Kodifikationen am Ende des 19. Jahrhunderts und damit auch unser geltendes Zivilrecht. Es ist daher nicht nur aus rechtshistorischen Gründen nach wie vor erforderlich, sich mit diesen Quellen auseinanderzusetzen.
Für 1996 ist Band III Digesten 11-20. Buch angekündigt. Für jeden Band gilt ein Subskriptionspreis, der um etwa 8% niedriger liegt als der spätere Ladenpreis.
Mit den geistesgeschichtlichen Gründen für die rasche Anpassung auch der rechtstheoretischen Grundlagen an die Bedürfnisse des nationalsozialitischen Staates befaßt sich

Oliver Lepsius: Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur ldeologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, Münchener Universitätsschriften Band 100, Verlag C.H. Beck, München 1994, XIV, 431 S., kart. DM 92,-

Wie konnte es geschehen, daß auch Juristen den Nationalsozialismus begeistert begrüßten und ein System guthießen, das von Anfang an kulturzerstörerisch wirkte und die staatsbürgerlichen Rechte mißachtete? Wie konnte es zu der kategorialen Blindheit kommen, in der auch und gerade Staatsrechtslehrer die Realität des Nationalsozialismus verkannten und illusionäre vermeintliche Ideale bejubelten? Das sind die Ausgangsfragen der Untersuchung, die 1992 abgeschlossen wurde und als juristische Dissertation der Ludwigs-Maximilian-Universität München vorlag.
Gegenüber den bisher verfolgten inhaltlichen, methodischen und philosophischen Ansätzen zum Gegenstand der Untersuchung z.B, durch Bernd Ruthers wählt der Autor eine andere Konzeption, die die genannten Methoden verbinden und über sie hinausgehen soll. Als Anwendungsfall überprüft er „die Einstellung gegenüber der juristischen Begrifflichkeit”. Die Methode der „gegensatzaufhebenden Begriffsbildung”, erkennt er als Zusammenführung von antagonistischen Prinzipien, wobei die widersprüchlichen Elemente zwar ihrem Anspruch nach, nicht aber tatsächlich „zu etwas Höherem aufgehoben werden” S. 153), sondern gleichgesetzt bleiben, so daß sie beliebig ideologisch ausgefüllt werden können.
Lepsius wählt als daraufhin zu untersuchende Topoi die Begriffe Volk, Gemeinschaft, Rasse und Führer, wobei nach den Kriterien für diese Auswahl zu fragen wäre, zumal nur der Begriff „Volk” – worauf der Autor selbst hinweist – über den Begriff der Volkssouveränität und auch den des Staatsvolks auch ein staatsrechtlicher Begriff ist. Im folgenden stellt die Rezension daher vor allem auf ihn ab.
Nicht zu Unrecht rechtfertigt Lepsius seine Wahl damit, daß die vier genannten Begriffe oberste Prinzipien des Nationalsozialismus bezeichneten. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden – wie zu ergänzen ist –‚ daß sich Hitler und seine Gefolgsleute um derartige Prinzipien, wie auch um die Meinung von Juristen überhaupt, wenig scherten: für sie galt nur das jeweilige Ziel: Vernichtung der Juden, Gewinnung von „Lebensraum“, Herrschaft durch Diktatur, Ziele, die durch Begriffe wie die genannten verschleiert wurden. Doch das ist nicht der Kern von LePsius` Anliegen, zu zeigen, wie willfährig die juristischen Theoretiker sich dieser Rechtfertigung freiwillig unterzogen.
Als Kriterien für die Ursachen der raschen Anpassung des überkommenen Rechtssystems an die NS-Ideologie und die rechtliche Akzeptanz dieser ldeologie untersucht der Autor die erwähnten Begriffe auf ihre inhaltliche Bedeutung, ihre rechtsmethodisch-funktionale Verwendung und ihre rechtsmethodisch-philosophische Herleitung, und zwar jeweils in Zeitabschnitten: vor 1933 und nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Er wählt seine Beispiele vorwiegend aus der Philosophie und dem öffentlichen Recht, Rechtsprechung wird weitgehend vernachlässigt. Insbesondere anhand des Volksbegriffs gelingt Lepsius der Nachweis, daß gerade seine Verbindung mit der Rezeption zeitgenössischer Allgemeinvorstellungen ein Hauptgrund für seine zunehmende Popularität war und daß eine verbreitete Abwendung von einer normativen Bestimmung des Begriffs