Beitragsbild Was lange währt, wird endlich gut?
Publikationen / Mitteilungen / Mitteilungen Nr. 205/206

Was lange währt, wird endlich gut?

Mitteilungen205/20609/2009Seite 14-16

Erstes Gesetz zur Patientenverfügung endlich da. Einsatz der Humanistischen Union hat sich gelohnt. Aus: Mitteilungen Nr. 205/206 (2+3/2009), S. 14-16

Was lange währt, wird endlich gut?

Am 18. Juni 2009 hat der Bundestag erstmals ein Gesetz zu Patientenverfügungen verabschiedet. Damit beendete das Parlament kurz vor den Neuwahlen (und dem drohenden Verfall aller eingebrachten Gesetzentwürfe) ein jahrelanges Ringen um die Anerkennung der Patientenautonomie. Das „Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts“ – so der offizielle Titel – trat am 1. September 2009 in Kraft. Gegenüber dem bisherigen Rechtsstand erweitert es die Patientenautonomie nicht unmittelbar. Es ist jedoch ein Versuch, das in den letzten Jahren zum Teil widersprüchliche Richterrecht zu vereinheitlichen. So könnte das Gesetz Rechts- und Verhaltenssicherheit für alle Beteiligten schaffen – wichtig für Sterbende wie ihre Angehörigen, für Ärzte, Pfleger und Betreuer.

Vom Erfolg überrascht

Das Abstimmungsergebnis kam für viele Beobachter überraschend. Deutlicher als erwartet setzte sich mit 317 von 555 abgegebenen Stimmen der Entwurf des Abgeordneten Stünker durch, der dem Anspruch der Selbstbestimmung am ehesten gerecht wird und den die Humanistische Union als gesetzgeberisches Minimum gefordert hatte. Gegen ihn standen zwei konkurrierende Entwürfe (vgl. Mitteilungen 204, S. 8/9) sowie ein kurz zuvor noch eingereichter Vorschlag (BT-Drs. 16/13262) zum Verzicht auf jegliche gesetzliche Regelung zur Abstimmung. Bis zuletzt hatten sich die Vertreter der verschiedenen Entwürfe nicht auf eine Abstimmungsreihenfolge einigen können (so dass zunächst über diese entschieden werden musste), und auch das von vielen erwartete Zusammengehen der beiden nah beieinander liegenden Entwürfe von Stünker/Kauch und Zöller/Faust kam nicht zustande.

Dass die Entscheidung am Ende so deutlich ausfiel, dazu trugen mindestens drei Faktoren bei: Zunächst einmal hatte der Abgeordnete Stünker nach der Anhörung des Rechtsausschusses einige Ergänzungen in seinen Vorschlag aufgenommen (s. BT-Drs. 16/13314), die jene von der Fürsorge-Fraktion vorgebrachte Kritik eines Verfügungs-Automatismus entkräften sollte. Dazu gehörte ein ausdrückliches Verbot, dass niemand zur Errichtung einer Patientenverfügung gezwungen werden dürfe und dass eine Kopplung von Patientenverfügungen an andere Vertragsabschlüsse unzulässig sei (§ 1901a  Abs. 4 BGB). Zudem empfahl der Entwurf jetzt, dass Angehörige und Vertrauenspersonen vor der ärztlichen Entscheidung angehört werden sollen, um mutmaßliche Änderungen des Patientenwillens auszuschließen (§ 1901b Abs. 2 BGB).

Daneben ist das Abstimmungsergebnis Ausdruck einer zunehmenden Etablierung von Werten der Autonomie und der Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft: Bis zuletzt hatten die beiden Kirchen, hatten Vertreter der Hospizbewegung und der Präsident der Bundesärztekammer vor den vermeintlichen Gefahren eines Patientenverfügungsgesetzes gewarnt. Ihre düsteren Szenarien – Patienten, die einer früher verfassten Patientenverfügung schicksalhaft ausgeliefert seien und diese nicht mehr widerrufen könnten; die Furcht vor massenhaften Selbsttötungen; das aus Kostengründen induzierte Abdrängen alter und kranker Menschen in den Tod – all diese Szenarien konnten die Mehrheit nicht mehr wirklich davon überzeugen, dass eine paternalistische Fürsorge die bessere Alternative sei. Umfragen unter der Bevölkerung verweisen seit Jahren darauf, dass sich gerade ältere Menschen eher vor zu viel Behandlung fürchten und der Beachtung eigener Behandlungswünsche oberste Priorität eingeräumt wird. Die Zeiten, als Arzt und Staat zugestanden wurde, sie wüssten was besser für den Betroffenen sei, sind vorbei. Dieser Wertewandel scheint nun auch unter den Parlamentariern angekommen zu sein.

