Die politischen Systeme der mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittsländer im Vergleich
Mit dem Ende der kommunistischen Regime ab 1989 hat sich die politische Landschaft in Osteuropa [1] grundlegend geändert. Der seither stattfindende Prozess der Demokratisierung verlief im Zeichen zweier Besonderheiten: Politische und wirtschaftliche Transformation standen gleichzeitig an; zudem bildeten sich eine Reihe neuer Staaten. Von den 19 osteuropäischen Ländern entsprechen nach dem Zerfall der Sowjetunion, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei nur mehr Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Albanien vor 1989/90 bestehenden Nationalstaaten.
Inwieweit ist angesichts dieser besonderen Herausforderungen eine Institutionalisierung und Konsolidierung der Demokratie gelungen? Diese Frage stellt sich insbesondere im Hinblick auf die acht ostmitteleuropäischen und baltischen Staaten, die ab 2004 der Europäischen Union angehören sollen, sowie Bulgarien und Rumänien, deren Beitritt für 2007 in Aussicht gestellt wurde.
Die zentrale Bedeutung der Verfassung
In allen osteuropäischen Staaten bilden geschriebene Verfassungen die Grundlage staatlich-politischen Handelns. Mittlerweile gelten in fast allen Staaten neue Verfassungen. In Lettland gilt wieder die Verfassung der vorsozialistischen Demokratie – ergänzt allerdings durch einen Grundrechtsteil und mit einer Reihe weiterer Änderungen. Nur in Ungarn wurde die sozialistische Verfassung (von 1949) nicht durch eine neugeschriebene Verfassung abgelöst, was mit den spezifischen Bedingungen eines „ausgehandelten Systemwechsels“ zu tun hatte. Faktisch ist die Verfassung allerdings angesichts zahlreicher Änderungen eine neue, demokratisch-rechtsstaatliche Verfassung, doch haftet ihr weiterhin ein „provisorischer Charakter“ an (Körösényi 2002: 312).
Mit dem Inkrafttreten der Verfassung endet – so die plausible Einteilung Wolfgang Merkels – die Transformationsphase der Institutionalisierung der Demokratie und es
kann bei Respektierung der dadurch festgelegten Verfahren und Spielregeln die Konsolidierung der Demokratie beginnen (Merkel 1999: 151).
Der Verfassungsurkunde kommt in allen osteuropäischen Staaten Vorrang gegenüber einfachen Gesetzen zu. Verfassungsänderungen werden entsprechend in allen osteuropäischen Staaten gegenüber der Verabschiedung einfacher Gesetze deutlich erschwert. Mehrere Verfassungen enthalten einen unveränderlichen Verfassungskern – so in Tschechien, Bulgarien und Rumänien. Die meisten Länder haben auf die nicht unproblematische „Ewigkeitsklausel“ verzichtet, doch sehen die Verfassungen mehrerer Staaten eine erhöhte Hürde für die Änderung besonders wichtiger Teile der Verfassung vor, unter ihnen die Beitrittsländer Polen, Lettland, Litauen und die Slowakei. Nur in den drei ostmitteleuropäischen Ländern Polen, Ungarn und Tschechien liegt die abschließende Entscheidung über alle (verfassungsrechtlich möglichen) Verfassungsänderungen stets alleine beim Parlament.
Ganz überwiegend entscheidet das Parlament bei Verfassungsänderungen mit einer Zweidrittel- oder Dreifünftelmehrheit (Ismayr 2002: 15).
Direktdemokratische Elemente bei Verfassungsänderungen enthalten die meisten osteuropäischen Verfassungen. Ein generelles obligatorisches Verfassungsreferendum gibt es nur in Rumänien. Allerdings ist in mehreren Ländern die Änderung wichtiger Teile der Verfassung nur durch eine Volksabstimmung möglich (Lettland, Litauen; Slowakei). Daneben gibt es vielfältige Formen eines fakultativen Verfassungsreferendums, so in Slowenien und der Slowakei sowie – bei grundlegenden Teilen der Verfassung – in Polen. Die verfassungsändernde Volksgesetzgebung ist – ähnlich wie in Westeuropa (Schweiz) – auch in Osteuropa die Ausnahme (Lettland, Slowakei und — umstritten – Ungarn).
Beachtlich ist der hohe Wert, den die Bürger der Verfassung beimessen. So empfinden nach einer neueren Erhebung für Ungarn, Polen, Slowenien, Tschechien, die Slowakei, Bulgarien und Rumänien sowie Albanien und Rußland mehr als 80 Prozent der Bürger die Verfassung als „Basis der Gesellschaft“, und mit Ausnahme Rußlands (39 Prozent) und Bulgariens (53 Prozent) sehen auch drei Viertel ihre Bürgerrechte gerade durch die Verfassung geschützt (Pickel/Jacobs 2001: 8).
Eine stark ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit
Dem Schutz der Verfassung dient eine stark ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit. Entsprechend dem ‚österreichischen Modell‘ von 1920 wurden in allen osteuropäischen Ländern mit Ausnahme Estlands spezielle Verfassungsgerichte eingerichtet, die insbesondere für die Kontrolle der Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zuständig sind. Neben dem österreichischen Verfassungsgericht diente häufig die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit als Vorbild.
