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60 Jahre Grundgesetz – mehr Demokratie wagen! Kongress der Humanis­ti­schen Union Frankfurt

Mitteilungen205/20609/2009Seite 12

Aus: Mitteilungen Nr. 205/206 (2+3/2009), S. 12/13

60 Jahre Grundgesetz – mehr Demokratie wagen! Kongress der Humanistischen Union Frankfurt

Am 23. Mai war ein runder Geburtstag: Unser Grundgesetz wurde 60 Jahre alt. Der Frankfurter Ortsverband würdigte den Jubilar mit einem Kongress – nicht nur am historischen Tag, sondern auch an historischem Ort: im Frankfurter I.G.-Farben-Haus. Dort hatte der amerikanische Militärgouverneur am 1. Juli 1948 den Ministerpräsidenten der Trizonen-Länder den Auftrag erteilt, eine Verfassung für das Gebiet der Trizone auszuarbeiten.

Peter Menne wies in seiner Einführung auf Besonderheiten dieser deutschen Verfassung hin: den provisorischen Charakter (gültig bis zu dem Tag, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“); die uneingelösten Versprechen, die das Grundgesetz aus der Weimarer Verfassung übernahm, aber bis heute nicht verwirklicht (z.B. die Abschaffung der staatlichen Leistungen an die Kirchen).
Mit vier Referaten blickte der Kongress im ersten Teil zurück: Was hat sich in den letzten 60 Jahren wie entwickelt? Der zweite Teil schauten nach vorn: Wo wollen wir hin, welche Weiterentwicklungen sind nötig? Es referierten:

  • Prof. Dr. Rosemarie Will: Gibt es ein „Grundrecht auf Sicherheit“?
  • Dr. Werner Konitzer: Asyl und Migration: Zur Geschichte eines politischen Rechts in der Bundesrepublik.
  • Dr. des. Volker Mittendorf: Direkte Demokratie im Grundgesetz – ein uneingelöstes Versprechen?
  • Dr. Sascha Liebermann: Den Sozialstaat auf das Fundament stellen, auf dem die Demokratie schon ruht – durch ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Werner Konitzer ist stellvertretender Direktor des Fritz Bauer Instituts, das der Ortsverband Frankfurt ebenso als Mitveranstalter gewinnnen konnte wie die Frankfurter Rundschau, die den Kongress groß ankündigte.

Im ersten Referat widmete sich die Bundesvorsitzende der HU, Rosemarie Will, der rechtstheoretischen Frage, ob es ein „Grundrecht auf Sicherheit“ geben könne. Dabei griff sie eine Figur auf, die der Bonner Staatsrechtler Josef Isensee 1983 entworfen hat. Nach Isensee sei sämtlichen explizit formulierten Grundrechten noch ein „Grundrecht auf Sicherheit“ vorgelagert. Um jenes zu gewährleisten, dürfe der Staat die speziellen Freiheiten beschränken.

Rosemarie Will zeigte auf, wie mit dieser Denkfigur sämtliche Grundrechte ausgehebelt werden können. Die Auswirkungen Isenseeschen Sicherheitsdenkens verdeutlichte sie am Beispiel des Fernmeldegeheimnisses: Aus dem Sicherheitsziel folge, dass potentielle Täter am besten vor dem falschen Gebrauch ihrer Handlungsmöglichkeiten geschützt werden müssen. Deshalb würden technische Möglichkeiten zum Abhören und Überwachen des Telefonverkehrs (z.B. Verbindungsdaten: Wer hat wann, von wo aus wen angerufen?) bedenkenlos ausgeschöpft. Allein schon die Zahl richterlich angeordneter Telefonüberwachungen schnellte in den letzten Jahren in die Höhe; das geheimdienstliche Abhören komme noch hinzu.