Dass sich dieser Wertewandel durchgesetzt hat, ist nicht zuletzt ein Verdienst jener Gruppen und Initiativen, die sich seit Jahrzehnten für mehr Selbstbestimmungsrechte von Kranken und Sterbewilligen einsetzen – und damit auch ein Verdienst der Humanistischen Union. Sie gehörte zu den ersten, die Ende der 1970er Jahre eine Patientenverfügung in Deutschland einführte. Dank der von uns seit 30 Jahren vertriebenen Mustertexte, durch zahlreiche Veranstaltungen und Fachtagungen (von 1978 bis 2007) haben wir die Idee einer selbstbestimmten Verfügung über das eigene Lebensende erfolgreich propagiert und immer wieder deutlich gemacht, dass die Selbstbestimmung über den eigenen Körper für uns zum Kernbereich der durch das Grundgesetz geschützten Würde und Freiheit  des Menschen gehört. Auch in diesem Jahr, im Vorfeld der bevorstehenden Entscheidung des Bundestages, hatte sich die Humanistische Union ins Zeug gelegt. Im Frühjahr hatten wir in Brandenburg eine Kampagne zur direkten Auseinandersetzung mit den Abgeordneten gestartet und in der Woche vor der Abstimmung alle Bundestagsabgeordneten noch einmal angeschrieben, um für den Stünker-Entwurf als weitest gehenden Konsens zu werben. Zugleich haben wir dabei auf die weitergehenden Forderungen der HU und unseren eigenen Gesetzesvorschlag verwiesen.

Was bringt das Gesetz?

Mit dem Gesetz wurde das Rechtsinstitut der Patientenverfügung im Betreuungsrecht verankert. Es regelt die Aufgaben von Arzt, Betreuern und Bevollmächtigten beim Umgang mit einer Patientenverfügung: Die vom behandelnden Arzt vorgeschlagenen Maßnahmen sollen zwischen Betreuer und Arzt unter Maßgabe des Patientenwillens erörtert werden. Der Wille des Betroffenen ist dabei unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung zu beachten – es gibt keine sog. Reichweitenbeschränkung für Patientenverfügungen. Sofern die in der Patientenverfügung umschriebenen Situationen mit der aktuellen Lebens- und Behandlungssituation übereinstimmen und es keine konkreten Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Betroffene seine Entscheidung geändert hat, ist dem Behandlungswillen des Betroffenen Geltung zu verschaffen. Patientenverfügungen können jederzeit formlos widerrufen werden; niemand darf gegen seinen Willen auf eine frühere Verfügung verpflichtet werden. Sie sind nach dem Gesetz nur wirksam, wenn sie schriftlich abgefasst vorliegen.

Das Gesetz regelt auch Behandlungssituationen nicht-einwilligungsfähiger Patienten für den Fall, dass keine Patientenverfügung vorliegt: Dann bedarf es einer Entscheidung des Betreuers über die ärztlichen Maßnahmen. Diese Entscheidung muss den mutmaßlichen Willen des Betreuten berücksichtigen. Die Kriterien, wie der mutmaßliche Wille festzustellen ist (konkreter Anhaltspunkte, religiöse und ethische Überzeugungen etc.), werden ausdrücklich im Gesetz genannt. Ist ein mutmaßlicher Wille nicht feststellbar, entscheidet der Betreuer nach allgemeinen Grundsätzen, also unter  Berücksichtigung der Wünsche und des Wohls des Betreuten.

Zugleich wird eine gerichtliche Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichtes für Streitigkeiten im Umgang mit Patientenverfügungen geregelt. Jedermann kann jederzeit beim Vormundschaftsgericht eine Überprüfung anregen, wenn Zweifel daran bestehen, dass Betreuer oder Bevollmächtigte nicht im Sinne des Betroffenen entscheiden. Darüber hinaus wird eine vormundschaftsgerichtliche Genehmigung eingeführt, wenn Arzt und Betreuer / Bevollmächtigte unterschiedlicher Auffassung darüber sind, welche Entscheidung dem Willen des Betroffenen entspricht und sich nicht darüber einigen können.

Mängel des Gesetzes
Gemessen an unseren eigenen Vorschlägen sind die Defizite des Gesetzes klar zu benennen: Die Einführung der Patientenverfügung im Betreuungsrecht verstellt den Blick darauf, dass die Patientenverfügung allgemein gültig ist. Die Humanistische Union hatte vorgeschlagen, die Patientenverfügung im allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches einzuordnen – allein schon um klarzustellen, dass es sich bei einer Patientenverfügung im eine ganz normale Willenserklärung handelt, die lediglich vorab getroffen wurde.