Insgesamt gesehen sind die verfassungsrechtlichen Kompetenzen der Verfassungsgerichte stärker ausgebaut als in Westeuropa. In allen Ländern wurde die konkrete Normenkontrolle auf Veranlassung eines Gerichts wie auch die abstrakte Normenkontrolle von Gesetzen und untergesetzlichen Rechtsnormen eingeführt (Roggemann 1999: 124ff.). In fast allen Ländern kann die Initiative für die abstrakte Normenkontrolle auch von einer parlamentarischen Minderheit eingeleitet werden und ist somit als Oppositionsinstrument nutzbar. Von dieser Möglichkeit wurde unterschiedlich Gebrauch gemacht, doch kann sich eine solche Regelung auch präventiv auswirken.
Etwa zwei Drittel der osteuropäischen Länder haben nach deutschem und österreichischem Vorbild die Individualverfassungsbeschwerde eingeführt, so Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Lettland (seit 2001) und – mit erheblichen verfahrensmäßigen Einschränkungen – Ungarn und Polen.
Insgesamt gesehen spielten die Verfassungsgerichte in der Verfassungspraxis eine wichtige Rolle auf dem Wege der rechtsstaatlichen und demokratischen Konsolidierung. Ihre Entscheidungen hatten oft erhebliche politische Bedeutung und waren nicht selten auch politisch umstritten. Die Beschlüsse der Verfassungsgerichte wurden in der Regel von den betroffenen Institutionen respektiert und konnten jedenfalls in den Beitrittsländern weitgehend ihre Unabhängigkeit bewahren.
Verfassungsprinzipien rechtsstaatlicher Demokratie
Das Demokratieprinzip ist in allen osteuropäischen Verfassungen ausdrücklich verankert. Alle Verfassungen bekunden ein pluralistisches Demokratieverständnis – mit dem Recht der freien Gründung von Parteien und Vereinigungen. In allen Verfassungen ist entsprechend dem offenbar rezipierten Verständnis der ‚abwehrbereiten Demokratie‘ die Möglichkeit vorgesehen, Parteien und Vereinigungen als verfassungswidrig zu verbieten. In den meisten osteuropäischen Ländern entscheidet hierüber — jedenfalls letztinstanzlich — das Verfassungsgericht (Schweisfurth/Alleweldt 32000: 76; Roggemann 1999b: 16f.).
In deutlicher Abkehr vom staatssozialistischen Verständnis begreifen sich alle osteuropäischen Staaten heute als Rechtsstaaten nach einem westlichen Verständnis. Alle Verfassungen enthalten ausführliche Grundrechtskataloge, die fast überall dem Organisationsteil der Verfassung vorangestellt sind.
Fast alle Staaten haben den Schutz der „Menschenwürde“, ausdrücklich in ihre Verfassung aufgenommen, wobei als Vorbild häufig Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes diente. Alle Verfassungen gewährleisten die klassischen Freiheitsrechte, aber auch politische Grundrechte wie die Kommunikations-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, denen konstitutive Bedeutung für den pluralistisch-demokratischen Willensbildungsprozess zukommt. Die Bürger können sich vor Gericht auf die unmittelbar geltenden Grundrechte berufen (Schweisfurth/Alleweldt ³2000: 88).
Die osteuropäischen Staaten begnügen sich nicht damit, auch Sozialstaatlichkeit und Umweltschutz als Staatszielbestimmung zu verankern. In allen Verfassungen finden sich soziale Grundrechte, so durchweg ein ausdrückliches Recht auf soziale Sicherung, aber nur noch in der Hälfte der Länder auch ein Recht auf Arbeit. Allerdings kommt zumal angesichts ausgeprägter wirtschaftlicher Probleme den (zum Teil nicht einklagbaren) sozialen Rechten – zumindest faktisch – vornehmlich der Charakter von Staatszielbestimmungen zu (vgl. z.B. Schmidt 2002; Ziemer/Matthes 2002).
Der verfassungsrechtlich bemerkenswert hohe Stellenwert des Umweltschutzes zeigt sich darin, dass er in mehr als zwei Dritteln der Staaten nicht nur als Staatszielbestimmung verankert, sondern auch als Grundpflicht der Bürger normiert ist und diese ein Grundrecht auf eine gesunde (und gedeihliche) Umwelt haben. Längerfristig kann sich die verfassungsrechtliche Verankerung des Umweltschutzes auch dann auswirken, wenn angesichts drängender ökonomischer und sozialer Probleme vorerst andere Fragen im Vordergrund stehen.
Die Dominanz parlamentarischer Regierungssysteme
In vielen osteuropäischen Ländern wurde das Staatsoberhaupt mit beachtlichen Kompetenzen ausgestattet. Allerdings hat sich nirgendwo in Osteuropa ein präsidentielles Regierungssystem nach amerikanischem Muster etabliert. Vielmehr verfügen diese Länder über eine geteilte Exekutive: ein Staatsoberhaupt und eine Regierung, an deren Spitze ein Ministerpräsident steht. In sämtlichen osteuropäischen Ländern kann die Regierung verfassungsgemäß durch ein parlamentarisches Mißtrauensvotum gestürzt werden. Sie weisen somit das Hauptmerkmal parlamentarischer Regierungssysteme auf.