Werner Konitzer zeigte am Beispiel des Asylrechts, wie sich Wahrnehmung und Auslegung von Grundrechten unter wechselnden politischen Bedingungen verändern. So wurde das Asylrecht in den Beratungen des Parlamentarischen Rates und in den ersten Jahren der BRD noch als ein Schutzrecht für Personen aufgefasst, die sich selbst politisch betätigt hatten und deswegen verfolgt wurden. Das änderte sich in der Ära des Kalten Krieges: Nun wurde praktisch jeder, der aus dem Ostblock kam, als ‘Widerstandskämpfer’ betrachtet. Im Zuge dessen änderte sich die Auffassung darüber, wer Asylant sein kann. Es kam nicht mehr auf eigene politische Aktivität an. Dieser Wandel griff eine soziologische Einsicht auf, wonach die politische Verfolgung kaum davon abhängt, ob das Verfolgungsopfer in irgendeiner Weise aktiv war oder vollkommen unauffällig lebte. Allein ausschlaggebend ist die Motivation der Täter, die ihr Opfer aus politischen, religiösen oder rassischen Vorstellungen heraus verfolgen. So hatten sich die durch die Nationalsozialisten verfolgten Juden zum überwiegenden Teil nicht in irgendeiner Weise exponiert, sondern lebten ganz durchschnittlich. Nach der ersten Asylauffassung wäre ihnen daher kein Schutz gewährt worden. Das änderte sich mit der neuen, im Kalten Krieg geprägten Auffassung des Asylstatus, der nun nicht mehr auf eigenen Taten, sondern auf den Opferstatus abstellte.

Seit den 70er Jahren wurde Deutschland – wie andere europäische Länder auch – faktisch zum Einwanderungsland. Während das jedoch bei den europäischen Nachbarn diskutiert wurde, entwickelte sich in Deutschland eine eigenartige Fehlwahrnehmung: die Zuwanderung wurde negiert, stattdessen jeder Migrant als „Asylant“ aufgefasst. Daraus entwickelte sich eine populistische Diskussion über die sog. „Asylantenschwemme“. Tatsächlich wuchs die Zahl der Flüchtlinge insbesondere aus der Dritten Welt, die personellen Ressourcen des Amtes zur Anerkennung von Asylbewerbern wurden jedoch nicht aufgestockt – so dass es zum Stau bei der Asylantragsbearbeitung kommen musste. Auch aufgrund der überlangen Bearbeitungszeiten wuchsen die Flüchtlingsaufnahmelager überproportional an. Die Pogrome gegen Asylsuchende in Hoyerswerda (9/1991) oder Rostock-Lichtenhagen (8/1992) führten nicht etwa dazu, dass die Politik die Asylsuchenden schützte. Im Gegenteil: Die von der Polizei nicht unterbundenen Übergriffe wurden in der politischen Debatte als Argument gegen Asylbewerber genutzt. Am Ende der Diskussion stand eine Änderung des Grundgesetzes im Mai 1993, mit der das Asylrecht faktisch abgeschafft wurde.

Der Rückblick auf die Entwicklung des Grundgesetzes fiel insgesamt kritisch aus. Wenn auch nur an zwei Beispielen ausgeführt, standen weitere massive Grundrechtsbeschränkungen seit Mai 1949 im Hintergrund. Doch konnte das nicht davon abhalten, auch den Blick nach vorn, auf wünschenswerte Verbesserungen unserer Verfassung zu richten. Der Nachmittag stand im Zeichen zukunftsweisender Konzepte sowohl für das politische System (Volksentscheid) wie für das ökonomische System (bedingungsloses Grundeinkommen). Zu beiden Themenkomplexen hatte der Ortsverband Frankfurt kompetente Referenten gewinnen können:

Volker Mittendorf lehrt und forscht zu Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie an der Universität Wuppertal. Er engagiert sich bei Mehr Demokratie e.V. und promovierte 2006 in Marburg zum Thema. Seine Dissertation „Die Qualität kollektiver Entscheidungen“ erscheint im Oktober 2009 bei Campus. Sascha Liebermann gehört zu den Gründern der „Initiative Freiheit statt Vollbeschäftigung“, die sich seit 2003 für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens einsetzt.