Der Gesetzestext erweckt bei flüchtiger Lektüre den Eindruck, dass nur Betreuer bzw. Bevollmächtigte mit der Patientenverfügung gebunden werden, was aber nicht zutrifft. Tatsächlich wird durch die neue Vorschrift jedermann an den Willen des Verfassers einer Patientenverfügung gebunden, vor allem auch die behandelnden Ärzte. Da die Ärzte im Text aber – außer in dem nicht bindenden Gespräch mit dem Betreuer/Bevollmächtigten (§ 1901b Abs. 1 BGB) – nicht genannt werden, verfehlt der Gesetzestext das Anliegen einer transparenten, für alle einsichtigen Regelung.

Die größte Lücke des jetzt beschlossenen Gesetzes besteht jedoch darin, dass es keine strafrechtliche Regelung enthält. In der Praxis zeigen Mediziner wie Vormundschaftsrichter immer wieder große Unsicherheiten darüber, ob eine medizinische Behandlung bzw. ihr Abbruch als zulässige (indirekte oder passive) oder als illegale (aktive) Formen der Sterbehilfe einzuordnen sind. Selbst die längst überfällige Klarstellung zur Legalität der passiven und indirekten Sterbehilfe – die am derzeitigen status quo nichts ändern würde – fehlt aber im Gesetz; geschweige denn, dass damit das absolute Verbot der aktiven Sterbehilfe gelockert würde, wie es die Humanistische Union und eine Mehrheit der Bevölkerung seit langem fordern.

Was bleibt für uns zu tun?

Bei allen bestehenden Defiziten – so viel ist klar: Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zum 1. September ist viel von dem erreicht, wofür wir in den letzten Jahrzehnten gestritten haben. Daher stellt sich jetzt die Frage: Wie gehen wir mit der neuen Rechtslage um? Und was bleibt für uns als Bürgerrechtbewegung noch zu tun?

Als Erstes: Wir sollten uns überlegen, wie wir das mit dem Gesetz Erreichte auch in die breite Öffentlichkeit tragen können. Nach wie vor gibt es ein großes Informationsdefizit über die Möglichkeiten der rechtlichen Ausgestaltung von Patientenverfügungen. Trotz annähernd 200 verschiedener Leitfäden und Musterverfügungen, die von staatlichen und privaten Institutionen angeboten werden, befürchten viele Menschen, dass sich die Ärzte nicht an die Verfügungen hielten. Auch die irrige Ansicht, Angehörige könnten einfach so für die Betroffenen entscheiden, wird in Umfragen von etwa einem Drittel der Befragten geäußert. Gegen solche Informationslücken und Fehleinschätzungen ist Aufklärung geboten.
Bei unseren Bemühungen sollte das bürgerrechtliche Anliegen im Vordergrund stehen: Das ist die Aufklärung über das Recht zur Selbstbestimmung, auch über den eigenen Körper und das eigene Leben. Dieses Recht gehört zum Kern der  Menschenwürde, die das einzig absolute und damit uneingeschränkt geltende Recht ist. Es wird durch Willensäußerungen des entscheidungsfähigen Menschen ausgeübt  und umfasst gerade auch das Recht, in Patientenverfügungen relevante Festlegungen für die Zukunft zu treffen. Lebenserhaltende Maßnahmen sind daher, wie alle ärztlichen Eingriffe, grundsätzlich nur zulässig, wenn der einsichtsfähige Betroffene in diese Maßnahmen einwilligt. Andernfalls drohen dem behandelnden Arzt strafrechtliche Konsequenzen. Das deutsche Verfassungsrecht stellt deshalb zu recht das Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper höher als die Schutzpflichten anderer für sein Leben. Für diese Hierarchie der Werte treten wir offensiv ein.

Und darüber hinaus: Auch nach dem jetzt verabschiedeten Gesetz harrt der Widerspruch zwischen einer straffreien Selbsttötung und dem Verbot aktiver Sterbehilfe einer Auflösung. Warum ein selbstbestimmtes Lebensende nicht möglich sein soll, wenn die Betroffenen es nicht mehr selbst herbeiführen können, ist für viele Menschen nicht einsichtig. Es wird auf uns ankommen, die notwendigen strafrechtlichen Reformen, die wir mit unserem Gesetzentwurf zur aktiven Sterbehilfe vorgeschlagen haben (s. Mitteilungen 199, S. 18), einzufordern und die dafür erforderlichen parlamentarischen Mehrheiten zu gewinnen.

Rosemarie Will
ist Professorin für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität
und Bundesvorsitzende der Humanistischen Union

3. Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts vom 29.07.2009, veröffentlicht in: Bundesgesetzblatt 2009, Teil I Nr. 48, S. 2286-2287. Der Text findet sich in der BT-Drucksache 16/13314.

Informationen rund um das Thema Patientenverfügung sowie die Mustervordrucke der Humanistischen Union finden sich unter:
https://www.humanistische-union.de/shortcuts/patientenverfuegung.

nach oben