Allerdings zeigten sich insbesondere in den ersten Jahren nach dem Umbruch von 1989/90 breite semi-präsidentielle Tendenzen, welche die Diskussion über Regierungssystem-Typologien belebt haben. Sie waren nur teilweise durch die Verfassungslage begründet; vielmehr entstanden sie zumeist dadurch, dass den Staatspräsidenten über ihre verfassungsmäßigen Zuständigkeiten hinausgehende Aufgaben zuwuchsen oder sie diese für sich in Anspruch nahmen. Ursache hierfür wiederum waren die Instabilität von Parlamenten und Regierungen sowie teilweise auch entsprechende Erwartungen in der Bevölkerung. Von einem semi-präsidentiellen System kann gesprochen werden, wenn die Regierungsmacht nicht allein bei Kabinett und Ministerpräsidenten, sondern in erheblichem Umfang auch beim direkt gewählten Staatspräsidenten liegt, der somit nicht nur die charakteristischen Aufgaben eines Staatsoberhauptes wahrnimmt (Duverger 1980: 166).
Stabilisiert hat sich dieser Typus nur in der Variante eines präsidentiell-parlamentarischen Regierungssystems, und zwar in Russland, der Ukraine und Weißrussland, die hinsichtlich der Verfassung und mehr noch der Verfassungspraxis aus dem Rahmen fallen und semi-autoritäre oder – im Falle Weißrusslands – autoritäre Züge tragen (Ismayr 2002: 19ff.). Im Unterschied zur Variante des parlamentarisch-präsidentiellen Systems besitzt der Staatspräsident dort die Möglichkeit, die Regierung gegen den Willen der Parlamentsmehrheit zu entlassen (Merkei 1999: 139). Ansonsten bestehen mittlerweile fast überall in Mittel- und Osteuropa parlamentarische Regierungssysteme, während die parlamentarisch-präsidentielle Variante des semi-präsidentiellen Typus ihre anfängliche Bedeutung weitgehend eingebüßt hat.
In mehreren Ländern wurden die Kompetenzen der Staatspräsidenten ausdrücklich reduziert, während sie sich in anderen deutlicher auf ihre verfassungsmäßige Rolle beschränken (Ismayr 2002: 22). Einen bemerkenswerten Wandlungsprozess hat Polen durchlaufen, wo die zunächst (sehr) starke Stellung des Staatspräsidenten schrittweise eingeschränkt wurde. Über die auch in parlamentarischen Regierungssystemen üblichen Regelungen hinaus verbleibt dem polnischen Staatspräsidenten nach der Verfassung von 1997 ein nur schwer überwindbares Veto bei der Gesetzgebung. Dieses Vetorecht bietet inhaltliche Einwirkungsmöglichkeiten auf politische Entscheidungen, die je nach personeller und parteipolitischer Konstellation unterschiedlich intensiv sein können. Um das Veto zurückzuweisen, bedarf es einer parlamentarischen Mehrheit von Dreifünfteln der Abstimmenden. Ob Polen angesichts dieser spezifischen verfassungsmäßigen Konstellation auch weiterhin als parlamentarisch-präsidentielles System einzuordnen sein wird, muss die zukünftige Verfassungspraxis erweisen (Ziemer/Matthes 2002). Litauen ist „nur auf den ersten Blick dem Typ parlamentarisch-präsidentieller Systeme zugehörig“ (Tauber 2002: 154). Ungeachtet gewisser verfassungsmäßiger Zuständigkeiten in der Außenpolitik (Art. 84 Litauische Verfassung) fehlt es dem Staatspräsidenten an faktischen Kompetenzen zu einer selbständigen Außenpolitik.
Auch die im Falle Rumäniens übliche und bei Bulgarien (und Mazedonien) gelegentlich vorgenommene Charakterisierung als ‚parlamentarisch-präsidentiell‘ oder ’semipräsidentiell‘ erfolgt kaum aufgrund der Kompetenzzuweisungen der Verfassung, sondern anhand der Verfassungspraxis. So stütz(t)en sich die rumänischen Staatspräsidenten auf einen umfangreichen Mitarbeiterstab und maßten sich – jedenfalls bis zum erneuten Machtwechsel Ende 2000 – „Prärogativen des Regierungschefs“ an (Gabanyi 2002: 532f.). In Bulgarien passten sich die Präsidenten seit Mitte der 1990er in der Praxis zunehmend ihrer verfassungsmäßigen Rolle im parlamentarischen System an.
Insgesamt empfiehlt es sich, bei der typologischen Klassifizierung der osteuropäischen Staaten vornehmlich vom Verfassungstext auszugehen, da angesichts des kurzen Erfahrungszeitraums noch kaum von beständigen Traditionen der Verfassungspraxis gesprochen werden kann.