Volker Mittendorf plädierte für Volksentscheide auf allen Ebenen. Er wies darauf hin, dass dies in manchen Ländern auf kommunaler Ebene bereits erfolgreich praktiziert werde. In den deutschen Bundesländern sei die Situation sehr verschieden, aber insgesamt noch unbefriedigend, erst recht auf Bundesebene. Mittendorf betonte, dass die Bürger sich für öffentliche Belange sehr viel stärker verantwortlich fühlen, wenn sie sich an den Sachdiskussionen beteiligen können. Die Legitimation politischer Entscheidungen würde steigen – entgegen dem jetzt zu beobachtenden Trend. Mittendorf verglich die Zustände mit denen in der Schweiz. Deren lange direktdemokratische Tradition ist bekannt. Mittendorf hob weniger bekannte Nebeneffekte hervor,  z.B. die größere Verständlichkeit von Gesetzestexten: dank öffentlicher Debatte würden diese in der Schweiz nicht allein von Fachjuristen formuliert. So könnten bestimmte juristische Textformen vermieden werden, wie z.B. Verweise, die insbesondere Nichtjuristen die Lektüre erschweren.

Mittendorf betonte, dass für eine qualifizierte Willensbildung eine ausreichend lange öffentliche Debatte wichtig ist. Er unterschied hier das griechische Demos als wohlinformiert abstimmendes Volk vom römischen Plebs, der von Volkstribunen benutzt wurde, um ihre Entscheide absegnen zu lassen.

Sascha Liebermann stellte mit dem bedingungslosen Grundeinkommen einen innovativen Ansatz für die Sozialpolitik vor. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Entwicklung der Arbeitsproduktivität in Deutschland: so konnte die Produktion in den letzten Jahren stetig wachsen, bei einem ebenso stetigen Rückgang der dafür benötigten Arbeitszeit. Zum anderen stellte Liebermann dar, wie unzulänglich unsere Lebensqualität erfasst wird, wenn man sie auf rein ökonomische Faktoren reduziert. Ein wesentlicher Teil unserer Lebensqualität beruhe auf ehrenamtlich erbrachtem Engagement, nicht nur in Feuerwehr oder Sportverein. Die Summe der ehrenamtlichen Arbeitsstunden liege doppelt so hoch wie die der bezahlten Arbeitsstunden. Dennoch beruhe die gesellschaftliche Wertschätzung – calvinistisch geprägt – noch immer auf der vergütet erbrachten Arbeit.

Liebermann stellte ein Konzept vor, wie bei gleichen Kosten für die Unternehmen das Volkseinkommen neu verteilt werden könne. Finanziert werden solle dies ausschließlich über Konsumsteuern, während die Einkommensteuer abgeschafft werde – so werde die Arbeitskraft billiger. Wenn in gleichem Maß die indirekte Steuer erhöht werde, bleiben die Kosten für die Unternehmen konstant. Für arbeitende Menschen bleibt die Summe aus niedrigerem Einkommen plus bedingungslosem Grundeinkommen gleich. Diejenigen aber, die heute Arbeitslosengeld I oder II oder sonstige Hilfen zum Lebensunterhalt benötigen, verbessert sich die Situation entscheidend: Sie bekommen erstens eine bessere Grundausstattung, zweitens entfallen sämtliche, teils entwürdigende Prüfungen und Bewilligungen. Der hohe Prüfaufwand in den Bewilligungsverfahren ist volkswirtschaftlich unproduktiv – und kann vollständig entfallen.

Liebermann begeisterte mit seinem charismatischen Vortrag, an den sich eine ausführliche Diskussion anschloss. Seine Thesen bestimmten auch das abschließende Podium, mit dem der Kongress endete.

Peter Menne
ist Vorsitzender des Ortsverbandes Frankfurt und bereitete den Kongress maßgeblich vor.

In der angehängten PDF-Datei finden Sie die Einführungsrede von Peter Menne zur Tagung.

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