Volk als Summe der Staatsangehorigen und eine Hinwendung zu einem natürlichen Volksbegriff schon in der Weimarer Republik dessen zunehmende Konturlosigkeit und damit beliebige Manipulation förderte, so daß er ab 1933 auf den Nationalsozialismus projiziert werden konnte S. 38). Lepsius belegt seine Ergebnisse mit zahlreichen wörtlichen Zitaten aus der Literatur. Im genannten Zusammenhang aufschlußreich sind beispielsweise die weitgehend deckungsgleichen Definitionen des Volksbegriffs bei Rudolf Laun 1930 einerseits und den NS-Kommentatoren Wilhelm Stuckart/Rolf Schiedermair (Rassen- und Erbpflege in der Gesetzgebung des Dritten Reichs, 1939) und dem Staatsrechtslehrer Otto Koellreutter (1933, 1935) andererseits. Lepsius weist auch (S. 126) darauf hin, daß das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zur Änderung des schleswig-holsteinischen Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes vom 21.2.1989, mit dem ein kommunales Wahlrecht für dort ansässige Ausländer eingeführt werden sollte, konsequent am normativen Volksbegriff festhielt (BVerfGE 83, 37ff.) , was zeigt, daß seine Untersuchung durchaus auch aktuelle Bezüge aufweist. Als weiteres Beispiel könnte man auf den Wahnsinn der „ethnischen Säuberungen” in den Kriegsgebieten des früheren Jugoslawien hinweisen: auch dort wird mit dem Schlagwort „Nation” erheblicher Mißbrauch betrieben.
Seine Untersuchung führt Lepsius auch zu ausführlichen Exkursen in die Philosophie. Ausgehend vom „Methodenstreit in der Staatsrechtslehre”, vor allem zwischen Georg Jellinek und Hans Kelsen, stellt er vor allem die Begriffsbildungen in der Weimarer Republik bei Erich Kaufmann, Gerhard Leibholz dem späteren Bundesverfassungsrichter und Schwager Dietrich Bonhoeffers, Hermann Heller und Rudolf Smend dar, um sie mit denen von Carl Schmitt und Karl Larenz ab 1933 zu vergleichen, stets natürlich im Blickwinkel seines Themas. Weit ausholend untersucht er sodann einige zeitgenössische Philosophien der Weimarer Republik auf ihre Eignung, konkrete Begriffsinhalte aufzulösen zugunsten einer assoziativen Vorstellung von objektiver Werthaltigkeit und ihre Übereinstimmung mit den von ihm gefundenen Entwicklungen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, vor allem: die Lebensphilosophie Diltheys, die Phänomenologie Husserls, die materiale Wertethik Schelers, die Ontologie Nicolal Hartmanns, die Existenzphilosophie Heideggers, die der Neuhegelianer hier vor allem K. Larenz, Julius Binder, Walther Schönfeld u.a. und Neukantianer (Hermann Cohen, Paul Natorp, Gustav Rad-bruch, Rudolf Stammler, Hans Kelsen u.a.).
Als Ergebnis des Autors laßt sich festhalten: Die begrifflichen Inhalte werden m der Philosophie der Weimarer Republik konturlos. Damals überschneiden sich philosophische und juristische Entwicklungen, wobei die Juristen stark von den Philosophen beeinflußt werden. Dadurch scheint eine doppelte Rechtfertigung eigener Wertungen und Präferenzen möglich. Zur ideologischen Dienstbarmachung des Rechts und als Vorbedingung für die juristische Akzeptanz des Nationalsozialismus seien damit drei Entwicklungen in der Weimarer Republik ursächlich: die Auflösung der Inhalte in unbestimmte, aber Scheingehalte suggerierende Begriffe; die Funktionalisierung dieser Begriffe zu einer obersten Rechtsidee, die Auflösung der Methode durch den wissenschaftlichen Fortschritt und höhere Wirklichkeitserfassung versprechenden, gegensatzaufhebenden Modephilosophien (Begründungshülsen).
Lepsius` verdienstvolle Arbeit zeigt schlüssig die Gefahren auf, die mit der inhaltlichen Aufweichung konkreter Begriffe verbunden sind. Ihre praktische Auswirkung und den damit verbundenen Mißbrauch eines ganzen Rechtsgebiets als Herrschaftsinstrument des Nationalsozialismus zeigt exemplarisch:

Reimer Voß: Steuern im Dritten Reich. Vom Recht zum Unrecht unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Verlag C.H. Beck, München 1995, XIII, 278 S., Leinen, DM 48,-.