Auch wenn die Staatspräsidenten in den osteuropäischen Beitrittsländern vornehmlich repräsentative Aufgaben wahrnehmen, sind sie doch in kaum einem Land darauf beschränkt, sondern haben darüber hinaus bestimmte Verfahrenskompetenzen und Reservefunktionen. So verfügt der Staatspräsident fast überall bei der Gesetzgebung über ein (suspensives) Vetorecht (Ausnahme: Slowenien und Kroatien). In allen Fällen kann das Veto des Präsidenten jedoch vom Parlament überstimmt werden, mit Ausnahme Polens mit einfacher oder absoluter Mehrheit. Insgesamt wurde das präsidentielle Veto in den letzten Jahren offenbar seltener eingelegt und hat an Bedeutung verloren (Ausnahme: Bulgarien). Dies wird auf unterschiedliche Weise durch eine Stabilisierung von Parteien(systemen) und Fraktionen bewirkt und ist auch davon abhängig, ob Staatspräsident und Premierminister unterschiedlichen politischen Lagern angehören (Cohabitation).
In zwei Dritteln der osteuropäischen Länder wird der Staatspräsident direkt vom Volk gewählt, so auch in den Beitrittsländern Polen, Litauen, Slowakei und Slowenien sowie in Rumänien und Bulgarien. Für parlamentarisch gewählte Staatspräsidenten sind durchweg qualifizierte Mehrheiten vorgesehen.
Die wichtige Rolle der Parlamente
In keinem mittel- und osteuropäischen Land hat sich eine Konkurrenzdemokratie vom Typus des britischen Westminster-Systems entwickelt, die allerdings auch in Westeuropa eher die Ausnahme darstellt. Vielmehr werden Prozesse der Parteienkonkurrenz durch Aushandlungsprozesse ergänzt und modifiziert. Wie in den meisten westeuropäischen Ländern bestehen auch in den parlamentarischen Systemen der östlichen Beitrittsländer verfassungsrechtliche und -politische Rahmenbedingungen, die einem verhandlungsdemokratischen Willensbildungsprozess förderlich sind. Dazu gehören – wie dargestellt – schwer veränderbare geschriebene Verfassungen, eine ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit, ausgeprägte Verfahrenskompetenzen des Staatspräsidenten, direktdemokratische Verfahren und in manchen Ländern auch eine Zweite Kammer mit bestimmten Vetofunktionen (Ismayr 2002: 41ff.) – während bundesstaatliche Strukturen allerdings fehlen. Nicht zuletzt haben sich mittlerweile überall Arbeitsparlamente entwickelt, die eine vergleichsweise starke Stellung einnehmen.
Während in einigen parlamentarischen Systemen Westeuropas das Parlament nur die Möglichkeit hat, einen vom Staatsoberhaupt ernannten Ministerpräsidenten bzw. die Regierung zu stürzen („negativer Parlamentarismus“), ist in allen osteuropäischen Ländern eine parlamentarische Vertrauensabstimmung oder eine formelle Wahl des Ministerpräsidenten oder der Regierung als Ganzer durch das Parlament verpflichtend (Ismayr 32003: 18ff.). Während ein Misstrauensvotum in den meisten Beitrittsländern auch gegen einzelne Minister möglich ist, ist der Sturz der (gesamten) Regierung zumeist erschwert. So wurde in Ungarn, Slowenien sowie 1997 in Polen – nach deutschem Vorbild – ein konstruktives Misstrauensvotum eingeführt, während in fast allen anderen Beitrittsländern für das Misstrauensvotum eine absolute Mehrheit erforderlich ist. Durch ein formelles Misstrauensvotum oder auch eine gescheiterte Vertrauensfrage wurde nur selten eine Regierung gestürzt (Ismayr 2002: 30). Die Möglichkeit des Misstrauensvotums wirkt vornehmlich präventiv.
Nirgendwo in Osteuropa steht dem Ministerpräsidenten oder der Regierung das Recht zu, das Parlament aufzulösen – und auch der Staatspräsident kann dies nirgends uneingeschränkt. Das verfassungsmäßige Recht der Selbstauflösung des Parlaments ist in den östlichen Beitrittsländern wesentlich stärker verbreitet als in Westeuropa. Es kann die Stellung des Parlaments stärken, wenn dafür eine breite Mehrheit erforderlich ist wie in Polen, Litauen und der Slowakei. Die zentrale verfassungsmäßige Stellung des Parlaments wird auch dadurch unterstrichen, dass Errichtung und Auflösung von Ministerien und zumeist auch deren Zuschnitt ganz überwiegend gesetzlich geregelt werden und somit der Zustimmung des Parlaments bedürfen.
Die in modernen Rechts- und Sozialstaaten ohnehin bestehende Vielfalt und Komplexität der parlamentarischen Gesetzgebungs- und Kontrollaufgaben wurde angesichts der politischen und sozio-ökonomischen Transformation und der angestrebten EU-Mitgliedschaft eher noch gesteigert. Dementsprechend haben sich in allen Parlamenten und häufig auch den größeren Fraktionen sukzessive arbeitsteilige Strukturen ausgebildet.
Der Schwerpunkt der Arbeit liegt in den Abgeordnetenhäusern aller Beitrittsländer mittlerweile bei – überwiegend öffentlich tagenden – ständigen Fachausschüssen. Sie sind durchweg an der Gesetzgebungsarbeit vorbereitend beteiligt, dienen aber auch der parlamentarischen Kontrolle der Regierung. In keinem osteuropäischen Land hat sich die für das Westminster-Modell typische Verfahrenspraxis durchgesetzt, wonach die Regierung(smehrheit) auch formell weitgehend alleine bestimmt, worüber im Parlament entschieden und mit Präferenz debattiert wird. In den meisten osteuropäischen Ländern ist die Opposition an der Aufstellung der Tagesordnung beteiligt (vgl. auch Kraatz/ Steinsdorff 2002).
