Publikationen / Mitteilungen / Mitteilungen Nr. 253

Nachruf: Norbert Reichling

Norbert Reichling ist am 15. September 2024, kurz vor seinem 72. Geburtstag, überraschend verstorben. Er war seit Ende der 1970er Jahre aktives HU-Mitglied. Als hauptberuflicher Erwachsenenbildner gehörte er bis zu seinem Ausscheiden im Jahr 2018 dem Leitungsteam des Bildungswerks der HU an. Die Essener Geschäftsstelle war zugleich Ort von Treffen des Ortsverbandes Essen und des Landesverbandes NRW.

Politisch sozialisiert in der undogmatisch-linken Studentenszene in Münster und beeinflusst von den neuen sozialen Bewegungen fiel es Norbert nicht schwer, sich den Zielen der Humanistischen Union anzuschließen: die Wahrung und Verteidigung der Grundrechte und die Erweiterung von Bürgerrechten und Partizipationsmöglichkeiten. Ein linksliberal gestimmter Rechtspositivismus war ihm immer eigen.

Prinzipien und Zielsetzungen der HU flossen gerade in den Anfangsjahren in die Bildungsarbeit mit ein, so beispielsweise in Gesprächsgruppen mit Gefangenen an nordrhein-westfälischen JVAs. Norbert initiierte Diskussionsveranstaltungen des Ortsverbandes und des Bildungswerks für die Essener Stadtgesellschaft, häufig in Kooperation mit der VHS, der ESG, mit Buchhandlungen, aber auch mit örtlichen Frauen-, Schwulen- und Umweltgruppen. Über Jahre hielt er zusammen mit Karl Cervik und anderen den Essener Orts-verband aufrecht. Zu Mitgliederversammlungen lud er nicht selten Referentinnen und Referenten in die Kronprinzenstraße ein, beispielsweise zur Reform des Paragraphen 218, zum Für und Wider des „Kopftuchs“, zur Gleichstellungspolitik.

Nach der Auflösung des Essener Ortsverbandes bildete er zusammen mit dem 2021 verstorbenen Helge Klawitter und Ursula Tjaden den Vorstand des Landesverbandes NRW. Wichtige Themen waren der Verfassungsschutz, das Polizeigesetz des Landes und der NSU-Untersuchungsausschuss. Sehr beachtenswert ist auch Norberts jahrelange Aktivität in Sachen Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene mit Sitz in Münster, der alle drei bis vier Jahre verliehen wird. Zum Trägerkreis gehörte seit 25 Jahren der Landesverband der HU NRW; Norbert vertrat den LV in diesem arbeitsreichen Gremium gestaltend, organisierend und finanziell unterstützend.

Bundesweit betätigte er sich während der 1980er Jahre in einer vom Bundesvorstand eingesetzten Arbeitsgruppe, die sich mit den Entwicklungen und Gefahren der neuen Computer- und Medientechnologien auseinandersetzte und dazu ein Memorandum verfasste. 1996/1997 war er mit Jürgen Seifert, Till Müller-Heidelberg, Eckart Spoo und Paul Ciupke an der Entwicklung und Etablierung des bis heute, zunächst im Rowohlt-Verlag, dann bei Fischer erscheinenden Grundrechtereports beteiligt und führte fünf Jahre (zusammen mit Paul Ciupke) die engeren Redaktionsgeschäfte. Die innere Struktur des Reports geht wesentlich auf Norberts Ideen zurück.

Norbert Reichling fehlte selten auf einer Delegiertenkonferenz oder Mitgliederversammlung. So sparte er nicht mit Kritik, als im Jahr 2004 Bundesvorstandsmitglieder pädophile Aktivitäten verharmlosten. Seine Positionen brachte er auf Konferenzen, durch Rundmails und Artikel zum Ausdruck. Sein Rat war in der Geschäftsstelle und im Bundesvorstand jederzeit gefragt.

Seit Ende der 1980er Jahre veränderte sich das Arbeitsprofil des Bildungswerks der HU NRW. Im Zentrum stand nun die historisch-politische Bildungsarbeit zu Themen des   20. Jahrhunderts. Das war ihm, der auch Teil der Geschichtswerkstättenbewegung gewesen war, ein besonderes Anliegen. Aus einer von ihm mitbegründeten Arbeits-gruppe zur Geschichte der Dorstener Jüdinnen und Juden entstand später das Jüdische Museum Westfalen, das er 14 Jahre ehrenamtlich leitete.

In den Ereignissen der beiden deutschen Diktaturen – außer für die NS-Geschichte interessierte sich Norbert ebenso stark für die DDR-Geschichte – waren auch Menschen- und Bürgerrechtsfragen in zentraler Weise enthalten.

Nicht unerwähnt sollte bleiben, in welch starkem Umfang Norbert Reichling sich in Fragen der Weiterbildungspolitik und in Fachangelegenheiten der politischen Bildung engagierte. Er war in NRW außergewöhnlich gut vernetzt und respektiert. Seine Liste an Fachveröffentlichungen zur politischen Bildung und Erinnerungspolitik, Aufsätze, Sammel-bände, Monografien, war ziemlich umfangreich. Zu seinem literarischen Schaffen gehörten auch Aufsätze über die Geschichte der Humanistischen Union. Norbert Reichling schuf Strukturen und stellte Verbindlichkeit her. In seinen Funktionen und seinen Texten war ihm Kontroversität wichtig. Dieser so produktive wie menschenfreundliche politische Bildner und Bürgerrechtler wird uns sehr fehlen.

Heidi Behrens, Paul Ciupke und Ursula Tjaden

nach oben