Das Steuerrecht ist legitimerweise in jedem Staat ein wesentliches Mittel der politischen Einflußnahme. Daher ist die Finanzverfassung für die Gesetzgebung, die Verteilung des Steueraufkommens und die Verwaltungszuständigkeit für die Steuern von grundlegender Bedeutung. Der Zusammenhang zwischen Verfassung und Steuerrecht einerseits und zwischen diesem und der Wirtschaftspolitik andererseits ist evident. Der Autor zeigt, daß und wie die steuerrechtlichen Maßnahmen des Dritten Reichs jedoch über diese Wechselwirkungen und deren Politischen Vorgaben weit hinausgingen.
Einfalltor für die nationalsozialistische Instrumentarisierung des Steuerrechts war die von Lepsius siehe oben dargestellte „gegensatzaufhebende Begriffsbildung”, auch wenn Voß dessen fast gleichzeitig im Druck erschienene Arbeit nicht kennen konnte und den Begriff daher nicht verwendet. So wurde die Pervertierung des Gemeinwohlgedankens in §1 des Steueranpassungsgesetzes vom 16.10.1934 festgeschrieben:
„1. Die Steuergesetze sind nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen.
2. Dabei sind die Volksanschauung, der Zweck und die wirtschaftliche Bedeutung der Steuergesetze und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen.
3. Entsprechendes gilt für die Beurteilung von Tatbeständen.” Damit wurde die bereits 1919 von Enno Becker entwickelte und in § 4 der Reichsabgabenordnung festgeschriebene „wirtschaftliche Betrachtungsweise”, die bis heute das Steuerrecht kennzeichnet, mitvereinnahmt, allerdings mit dem in Abs.1 aufgestellten Obersatz der Maßgabe der NS-Weltanschauung, die nirgends verbindlich festgeschrieben war und so der Willkür Tür und Tor öffnete.
Voß teilt seine Darstellung in vier Kapitel: Im ersten werden die Grundlagen des Steuerwesens in der NS-Zeit dargestellt und ihre Entwicklung aus der Weimarer Republik, wobei uns als willfährige Transformatoren wieder Rechtslehrer begegnen wie Carl Schmitt, Karl Larenz, Theodor Maunz, Otto Koellreutter u.a..
Auch eine Reihe von Steuerrechtlern, die für die Rezeption nationalsozialistischen Gedankenguts mitverantwortlich waren, werden vorgestellt. Im zweiten Kapitel wird die nationalsozialistische Steuergesetzgebung gegenüber allen Steuerpflichtigen zusammengefaßt. Das dritte Kapitel befaßt sich mit der Sonderbehandlung der Juden, Polen, Zigeuner und anderer „Fremdrassiger” und die planmäßige „legale Ausplünderung” vor allem der Juden mittels des Steuerrechts: durch Verdrängung aus den steuerberatenden Berufen, Ausschluß von Steuervergünstigungen, Einführung einer Reichsfluchtsteuer Ertrag: etwa 300 Mio. RM nach R. Hilberg und Auferlegung anderer Sonderabgaben.
Im vierten Kapitel befaßt sich der Autor schließlich mit der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs RFH und der Frage einer nationalsozialistischen Ausprägung, die Gegenstand einer seit einigen Jahren aktuell geführten Diskussion ist. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, daß zwar ein großer Teil der Entscheidungen weltanschaulich neutral ist, jedoch ein Teil der alle Steuerpflichtigen be treffenden. Entscheidungen, vor allem aber die speziell Juden und sonstige »Fremdrassige“ betreffenden einen direkten Einfluß der natio-nalsozialistischen Weltanschauung erkennen lassen, ebenso solche, die Steuervergünsti-gungen für kirchliche Einrichtungen versagten. „In welchem Ausmaß an ideologischer Verbohrtheit Richter des RFH fähig waren, zeigt die … Entscheidung vom 17. März 1943, in der u.a. vom Kampf zwischen Juden und Deutschen auf Leben und Tod die Rede ist … zu einem Zeitpunkt, als etwa die Hälfte der deutschen Juden nach der Einwohnerzahl von 1933 unter dem Druck der Nazis bereits längst ausgewandert, die verbliebene Hälfte von ca. 250.000 Menschen teilweise schon in den Osten zum Zweck der Vernichtung deportiert war und in den besetzten Gebieten im Osten die Massenvernichtung von Juden bereits begonnen hatte”, stellt Voß zu Recht fest. In einem Schlußkapitel befaßt sich auch er mit der Frage, wie es zu einem spezifisch nationalsozialistisch geprägten Steuerrecht kommen konnte und weshalb Rechtslehrer, Beamte und Richter bereit waren, zur Durchsetzung des Nationalsozialismus beitzutragen.
Voß` Darstellung – soweit ersichtlich die erste Monografie zum Steuerrecht des Dritten Reichs – ist uneingeschränkt zu empfehlen, nicht nur Steuerrechtlern, sondern allen, die sich mit der „Rechtsentwicklung” und Geschichte der NS-Zeit befassen, Dem Thema der Friedenssicherung durch Recht widmet sich auch eine völkerrechtliche Neuerscheinung:

Franz Knipping, Hans von Mangoldt, Volker Rittberger: Das System der Vereinten Nationen und seine Vorläufer. Satzungen und Rechtsakte, zwei Bde. in drei Teilbänden, Band I/1: Vereinte Nationen, hrsg. von v. Mangoldt/Rittberger unter Mitarbeit von Martin Mogler und Stephen Wilske, Verlag C.H. Beck, München/Verlag Stämpfli + Cie AG, Bern 1995, LXV, 1.755 S., Leinen, DM 198,-, Vorzugspreis bei Gesamtabnahme aller Bande: DM 175,-.

Der Band enthält zweisprachig englisch/deutsch ein Vorwort der Herausgeber sowie 110 Dokumente (Satzungen, sonstige Verträge und Resolutionen der UNO), wobei jeweils die Quellen für den Text angegeben sind, die Daten des Inkrafttretens (völkerrechtlich und für die BRD), Literaturhinweise sowie ggf. die Vertragsparteien und die Abstimmungsergebnisse. Die Dokumente sind nach Sachgebieten geordnet, innerhalb der Sachgebiete chronologisch. Sie beginnen mit der Atlantik-Charta vom 14.8.1941. Beispielhaft seien hervorgehoben: die UN-Resolution 377 über ein Gemeinsames Vorgehen für den Frieden vom 3.11.1950, in welcher die Zuständigkeit der Vollversammlung in Fällen, in denen eine Bedrohung des Friedens, ein Friedensbruch oder eine Angriffshandlung vorzuliegen scheint, begründet wird, wenn der Sicherheitsrat mangels Einstimmigkeit seiner ständigen Mitglieder seine Hauptverantwortung nicht wahrnimmt, die eher fatale UN-Resolution 2131 vom 21.12.1965, die die Erklärung über die Unzulässigkeit der Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten und den Schutz ihrer Unabhängigkeit und Souveränität enthält, die Resolution 3314 vom 14.12.1974, in der der Begriff der Aggression definiert wird. Von besonderer aktueller Bedeutung ist auch das Übereinkommen von New York vom 31.3.1953 über die politischen Rechte der Frau und das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18.12.1979. Ferner sind dokumentiert die UNO-Maßnahmen gegen den Irak sowie die Resolution vom 25.5.1993, mit der ein internationales Strafgericht zur Verfolgung von Verletzungen des humanitären Völkerrechts im ehemaligen Jugoslawien geschaffen wurde. Abgedruckt ist auch das Statut des Internationalen Gerichtshofs vom 26.6.1945, ferner die UN-Resolution, vom 21.6.1946, mit der die Menschenrechtskommission der UNO installiert wurde. Wiedergegeben sind auch zahlreiche andere Dokumente, die die Menschenrechte, soziale und kulturelle Angelegenheiten betreffen wie die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem gleichen Jahr, das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1966, die Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte (1966) und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966), das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (1989).
Die aufgezählten Beispiele sollen lediglich eine Vorstellung von der Spannbreite der Themen der abgedruckten Dokumente vermitteln. „Aus der Vielzahl der Resolutionen wurden jene ausgewählt, die zentrale Entwicklungen innerhalb des Systems der Vereinten Nationen betreffen. Diese wurden durch solche Resolutionen ergänzt, die jüngere Schwerpunkte der Tätigkeit der Vereinten Nationen … kennzeichnen.” (Vorwort)
Jeder, der sich mit Menschenrechtsfragen beschäftigt, wird die Dokumentation benötigen, zumal die internationalen Vereinbarungen die Staaten binden, die sie ratifiziert haben, auch wenn Jedermann-Rechte oft mit einem Vorbehalt für den nationalen Gesetzgeber versehen sind.

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