Bei den verabschiedeten Gesetzen dominiert die über einen Verwaltungsapparat verfügende Regierung inzwischen durchweg, bei den eingebrachten Gesetzesinitiativen zumeist ebenfalls. Allerdings liegt der Anteil erfolgreicher Entwürfe aus dem Parlament in einigen Ländern noch vergleichsweise hoch (Polen, Litauen, Estland), während er beispielsweise in Ungarn nur etwa ein Zehntel aller Gesetze ausmacht. Die Ursachen hierfür sind unterschiedlich. Allerdings lässt sich generell sagen, dass im Falle von (tolerierten) Minderheitsregierungen die Einfluss- und ‚Mitregierungschancen‘ der Oppositionsfraktionen wachsen.
Von einschneidenden (verfassungs)rechtlichen Restriktionen bei der Gesetzgebung im Sinne eines ‚rationalisierten Parlamentarismus‘ kann mit Ausnahme hoher Hürden bei der Zurückweisung des durch den Staatspräsidenten eingelegten Vetos in Polen in keinem Beitrittsland gesprochen werden. Dies schließt tiefgreifende Beeinträchtigungen bei der Gesetzgebung unter Missbrauch bestimmter Ausnahmeregelungen allerdings nicht aus, wie sich phasenweise im Falle Rumäniens und der Slowakei gezeigt hat (Gabanyi 2002; Kipke 2002).
Die klassischen parlamentarischen Kontrollinstrumente wurden in den Beitrittsländern vergleichsweise stark als Minderheitenrechte ausgebaut. So ist das dem einzelnen Abgeordneten zustehende Fragerecht oft mit einer ausdrücklichen Antwortpflicht der Regierung(smitglieder) verbunden (Ismayr 2002: 40; Kraatz/von Steinsdorff 2002).
In den meisten Beitrittsländern können Untersuchungsausschüsse von einer parlamentarischen Minderheit durchgesetzt werden — viel häufiger als in Westeuropa (Ismayr 32003). Untersuchungsausschüsse spielten in mehreren Ländern eine wichtige Rolle bei der öffentlichen Auseinandersetzung über Korruption und Begünstigung (Ungarn, Lettland, Slowenien, Polen). Zudem kann sich dieses Kontrollinstrument – zumal als Minderheitsrecht – präventiv auswirken (z.B. Lukgi 2002; Ziemer/Matthes 2002; Schmidt 2002). Hinzu kommt in mehreren Ländern, dass nicht nur bei Verfassungsänderungen, sondern auch bestimmten verfassungsrelevanten Gesetzen (Organgesetzen) qualifizierte Mehrheiten vorgesehen sind, die eine Einbeziehung zumindest eines Teil der Opposition erforderlich machen. Besonders ausgeprägt ist dies in Ungarn (Körösdnyi 2002).
Eine wichtige Kontroll- und Schutzfunktion nehmen im Übrigen ein oder mehrere, durchweg vom Parlament gewählte Ombudsmänner (Parlaments- bzw. Bürgerbeauftragte) wahr. Sie spielten in mehreren Ländern für die Entwicklung und den Bestand einer rechtsstaatlichen politischen Kultur eine wichtige Rolle (Ismayr 2002: 41).
Legitimation durch Wahlen und Volksabstimmungen
Bei der Ausgestaltung des Wahlrechts hat man in allen Beitrittsländern versucht, den Kriterien der Proportionalität und der Regierbarkeit Rechnung zu tragen. Ganz überwiegend wurden Verhältniswahlsysteme geschaffen, die, typologisch betrachtet, untereinander mehr Ähnlichkeiten aufweisen als in Westeuropa (Nohlen 32000: 223). So wurde nirgends die reine Verhältniswahl eingeführt. Auch kommen in Osteuropa weder die personalisierte Verhältniswahl nach deutschem Muster noch das in Irland und Malta geltende (Verhältnis-)Wahlsystem mit übertragbarer Einzelstimme vor (Ismayr 2003: 38). Überall wurde die Verhältniswahl im Interesse der Regierbarkeit Einschränkungen unterworfen. So gilt durchweg eine hohe Sperrklausel von vier oder fünf Prozent für Parteien. Für Wahlbündnisse wurden in mehreren Ländern noch höhere Hürden festgelegt, so in Polen, Tschechien und Rumänien.
Zumeist bestehen Mehrpersonenwahlkreise, die eine natürliche Hürde gegen Parteienzersplitterung darstellen. Wie in vier weiteren osteuropäischen Ländern bestehen auch in Ungarn und Litauen Wahlsysteme, in denen die Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen mit der Verhältniswahl kombiniert wird. Das überaus komplizierte ungarische Wahlsystem hat dabei kompensatorischen Charakter; es ist somit darauf angelegt, die Mehrheitswahleffekte durch Verhältniswahlelemente auszugleichen (Körösényi 2002: 328ff.; Nohlen 32000: 357ff.). Hingegen hat sich Litauen für ein segmentiertes Wahlsystem (Grabensystem) entschieden, in dem der eine Teil der Parlamentssitze durch Mehrheitswahl, der andere Teil durch Verhältniswahl vergeben wird. Nach bisherigen Erfahrungen trugen Verhältniswahlsysteme mit Sperrklausel stärker zum Parteienbildungsprozess bei als die Mehrheitswahl (Länderbeiträge in Ismayr 2002 und Nohlen 32000: 227).
Zwar dominieren überall Verfahren der repräsentativen Demokratie, doch gibt es mit Ausnahme Tschechiens auf nationaler Ebene überall ergänzende direktdemokratische Verfahren bei einfachen Gesetzen und zumeist auch bei Verfassungsänderungen. In den meisten osteuropäischen Ländern kann eine bestimmte Anzahl von Staatsbürgern eine Volksabstimmung über ein vom Parlament beschlossenes Gesetz durchsetzen, in manchen Staaten auch bei Verfassungsänderungen. Möglich ist dieses volksinitiierte Gesetzesreferendum in Lettland, Polen, Slowenien, Ungarn, der Slowakei (sowie in Albanien, Kroatien und der Ukraine). Eine parlamentarische Minderheit von einem Drittel aller Abgeordneten kann ein Referendum außerdem in Slowenien und Lettland initiieren. Das obligatorische Verfassungsreferendum und die (verfassungsändernde) Volksgesetzgebung (Volksbegehren und Volksentscheid) sind allerdings die Ausnahme (vgl. Art. 79 der lettischen Verfassung).
Die Durchführung von Volksabstimmungen wird in einigen Ländern durch zum Teil schwer zu überwindende Barrieren oder Zusatzbedingungen erschwert. So gilt in manchen Ländern nicht nur bei Verfassungsänderungen, sondern auch bei einfachen Gesetzen ein hohes Abstimmungsquorum (Polen, Ungarn: 50 Prozent). In mehreren Staaten – so besonders in Ungarn – haben sich Entscheidungen des Verfassungsgerichts restriktiv ausgewirkt (vgl. Körösényi 2002). Die Institutionalisierung direktdemokratischer Verfahren ging in Osteuropa einer entwickelten demokratischen politischen Kultur voraus. Schon das Vorhandensein dieser Verfahren kann allerdings dazu beitragen, den politischen Willensbildungsprozess von den Bürgern hin zu den staatlich-politischen Institutionen und Akteuren offenzuhalten und der Abschottung neuer oder alter politischer Eliten entgegenzuwirken.
Parteiensysteme und Regierungskonstellation
Das Parteiensystem der meisten osteuropäischen Länder befindet sich noch immer – manchmal auch erneut – in einer mehr oder weniger dynamischen Entwicklung, auch wenn in mehreren Staaten die oft extreme Instabilität der ersten Transformationsjahre überwunden zu sein scheint. Trotz der beschriebenen Wahlrechtshürden bestehen durchweg Mehr- oder Vielparteiensysteme. Absolute Mandatsmehrheiten einer Partei im Parlament kamen nur vereinzelt vor (Ismayr 2002: 49).
Systeme mit zwei Großparteien, die sich alleine oder mit dauerhaften Koalitionsparteien in der Regierung abwechseln, sind bisher die Ausnahme. Eine solche Konstellation zeigt sich unter den Beitrittsländern bisher nur in Tschechien. Dort hat sich ein stabiles Parteiensystem aus den beiden rivalisierenden Großparteien, den Sozialdemokraten (CSSD) und der Demokratischen Bürgerpartei (ODS), zwei kleineren Parteien der Mitte und zwei systemfeindlichen Parteien entwickelt. Ein solches System schien sich bis zur Bildung einer Minderheitsregierung der ‚Mitte‘ aus zwei liberalen Parteien (2000) auch in Litauen und bis zum Wahlsieg der neugegründeten Nationalen Bewegung Simeon IL im Jahre 2001 auch in Bulgarien abzuzeichnen.
In Ungarn wechselte sich die sozialistische Partei (MSZP) mit Mitte-Rechts-Koalitionen in der Regierung ab, wobei sich die parteipolitischen Formationen des „bürgerlichen Lagers“ jedoch wesentlich veränderten. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für Polen, wo die demokratische Linke (phasenweise zusammen mit der Bauernpartei) bisher einem allerdings sehr heterogenen und instabilen Mitte-Rechts-Lager gegenübersteht, das aus der Solidarnosc-Bewegung hervorgegangen ist. Bei den Wahlen 2002 hat sich dieses Lager gründlich verändert und nach rechts verschoben.
Im Unterschied zu Westeuropa ist derzeit kein osteuropäisches System auszumachen, in dem eine Großpartei eine dauerhaft dominierende Stellung aufgrund ihrer Stärke oder ihrer zentralen koalitionspolitischen Position im Parteiensystem einnehmen würde. Allerdings konnten sich im stark fragmentierten, aber gemäßigt pluralistischen Parteiensystem Sloweniens die Liberaldemokraten Sloweniens (LDS) seit 1992 als stärkste Partei behaupten und – von wenigen Monaten im Jahre 2000 abgesehen – als Regierungspartei den Ministerpräsidenten stellen (Lukgie 2002). Demgegenüber sind in Estland und Lettland stark fragmentierte und instabile Vielparteiensysteme entstanden, in denen es üblich ist, über die Grenzen – wenig ausgeprägter – politischer Lager hinweg Mehrparteienkoalitionen („Regenbogenkoalitionen“) einzugehen.
Der Konflikt zwischen den Anhängern des alten kommunistischen Regimes und den Reformern, der – mit unterschiedlicher Intensität und Dauer – in den ersten Jahren der
Systemtransformation ausgetragen wurde, bildete in den meisten Ländern zunächst auch die Hauptkonfliktlinie des (neu) entstehenden Parteiensystems. In manchen Ländern wurden Regimekonflikte in der Folgezeit auch von Eliten einer neugegründeten Partei geprägt, so phasenweise durch Vladimir Meciars HZDS in der Slowakei oder die extremistische, populistisch agierende Partei Großrumäniens (Ismayr 2002: 51ff.).
In den baltischen Staaten sowie in den ostmitteleuropäischen Staaten Ungarn, Polen, Tschechien, Slowenien und mittlerweile auch der Slowakei kann der Regimekonflikt als überwunden gelten. In Rumänien und Bulgarien zeichnet sich dies immerhin ab. Dies hat „im Großen und Ganzen zur Entwicklung sachprogrammatischer Konfliktlinien geführt“ (Beichelt 2001: 201), die den Bürgern allerdings noch nicht in allen diesen Ländern auch eine verlässliche Zuordnung der Parteien erlauben. Bei grundsätzlicher Anerkennung der Marktwirtschaft durch die meisten relevanten Parteien bewegt sich die Auseinandersetzung – in Annäherung an die westeuropäischen Konfliktlinien – zwischen den Positionen eines strikten Marktliberalismus und ausgeprägter sozialstaatlicher Regulierungen (Beichelt 2001: 204).
Auf dem Weg der demokratischen Konsolidierung?
Den baltischen Staaten sowie den ostmitteleuropäischen Ländern Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien und mittlerweile auch der Slowakei wird attestiert, dass sie auf dem Weg der demokratischen (und ökonomischen) Konsolidierung fortgeschritten sind, was Rückschläge allerdings nicht ausschließt (vgl. Weidenfeld 2001: 65; Beichelt 2001: 311ff.). Dies drückt sich auch darin aus, dass mit allen diesen Ländern seit 1998 bzw. 1999 Beitrittsverhandlungen geführt wurden, die im Beschluss des Europäischen Rates vom 13.12.2002 und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments im einstimmig gefaßten Beschluss des Rats der EU am 16. April 2003 mündeten, diese Staaten in die Europäische Union aufzunehmen. Beitrittsverhandlungen werden allerdings auch mit den deutlich weniger konsolidierten Ländern Bulgarien und Rumänien geführt. Die EU-Beitrittsperspektive hat zweifellos eine konsolidierungsfördernde Wirkung entfaltet.
Die Konsolidierungsfortschritte zeigen sich insbesondere bei der Anerkennung rechtsstaatlicher und demokratischer Grundsätze und Verfahren durch politische Eliten und Bürger, wobei ihnen verschiedene Defizite, insbesondere bei der Interessenvermittlung und der politischen Partizipation gegenüberstehen.
Freie Wahlen werden in den Beitrittsländern auch faktisch gewährleistet – nach einigen Restriktionen mittlerweile auch in der Slowakei und Rumänien. Dies gilt auch für die Anerkennung der Ergebnisse der Wahl, die in den meisten Ländern zumindest einen, in mehreren sogar regelmäßig Machtwechsel mit sich brachten. Verfassungsmäßig vollzogene Machtwechsel gelten einerseits mit Recht als Indikator für demokratische Konsolidierung. Andererseits sind die regelmäßigen Machtwechsel aufgrund starker Stimmenverluste der jeweils regierenden Parteien Ausdruck einer insgesamt gesehen noch immer schwach ausgeprägten Parteiidentifikation und großer Unzufriedenheit der Wähler mit den Ergebnissen der Regierungspolitik.
Die richterliche Unabhängigkeit konnte in den ostmitteleuropäischen und baltischen Staaten mittlerweile weitgehend gesichert werden. Jedoch zeigen sich bei der Rechtsprechung noch beträchtliche Mängel hinsichtlich der Effizienz und Rechtssicherheit, die insbesondere durch die Umstellung auf ein neues, dynamisch sich entwickelndes Rechtssystem und den Mangel an geeignetem und erfahrenem Personal bedingt sind. Dies gilt – mit Abstufungen – umso mehr für die übrigen, weniger konsolidierten osteuropäischen Staaten (vgl. Gabanyi 2002; Riedel 2002). Die Verfassungsgerichte spielten, wie erwähnt, in der Praxis eine wichtige Rolle bei der Sicherung des Rechtsstaatsprinzips und der Gewaltenteilung.
Erhebliche Probleme zeigen sich bei der Umsetzung von – oft rasch geänderten – Gesetzen. Insbesondere erweist sich der Aufbau eines politisch neutralen und professionellen Beamtenapparates auch in den ostmitteleuropäischen Ländern als längerfristige Aufgabe (Körösényi 2002; Ziemer/Matthes 2002; Gabanyi 2002). Zwar wurden entsprechende Gesetze inzwischen in sämtlichen Beitrittsländern erlassen, doch wird eine angemessene Umsetzung noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Zudem erfordert die EU-Mitgliedschaft eine auf vielfältige Abstimmungs- und Kooperationsaufgaben eingestellte Verwaltung.
Korruption in Verwaltung, Justiz, Politik und Wirtschaft stellt in allen Beitrittsländern ein Problem dar. Schwerwiegend und besorgniserregend ist das Ausmaß der Korruption auch nach den jüngsten Berichten der EU-Kommission nicht nur in den Bewerberländern Rumänien und Bulgarien, sondern auch in Polen, Tschechien, Lettland und der Slowakei (Kommission 2002). Es wurden allerdings – insbesondere in den letzten Jahren – eine Reihe rechtlicher und administrativer Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung ergriffen. Dazu gehören Regelungen zur Sicherung der Unabhängigkeit der Justiz und der Professionalität und Neutralität der Verwaltung. Dass Korruption auch in einigen westeuropäischen Staaten beunruhigende Ausmaße angenommen hat, ist gewiß eine unerfreuliche Form der Konvergenz.
Die Entwicklung einer konsolidierten Bürgergesellschaft erweist sich auch in den ostmitteleuropäischen und baltischen Staaten als längerfristiger, gegenüber Rückschlägen nicht gesicherter Prozess. Erst recht gilt dies (mit Abstufungen) für die übrigen osteuropäischen Staaten. Die Wahlbeteiligung ist seit den Gründungswahlen zwar überall zurückgegangen, liegt aber in den meisten Ländern noch bei mehr als 60 Prozent. Tendenziell lässt sich sagen, dass die organisatorische Verankerung der Parteien zumeist schwach, deren Mitgliederzahl häufig bescheiden und parteipolitisches Engagement insgesamt noch wenig verbreitet ist – mit allerdings beachtlichen Unterschieden auch innerhalb der einzelnen Parteiensysteme. Ähnliches gilt für die Mitwirkung in Verbänden, Vereinen und bürgerschaftlichen Initiativen. Fast durchweg wird von Experten unterstrichen, dass die politische Partizipationsbereitschaft und die tatsächliche Partizipation der Bürger an der politischen Willensbildung noch vergleichsweise wenig ausgeprägt ist (wobei hierzu allerdings noch kaum empirische Untersuchungen vorliegen). Es gibt allerdings auch kaum größere aktive antidemokratische Protestgruppen, die einen Umsturz seitens des Volkes bewirken wollen.
Die mit der ökonomischen Transformation verbundenen Umstrukturierungen führten bei vielen Bürgern zu Enttäuschungen über die wirtschaftliche und sozialstaatliche Leistungsfähigkeit des politischen Systems und seiner Eliten. Diese hat in vielen Ländern zu einer Abnahme des allgemeinen Systemvertrauens und mehr noch des Vertrauens in die politischen Institutionen sowie zu einer Schwächung der Partizipationsbereitschaft geführt. Bedingt auch durch die unterschiedlichen Traditionen der politischen Kultur variieren allerdings Ausmaß und Ursachen in den einzelnen Ländern (Ismayr 2002; vgl. Pickel/Pickel 1999).
Während das demokratisch-rechtsstaatliche System (und die sozio-ökonomische Ordnung) grundsätzlich überwiegend bejaht und/oder als alternativlos angesehen werden, ist das Vertrauen in die politischen Institutionen und in die politischen Eliten zumeist schwach ausgeprägt. Eine Zunahme der Demokratiezufriedenheit und des Vertrauens in die demokratischen Institutionen und möglicherweise auch der Partizipationsbereitschaft wird bis auf weiteres von ökonomischen und sozialen Verbesserungen abhängen.
1 Im Folgenden wird der Begriff im weiteren Sinne verwendet. Er umfasst demnach alle postsozialistischen Staaten Osteuropas, somit die ostmitteleuropäischen, baltischen, südosteuropäischen Staaten sowie die europäischen GUS-Staaten.
Literatur
Beichelt, Timm 2001: Demokratische Konsolidierung im postsozialistischen Europa. Die Rolle der politischen Institutionen, Opladen
Blondel, Jean/Müller-Rommel, Ferdinand 2001: Cabinets in Eastern Europe, Basingstoke
Duverger, Maurice 1980: A New Political System Model: Semi-Presidential Government; in: European Journal of Political Research 8, S. 165-187
Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2002: Auf dem Weg zur Erweiterten Union. Strategiepapier und Bericht der Europäischen Kommission über die Fortschritte jedes Bewerberlandes auf dem Weg zum Beitritt, Brüssel
Gabanyi, Anneli Ute 2002: Das politische System Rumäniens; in: Ismayr 2002, S. 525-562
Grotz, Florian 2000: Politische Institutionen und post-sozialistische Parteiensysteme in Ostmitteleuropa. Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei im Vergleich, Opladen
Ismayr, Wolfgang (Hg.) 2002: Die politischen Systeme Osteuropas, Opladen
Ismayr, Wolfgang (Hg.) 32003: Die politischen Systeme Westeuropas, Opladen
Kipke, Rüdiger 2002: Das politische System der Slowakei; in: Ismayr 2002, S. 273-308
Körösényi, András 2002: Das politische System Ungarns; in: Ismayr 2002, S. 309-353
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